Sounds. Plaudereien über das Ende des Musikjournalismus

Diese Rückblicke sind grausig, dieser ist garantiert der letzte. Andrerseits schliesst man selber schneller mit seiner Arbeit ab, als die Leser. Ich weiss seit Anfang November, dass es ab Februar 83 kein SOUNDS mehr geben wird. Für den Leser ist dies erst ab jenem Zeitpunkt Realität, für die gesamtkulturelle Entwicklung macht sich die Verarmung möglicherweise erst noch später bemerkbar.

Andrerseits gab es schon vor dem ökonomischen Ende der Zeitschrift ein Ende der Szene. die den Kern von SOUNDS ausgemacht hat. Die „Hamburger Kumpanei“, bestehend aus SOUNDS-Schreibern, gewissen unabhängigen Labels, Konzertveranstaltern, Gruppen wie Palais Schaumburg, Nachdenkliche Wehrpflichtige, Geisterfahrer u.v.a., assoziierten wilden Malern und umherschwirrenden Figuren und Gestalten fiel schon Ende 81 auseinander. Gegenseitige Langeweile schlug in Wiederholungsekel um („Hilsberg sagt immer dasselbe“, „Chris Lunch lernt nie deutsch“, „Ich kann Timo Bluncks Albernheiten nicht mehr aushalten“, „Diederichsen ist ein arroganter Sack Und trinkt nur Bier“, etc.) und wurde oft von ideologischen Gegensätzen künstlich überhöht, die aber meistens die Kapazitäten der Kontrahenten überstiegen.

Uns hat 82 eigentlich nur noch Geschichte, Soziologie und Narzissmus interessiert. Musik? Das Jahr 1982 war in Deutschland schon so grundlangweilig, dass SOUNDS nur noch nach England blicken konnte und die einheimische Szene den Destruktionen eines Kid P. überliess oder neutrale Nachwuchsfiguren wie Dorau bejubelte. Deutschland hatte es auch nicht besser verdient. Dass Musik eine recht langweilige Angelegenheit ist, wenn sie nicht zufällig sich mit einer Kulturrevolution schneidet, ist eine der Erkenntnisse, die man aus dieser Periode mitnehmen kann. In England, wo jede Single in den Medien wie ein Scharmützel in einem Kulturkampf inszeniert wird, hat diese Erkenntnis Erfolge gezeitigt, oder anders: England hat eine Pop-Kultur, die doofen Deutschen wollen Musik und die haben sie dann zu Genüge bekommen. Mögen sie daran ersticken!

Der Höhenflug von SOUNDS als kulturpolitischer Institution begann aber 1980 in dem Umfeld jener Kumpanei, oft als korrupte Meute verschrien, jener Mischung aus Diskussionsrunde und Brain-Trust, die allabendlich in der Marktstube zusammenkam, vor dem Hintergrund von katzbalgenden Punks und zu dem Lärm von Kassetten mit den neuesten Singles.

Als ich 1979 als Redakteur bei SOUNDS anfing, machten wir noch eine gute Weile ein viel zu flaues Blatt. Die Konstellation in der Redaktion war reichlich konfus. Herausgeber Jürgen Legarth hatte das Risiko in Kauf genommen drei junge Leute (22, 23, 24) einzustellen, die quasi von einem Tag auf den anderen Verantwortung für 40’000 Käufer übernehmen sollten, das heisst 160’000 Leser. Oder so.

