1977 waren wir noch angewidert, von der pompösen, platten, sich in immer gleichen Ritualen ergehenden, feisten, saturierten Pop-Musik, heute gibt es mehr gute Bands als wir zu hoffen gewagt haben. Und immer wieder neue, die auf eigenen, unabhängigen Singles und Samplern die Musik machen, die wir uns für die Zukunft wünschen. Ist die Revolution vorbei, und haben wir gesiegt?
Wir haben eine Musik, die hitzige, erbitterte Auseinandersetzungen provoziert, die Menschen über das Thema: wie man die neue Soundso-LP findet, aneinander geraten läßt. Die neue Musik löst nach wie vor Feindschaft, Kampf aus, und noch wird viel getan, um sie zu ignorieren und abzutöten. Die Generation der 68er-Revolutionäre tut alles, um das Lebensgefühl der ihr nachfolgenden Generation nicht zu Wort kommen zu lassen.
Von einer von der Industrie diktierten Mode ist dann oft die Rede, der sich die junge, angeblich angepaßte Generation bedingungslos ausliefere. Dabei ist dies ein Gemeinplatz, der auf die Kultur derer, die ihn immer so eilfertig zur Hand haben, sich allemal besser anwenden läßt als auf „unsere“. Wer macht denn die Umsätze? Der Zweitausendeins-Laden oder der fliegende Badges-Händler? Wer läßt sich die vollkommen überflüssigen neuen F. Mac, P. Floyd oder L. Zep andrehen, nur auf Grund von gigantischer Werbung?
Exkurs: Die Leser, die uns immer vorwerfen, wir seien Punks und sie keine, und sie würden das Abo kündigen, wenn das so weiterginge oder auch sofort, ohne Gnadenfrist, werden jetzt sicher gleich nicht mehr weiterlesen, da sie glauben, ein Pamphlet für New Wave vor sich zu haben. Spätestens bei der dritten pathetischen Verwendung der ersten Person Plural („wir“, „uns“) sagen sie entweder: „Nach schön, ich bin nicht einer von denen, ihr erklärt mir den Krieg, gut, ich akzeptiere“ und schlagen das Heft zu, daß die Shitkrümel auf dem Tisch in die Luft gewirbelt werden. Oder sie sagen: „So ein Quatsch, hier wird doch künstlich ein Generationskonflikt herbeigeredet. Ich hör doch auch Springsteen und Costello, Bob Dylan und David Byrne“.
Richtig. Und es geht auch nicht um zwei geschlossene Fronten ohne Überläufer und Deserteure, sondern um Konflikte, die sich auch in einem Gehirn zutragen können. Es geht um Identität, kulturelle Identität. Die vereinfachende Schematisierung soll nur helfen, den Überblick zu wahren.
Welche Rock-Ideologie hast du? Welche haben wir (ich)? Welche Ideologien gibt es? Warum brüllen wir so?
Würden unsere Leser und ihre Freunde ein Parlament bilden und gezwungen sein, Parteien zu gründen und Fraktionen zu bilden, um regierungsfähige Mehrheiten zu erlangen, würden, so schätze ich, folgende Gruppierungen entstehen:
1. Die „guter, dufter Rock’n’Roll“-Partei.
Professionalismus ist ihnen wichtig, Derivate des klassischen Kunst-kommt-von-Können-Glaubens spuken in ihren Köpfen, ist aber nicht das beherrschende Element. Hauptsache: es geht gut los. Man gebraucht mit Vorliebe Wörter wie „Röhren“ und „Fetzen“. Schweiß muß fließen. Diese Leute betrachten Rock-Musik als eine Art Ausgleichssport, über Änderungen der Regeln und über Spielverderber denken sie wie über schlechte Schiedsrichter: sie pfeifen.
Diese Partei entstand als Reaktion auf eine verfettete, prätentiöse Rock-Musik und hat Punk, zumindest Teilen der Bewegung ein wenig das Terrain geebnet. Ihre Rezeptionsweise von Rock-Musik ist seitdem festgeschrieben und unveränderlich. Die linke Fraktion hört Bruce Springsteen, die rechte Bob Seger.
2. Die Mellow-West-Coast-Partei
Eine reaktionäre Partei, die in den späten 60ern ihr entscheidendes Erlebnis hatte (Grateful Dead auf Trip hören, oder so was) und seitdem zu konservieren versucht, was damals war. Das geschieht auf vielerlei Art und Weise (Post-Southern-Rock , Neo-Country-Rock, Post-Post-West-Coast; keiner merkt, daß Siouxsie den frühen Airplane viel näher steht als Starship): die einen vollziehen jede Nuance des langen Hippie-Niedergangs mit, andere igeln sich ein, arbeiten bei einer Bank und sammeln nach Feierabend seltene Stücke von 67.
Sie entspannen sich bei Musik, sie mögen keine Auseinandersetzung, sondern intaktes Privatleben, das sie gegen unbefriedigendes Berufsleben stellen. Nachdenken, sich entwickeln, eingreifen, auf Geschehnisse reagieren empfinden sie als Streß. Sie mögen keinen Streß.
3. Die Anhänger schneller Gitarrensoli
technischer Perfektion und guter Anlagen. Ihre Ideologie ist die des guten Handwerks, das pure Kunst-kommt-von-Können. Sie kommen oft vom Jazz oder landen irgendwann dort.