Ich sollte aussermusikalischer Redakteur werden, weil ich mich für Musik als Musik eigentlich nie interessiert hatte. Aber ich sah bald, dass die Musik, die Pop-Musik das Beste war, um alles, was ich sonst so dachte unter das Volk zu bringen. Pop-Musik – und das hatte ich auch früher schon gedacht – war nun mal die letzte Instanz der Wahrheit, die letzte Sprache, die nicht pluralistischer Nivellierung und Meinungsscheisse unterworfen war. Und um mich herum war eine Musik am Entstehen, die alle Greuel bekämpfte, die ich auch zu bekämpfen meinte. Neben mir sass in der Redaktion: Thomas Buttler, ein ruhiger Mann aus dem Ruhrgebiet, weitgehend interessenlos liess er sich treiben, versuchte vor allem zu beruhigen, zu entkräften, hasste hitzige Auseinandersetzungen und war Spezialist eigentlich nur für Fernsehsendungen. Er tat viel Organisatorisches und passte auf, dass weder nackte Frauen noch zu harte Konfrontation mit der Plattenindustrie in das Blatt Eingang fanden. Er war offiziell Redakteur für Musik. Dann gab es Kröher, ein Loudmouth. Er war eigentlich nur Redaktionsassistent, legte sich aber ins Zeug wie zehn nackte Wilde; entweder um sich als Enthüllungsjournalist zu gerieren, wenn er mit Böllerschüssen und heiligem Zorn sich gegen Industrie oder Hochsicherheitstrakt empörte, oder als Musikkenner, wenn er seine abstrusen musikalischen Vorlieben wie Lene Lovich oder Ellen Foley oder gar die Folkrock-Fossilie Malicorne mit gewagten Übertreibungen verteidigte.

Klar, dass ein rechthaberisch veranlagtes Gemüt wie meines sich in einer solchen Situation nicht auf den beschaulichen Posten eines Redakteurs für aussermusikalische Fragen abschieben lassen wollte. Ich versuchte also zunächst Hilsberg zu stützen. Hilsberg war eine der meistgehassten Figuren in dieser für mich noch sehr neuen Szene. Er gab seine Manuskripte regelmässig zu spät ab, was sein erbitterter Gegner Kröher zu langen Tiraden gegen ihn nutzte, bei denen er sich immer der Unterstützung durch das technische Personal sicher sein konnte. Ich hatte diesen vollschlanken Tequila-Sunrise-Trinker liebgewonnen, als ich es mir zur Gewohnheit machte, nach anstrengenden Nachtarbeitssitzungen mit meinem Freund, unserem Grafiker Stephan T. Ohrt, in der Marktstube trinken zu gehen. Hier sass Hilsberg meist mit jungen Musiki und baggerte ununterbrochen Informationen und Gerüchte auf den klobigen Holztresen, dass man sich vorkam, wie in Howard Hawks „His Girl Friday“ oder anderen klassischen Pressefilmen.

In diesem Zusammenhang bekam Schreiben einen Sinn, der über das kritische Verwalten der Neuerscheinungen hinausging und den die Tagesarbeit nur für kurze Momente hatte, wenn Kröher und ich beim Mittagessen im psychedelischen Libanon-Restaurant mit Drogengrosshandel-Stützpunkt im Keller über deutsche Kaiser des Mittelalters sprachen – Hilsberg gegen Kröher – solange diese Schlacht tobte und ich Tag für Tag ideologische Artillerie-Divisionen und Kampfverbände ins Getümmel werfen konnte, machte die SOUNDS-Arbeit grossen Spass. Wir schrieben die Sache der Independent-Labels auf unsere Fahnen, förderten die ungebrochene Originalität neuer deutscher Musik, richteten für Hilsberg die Kolumne „neuestes deutschland“ ein und lebten in dem Gefühl, die Welt zu verbessern.

Hilsberg und ich waren dabei eindeutig im Recht. Kröher musste mehr und mehr nachgeben. Obwohl er diese neue avantgardistische Musik nicht mochte. Er konnte nicht zwei Töne nebeneinander aushalten, die nicht nach dem Prinzip europäischer Funktionsharmonik angeordnet waren. Pere Ubu war ihm ein Greuel, seine Leib- und Magenmusik machte Ian Hunter, auch Fleetwood Mac konnte er Freude abgewinnen. Wandte man dagegen Steely Dan ein, die das, was Fleetwood Mac machten, wenigstens interessant betrieben, dachte er sich irgendeinen Einwand aus. In Wahrheit kannte er Steely Dan nicht. Er verstand noch weniger von Musik als ich und machte mir ein leichtes Spiel, den neuen Kurs durchzusetzen. Rückschläge wie das Neil Young-Heft (März 80) oder das Jackson Browne-Heft (Oktober 80) waren dazu da, um überwunden zu werden. Hilsbergs abendliches Anti-Kommerz-Gegrummel wurde zwar im gleichen Masse radikaler wie redundanter, aber noch schien es klar, dass eine grundlegende Umwälzung der Pop-Musik, namentlich der deutschsprachigen mit allen Mitteln durchgedrückt werden musste und konnte.

Es ist einfach zu langweilig zu beschreiben, worin die alltäglichen Schwierigkeiten bestanden, gegen die man zu kämpfen hatte. Es scheint mir auch zu blöd, darüber nachzudenken, wie es eigentlich war, mit der Industrie oder irgendwelchen verärgerten Leuten mit Einfluss, sich rumschlagen zu müssen. Obwohl ich damals immer dachte: Es ist zu irre, was machst du hier eigentlich? Was hast du mit diesem ganzen Quatsch zu tun? Es kam mir alles immer sehr romanhaft vor, aber im Rückblick habe ich alles Literarische vergessen.

Mitte 1980 gab es schon eine ansehnliche unabhängige deutsche Produktion. Interessenkonflikte innerhalb der Redaktion, weil Mitarbeiter Hilsberg nun auch Firmen-Mogul von Zickzack wurde. Er brachte Platten unter anderem mit den Zimmermännern raus, bei denen mein Bruder, von den Nachdenklichen Wehrpflichtigen mitmachte, die ich selber mir irgendwann in seiner Gegenwart zusammen mit Albert Oehlen ausgedacht habe (in der Marktstube). Palais Schaumburg, deren Namen ich mir ausgedacht habe (keine Sache, auf die man stolz sein kann). Es schien als wäre alles verwurstet und die deutsche Szene in der Hand weniger Oligarchen.

Aber SOUNDS war bereits auf dem Wege zum Lustblatt. Wir schrieben endlich gut, weil mit Lust, das ganze Gehirn massiert und Liebe und Hitze der letzten Nacht im Blut. Wir konnten gar nicht korrupt sein. Die einzige Korruption war der Humanismus („Vier Menschenseelen hängen an diesem Tape und die Freundinnen und die Eltern und der spätere Lebensweg.“) Wir waren zu nett zu vielen deutschen Bands.

Mein Freund Lottmann schrieb damals über mich: „Umgekehrt konnte er nur dann etwas gut finden, wenn er (quasi im Nachhinein) Ideologie hineininterpretierte. Eine Frauen-New-Wave-Band, die Diedrich bezaubert hatte, fand sich plötzlich in einer enthusiastischen Besprechung als Vorhut der Avantgarde der unterdrückten Volksmassen wieder, als ausgekochte aberwitzige Intellektuelle zwischen W.I. Lenin, Walter Benjamin und Olaf Moll. Diedrich hatte alle Texte der Gruppe durchgeflöht, alle Interviewpassagen, alles, was vor und hinter der Bühne gesagt, geschrien und gesungen worden war, und war nicht fündig geworden. Erst am nächsten Morgen konnte er loslegen: inzwischen hatte sich die Erinnerung vom Konzert mit dem Buch „Sprache der Getretenen“ von Compagnero Nostro (erschienen im bolivianischen Untergrundverlag „Solo un capitalisto morto esto un capitalisto beno“, erhältlich beim „Arbeiterbuch“ für 8 Mark) vermischt. Die Musikerinnen, musikalisch genial, aber von Politik vollkommen unbeleckt, trauten ihren Augen nicht. Aber so war Diedrich.“