4. Die Verklärten
Dies sind Verwandte von Nummer drei. Leute, die geistige Läuterung a la Ich-sah-Gott-im-Barclay-James-Harvest-Konzert erleben. Diese Partei ist bunt und vielfältig und in sich zerstritten. Gemeinsam haben sie nur, daß sie alle an der deutschen Krankheit leiden, irgendwelche Dinge zu wichtig zu nehmen oder nur zur Hälfte zu begreifen, sei es Nietzsche oder den Guru in Poona. Sie tragen dementsprechend 90 % der Deutschrock-Szene. Sie begeistern sich für Opern (Rockopern) oder Operetten (Rockoperetten) und überhaupt für Groß- und Gesamtkunstwerke. Mit einem Bein auf ’nem Astralplaneten, mit dem anderen in Walhalla.
5. Die hippen, resignierten Intellektuellen
Die mögen vor allem gute Texte, Zynismus, Sensibilität, Leiden an der Existenz und Seriosität. Sie können natürlich vorzüglich Englisch. Sie haben alle vorher genannten Ideologien durchschaut und fallen auf nichts mehr rein. Sie schwören immer noch auf Dylan, das sei eben ihre Generation. Sie mögen die jüdische Intelligenz eines Randy Newman, die Akuratesse eines Ry Cooder, die melancholische Sensibilität einer Joni Mitchell oder die Hipster-Attitüde einer Rickie Lee Jones. Sie hören fast nur Musik von Einzelnen; Bands und überhaupt Kollektivismen sind ihnen suspekt.
Um sich für neue Musik zu interessieren, sind sie entweder zu schlaff oder zu verbittert, entweder zu hochmütig oder zu abgebrüht.
Das waren sie erstmal. Natürlich sind das Kunstgeschöpfe, Koalitionen. Niemand braucht sich zu beschweren, daß sein komplexes Ego nicht vorkommt, niemand ist so simpel (ich weiß das), und viele gehören mehreren Parteien an.
Der Punkt ist: alle diese Ideologien dienen dem Stillstand, der Entrüstung über Neues, den Reaktionen, mit denen von Arnold Schönberg (auch Frühere schon) über Charlie Parker, Free Jazz, Beatles bis zu den Residents alle Neuerer der Musikgeschichte zu kämpfen hatten. Einer, der sich einer gewissen Kultur (Subkultur) und Ideologie zugehörig fühlt und deren Werte bedroht sieht, greift zu den Waffen, welche auch immer das sein mögen. Die Anhänger der New Wave, die ja auch einen großen Teil unseres Leserparlaments bilden würden, haben (hatten) im allgemeinen wenig zu verlieren. Entweder sind sie zu jung, um eine festumrissene ideologische Identität zu besitzen, oder sie haben im Rockgeschehen schon immer nach Alternativen gesucht, haben 1966 Zappa gehört, 1969 Soft Machine, 1970 Stooges, 1971 Bowie oder Henry Cow oder John Cale.
Ihre Haltung war schon immer eher das In-Frage-Stellen als die langfristige Identifikation.
Und da sagt nun einer, das könnten sich in einem Staat wie dem unsrigen nur die wenigsten leisten. Eine feste kulturelle Identität sei zum überleben nötig, und John Cale oder Henry Cow hätten eh nie Platten verkauft.
Wenn das so ist, werden wir dann 1986 bei der Promotion-Tour für die achte Richard Hell-LP ein ausverkauftes Congress-Centrum Hamburg voller fett gewordener Stachelköpfe erleben, die sich bei der ersten Zugabe („Blank Generation“) an die guten alten Spätsiebziger erinnern?
Wird es dann einen „Spiegel“-Artikel über die dritte Solo-LP von David Byrne geben?
Schon jetzt gibt es Anzeichen, daß die neue Welle genauso in sich aufgesplittert wird wie die alte Fraktionen, die einander ablehnen, bekämpfen und untereinander Rituale zelebrieren, während derer sie mit sich und der Welt einverstanden sind.
Doch noch sind diese Rituale nicht sinnentleert, wie die der Alten. Einer, der J.J. Burnel anfassen will, ist eben lebendiger als einer, der das Grab von Jim Morrison besucht. Noch müssen die eher am Rock’n’Roll orientierten neuen Bands ihr Publikum nicht auffordern aufzustehen, noch sind ihre Konzerte keine Opernabende, noch ist Provokation, Überraschung und Verweigerung der Rituale ein entscheidendes Element der modernen Bands, noch verlassen die meisten Hamburger über dreißig selbst bei den Talking Heads nach drei Stücken den Saal und nehmen das Risiko eines Stranglers-Konzerts gar nicht erst auf sich.
Denn in einem entscheidenden Punkt unterscheidet sich die neue Musik ideologisch nicht von der grundsätzlichen Rock-Philosophie. Sie ist Rebellion. Im weitesten Sinne des Wortes. Sie macht wach. Und die neue Musik rebelliert eben nicht nur gegen das, wogegen schon immer Grund zur Auflehnung bestand, sondern auch gegen die, die oft guten Willens dem Tranquilizer-Rock Vorschub leisten und im Laufe der 70er geleistet haben.
Wo wollt ihr stehen?