Ungefähr so. Musikalisch genial ist für mich eine bescheuerte Kategorie. Musik als Musik ist so uninteressant wie non-existent. Als der Kampf um die gute neue Anti-Rock-Musik irgendwie mit einem Pyrrhus-Sieg geendet hatte, mussten neue Motivationen her, um mit anderen Zielen weiterzukämpfen. Die Hamburger Kumpanei suhlte sich noch das ganze Jahr 1980 in ihrem beginnenden Glück, in ihrer nicht endenwollenden Phantasie, ihrem Kreativitätsrausch. Alles war möglich. Holger Hiller, alter Bekannter, bis dahin nur kleines originelles Talent, wurde plötzlich zum grandiosen Leader einer Band. Mufti war nicht nur mehr Mufti mit der New Wave-Schlafanzughose sondern Mufti von Palais Schaumburg und Abwärts, Grossmufti der elementaren Bühnenausbrüche. Timo Blunck, bis dahin Freund des kleinen Bruders, spielte Bass in London und behandelte ehrwürdige Grosskünstler wie Markus Oehlen plötzlich von oben herab. Chris Lunch, amerikanischer Weltbummler mit nie so ganz gesichertem Synthi-Talent, wurde von der Phonogram gekauft. Und ich wurde von Verlagen und Zeitschriften angerufen und zum Brüllaffen, wenn sich irgendein kleiner Kraucher an meinem aufgeblasenen Ego zu schaffen machte.

Ende 1980 war der Höhepunkt erreicht. Throbbing Gristle in Berlin, Captain Beefheart in London, Bowie auf dem SOUNDS-Titel, dem bestverkauften, Talking Heads in Grossbesetzung in Dortmund, David Byrne und ich schälen uns Orangen, „in“ waren die Residents, die Young Marble Giants, aber auch Teardrop Explodes und die Fehlfarben, sogar noch die DAF, die kurz darauf die ersten Opfer des Zerfalls dieser Welt werden sollten. Ich muss ihnen im Nachhinein meine Reverenz erweisen. Nicht, dass mir ihre Musik je sehr viel bedeutet hätte. Ich habe sicher seit zwei Jahren keine Platte mehr von ihnen aufgelegt, aber sie haben sich grossartig geschlagen, als sie Anfang/Mitte 81 als erste der verschworenen Gemeinschaft der NdW der ersten Stunde den ganz grossen Erfolg einheimsen konnten. Wie sie dann loslegten, beide gewiss keine Männer des Wortes, keine Intellektuellen, aber instinktiv richtig mit ihrer Identitätswechsel/wir-spielen-ja-nur-Arie. Sie hatten auch keine Angst davor dreitausendeinhundertsiebenundfünfzig Radioreportern und Stadtzeitschriftenreportern in deren altideologisches Messer zu laufen, nein, sie knallten immer voll rein: „Heute sind wir Skinhead-Kommunisten, morgen Disco-Nazis, übermorgen braten wir der Königin ihr Kind!“ So oder ähnlich klangen ihre wagemutigen Versuche eine Bresche zu schlagen in die allmählich sterbenslangweilig gewordenen Erörterungen junger deutscher Musiker, die alle an der eminent moralischen Frage knabberten „Industrie ja oder nein?“ Darf man um des Erfolges willen die hehren Ideale von früher verraten? Soll der Kapitalismus so einen schnöden Triumph davontragen? Da liessen sich viele reamateurisieren und überhaupt schienen sie alle nichts anderes mehr zu sagen zu haben, höchstens noch: „Unsere Musik gehört in keine Kategorie, wir wollen was neues machen!“ Da kamen DAF mit ihrer Pop-ist-ein-(seltsames)-Spiel-Ideologie, ihrer Anti-Ideologie gerade recht und uns Schreibern direkt zuvor.

Es war immer nett, wenn die Musiker nach den Konzerten in die Marktstube kamen: Delgado und Görl waren als einzige nicht anbiedernd und rumpelhaft, sondern angenehm schnöselig und arrogant. Man hatte sich gefälligst um sie zu bemühen. Ein andres Mal war ich in London zufällig in eine DAF-Wohnung geraten. Delgado trieb sich gegenüber in einer Hardcore-Reggae-Disco rum, für Weisse kein Zutritt, nur Delgado war mutig genug, drei Stunden später kam er bedröhmelt nach Hause. Seine Freundin, die, glaub’ ich heute mit einem von den Krupps zusammen ist (die Musik klingt ja auch ähnlich) erzählte mir die ganze Zeit von George Clinton. Ein netter Abend. So waren die Zeiten damals. Man redete mit Mädchen drei Stunden über Musik. Unvorstellbar heute. Ganz und gar unvorstellbar!

Für mich begann irgendwann die Zeit, wo mich der Gegenstand Musik nicht mehr zum Schreiben bringen konnte. Ich brauchte einen zusätzlichen Anlass, sonst wurde der Artikel schlecht. Der zusätzliche Anlass musste ein anderer oder besser mehrere andere Artikel aus den grundsätzlich alles nivellierenden, bürgerlichen Zeitschriften incl. Stadtzeitschriften, alternativen Tageszeitungen sein, kurz irgendein Produkt von Journalismus. Die Aggressionen wurden aus der Anti-Rock-Idee in eine Anti-Journalismus-Idee verlagert, Anti-Rock blieb bestehen, aber vorher musste ein Journalismus oder Anti-Journalismus entstanden sein, der enger mit anregenden Aspekten der Wirklichkeit verhakt war, der sich die Vorwände sparen konnte, an denen Journalismus sonst so leidet: vorzugeben, dass er dem Leser etwas über ein real existierendes, in Wahrheit nach einem bestimmten Journaille-internen, starren Code für wichtig gehaltenes Ereignis oder Phänomen mitzuteilen habe.

Stattdessen sollte es sein: Sprache, die ohne Anlass aus den Tiefen und Weiten des Verstandes heraus an irgendeinem Punkt beginnt, einen Kurs nimmt und dann reagiert auf das, was direkt ihren Weg kreuzt oder in einer anderen Weise auf ihn Einfluss nimmt. Dass Musik dabei weiterhin zentral bleiben würde, war aus verschiedenen realistischen Erwägungen heraus dennoch klar.

Dieses Ziel wurde jedoch erst ab 1982 erreicht, erstmals vielleicht beim Grace Jones-Artikel in Heft 1/82.

Vorher ging es noch um die Sache: In Heft 1/80 hatte ich in der ersten hochtrabend „Diskurs“ benannten neuen Rubrik versucht, das Rockpublikum zu beschreiben und den Abschied von der Rock-Musik, wie wir sie kennen, einzuläuten. Kröher schloss sich dem an, indem er über die extrem altmodische Rock-Lady Ellen Foley ein paar grosse Worte machte und grosse Namen fallen liess: Benjamin, Foucault, Shakespeare, Kafka – all diese Leute sollten dafür herhalten seine Geschmacksverirrung mit dem blonden Huschelchen zu rechtfertigen. Dennoch konstituierte auch ein solcher Artikel Pop-Musik als einen neuen Gegenstand. Im August desselben Jahres gab es dann schon „Alternative Charts“, Singles-Kolumne und dergleichen Modernisierungen mehr. Bei Zickzack gab es gerade die FSK-Single und die Saal 2-Single, gefeierte Produkte einer neuen Epoche. FSK war deutsch und klang wie Velvet und Saal 2 war deutsch und klang wie XTC und Residents von Deutschen für Deutsche. Es war die Zeit als es modern war, nicht von Musik oder Songs, sondern von Tönen und Geräuschen zu sprechen, sich über die Befreitheit einer der Atonalität aufgeschlossenen Musikkultur zu freuen. Ich war in Mania D. verschossen, der ersten deutschen Frauenband, die auf angenehme Weise Lärm mit sehr viel Modebewusstsein und Stil verband. Nächtelang dibberte ich mit allerlei Berufenen und Unberufenen darüber, dass Atonalität alleine keineswegs eine neue Sache sei, sondern schon Schönberg, Free Jazz, diverse Hippie-Bands sich dieses kleinen Tricks bedient hätten. Uralte 20. Jhdt. Scheisse. Auf das Kombinieren käme es an.

Das ganze Pop-Denken (dass nicht der Ton, sondern der stilistische Verweis die kleinste Einheit des Pop-Kunstwerks sei usw.) befand sich damals noch in statu nascendi. Alfred schrieb: „Der deutsche Brian Ferry ist geboren. Silberblick, eine geplante Platte von Joachim Witt aus Hamburg dürfte hoffentlich bald auf allen Plattentellern liegen.“ Wie sehr sich seine Hoffnung erfüllen würde, hatte der gute Alfred, der damals noch dachte, er könne Witt für Zickzack gewinnen, nie erwarten können.

In diese Zeit fielen auch diverse Reisen nach Berlin und Düsseldorf, wo sich dann zu bestimmten Anlässen immer die gleiche Neue-deutsche-Welle-Inside-Crew gemeinsam besoff. Einmal nahm ich Chronist Lottmann auf so eine Berlin-Reise mit, wir schreiben immer noch 1980:

„Der einzige ohne Lederjacke war ich. Ich hatte mein blaues Konfirmationsmäntelchen an, den grünen Dralon-Schal, um den Hals geknotet, die Krankenkassenbrille auf. Das sah sehr hip aus, aber niemand bemerkte es. Niemand bemerkt hier, wenn jemand sich die Mühe macht, hip auszusehen. Man war in der Stadt der Ratten. Und den Ratten war es egal, wie jemand aussah. Hauptsache, sie konnten hinter irgendeinem Mauervorsprung kauern und ihr Bier trinken. Das hatte den Vorteil, dass niemand was gegen mich hatte. Man war nett zu mir, ich will mich nicht beklagen. Die Musikgruppe spielte kakophonen Lärm. Ich machte Augen und Ohren zu, stellte mich in die Mitte und genoss es: ein intensiver, strukturierter, ausgeklügelter Geräuschteppich. Ein Brodeln, Wabern, Krachen, Hämmern, vorangetrieben durch Synthesizer-Rhythmusmaschinen. Und durch das sich steigernde Geschrei des Sängers. Es war wie auf dem Balkon der Grindelhofwohnung, wenn gleichzeitig das Wintersemester beginnt und Strassenbauarbeiter mit Schlagbohrmaschinen die Strasse aufreissen… (…) An einem Tisch sassen alle 14 Leute, die zur Zeit im New Wave-Geschäft den Ton angeben, von Diedrich bis Frieder Butzmann und Gudrun von Mania D, vom Schlagzeuger von Plan und Frank Fenstermacher von Fehlfarben bis zu Schwulebert von den Geilen Tieren und dem Korrespondenten vom NME. Diedrich trank ein dutzend Bier…“

Und so weiter.

Januar 81, das Jahr von DAF, Grace Jones, Laurie Anderson begann: In der Nummer 1 besprachen wir LPs von Hans-A-Plast, Kevin Coyne, The Fall (die einzige Band deren Wertschätzung über Jahre stabil blieb in SOUNDS-Kreisen), Wirtschaftswunder (die erste grosse Zickzack-LP, man konnte stolz sein auf unsere Indies), Gregory Isaacs, Tony Tuff, Lennon/Ono, James Blood Ulmer (Diese Musik kam gerade auf und Xao und andere durften damals noch das Argument aussprechen, sie sei rückwärtsgerichtet), Roger Chapman (wir hatten immer noch elenden Alibi-Rock), Public Image (jeder glaubte, naja ich nicht und Ewald auch nicht, sie seien die Zukunft), Ian Dury, Carambolage, Japan, Judy Mowatt, KFC, The Jam, Linton Kwesi Johnson, Cockney Rejects (das war, als ich noch jeden Abend Spät-Punks, bzw. Fastschon-Skinheads traf, die mir die Ohren vollröhrten, dass Cockney die geilste Gruppe sei, nur 4 Skins seien noch geiler), Motörhead, Suicide Romeo, Charge (von Hollow Skai, Musik für den politisch-verantwortungsbewussten Punk), Holland-Sammelrezension (von mir; ich glaubte immer, alles was ich an unabhängigen Platten zugeschickt bekomme, muss ich auch besprechen. Obwohl die Rezension teilweise ganz positiv ausfällt, habe ich keine der genannten Platten je wieder gehört), Light Up The Dynamite, The Sound, U2, Killing Joke, Joachim Witt (Silberblick, inzwischen bei der WEA erschienen), Spec Records (kennt keiner mehr. Typische New Wave-Pop-Avantgarde, hiessen früher Prag VEC. Grosser Kult VERGESSEN! VERGESSEN! VERGESSEN!), Rheingold, The Ruts, La Düsseldorf, Tom Robinson Sector 27, The Mo-Dettes, Drei Sampler, Jost Band (von Rainer B. Jogschies, der später wie Kröher bei Twen endete und der immer gut dafür war, durch wessen Gutmütigkeit auch immer, die unglaublichsten deutschen Scheiss- und Altrockbands im Blatt unterzubringen. Der Tiefpunkt war erreicht, als er ein Lübecker Fool- und Theater-Ensemble namens Crazy Marching Band bei uns und im „Spiegel“ unterbrachte), The Modernaires (eine Entdeckung von Ewald, dem Freund gut gemachter Musik), Bruce Cockburn, Vitesse (von Willi Andresen, der immer eine oder zwei Bands aus der alten SOUNDS-Zeit pro Nummer besprechen durfte. Angeblich wegen unserer Leser. Wahrscheinlich eine richtige Erwägung. Thomas Buttler erwog sie), Donna Summer, Aretha Franklin, Smokey Robinson, The Deep Freeze Mice (von Michael Ruff, der immer ein paar obskure Kult-Bands aus GB aus dem Armel schütteln konnte, deren Platten man nirgends bekam und der wie Alfred die nette Angewohnheit hatte, mir seine Manuskripte in der Marktstube zu überreichen), Misty, Bomis Prendin (von dem damals frisch rekrutierten Rene Mauchel, der immer für akademisch einwandfreie Kunstwerke aus Dada und Jazz gut war), Bauhaus (von Bert Mielke, den ich aus der Marktstube kannte), M.E.K. Bilk, David Grisman, Ian Lloyd und The Tourists (die letztgenannten waren alle grosse Scheisse, irgendwelche Zugeständnisse an irgendwen, aber die Auflage war nie so hoch wie die vom 1/81).

Trotzdem war Anfang 81 klar, dass jetzt alles anders werden müsste. Mehr Radikalität, mehr Glaubwürdigkeit. Natürlich sind das bei normalen Zeitschriften keine Kriterien, aber unser Chef war Jürgen Legath und der hatte SOUNDS im Prinzip aus dem selben Ekel vor der bürgerlichen Presse aufgebaut, der uns immer wieder zum Schreiben inspirierte. Ich hatte oft das Gefühl, dass Schreiben in diesem Zusammenhang vor allem Richtigstellen bedeutete. Ein Leserbrief bezüglich des Jackson Browne-Hefts (ich glaube 10/81) hatte uns wachgerüttelt (ich war bei diesem Heft übrigens im Urlaub und nehme keine Schuld auf meine Kappe): Ein Leser schrieb, dass man das Titelbild mit diesem Schlaffi nicht in der Wohnung herumliegen haben mag. Und das hatte soviel Evidenz, dass ein Ruck durch uns hindurch ging.

Thomas Buttler wurde von diesen Vorgängen irgendwie verschlissen, jedenfalls war er ab Frühjahr 81 nicht mehr dabei. Kröher war zum Twen gegangen. Jörg Gülden wurde mein Mit-Redakteur. Er hatte das Blatt bis 79 geprägt, war dann in die USA gegangen als grosser New Wave-Hasser. Kam als US-Mainstream-Hasser zurück und fand heraus, dass die Undertones und XTC seinen ursprünglichen Vorstellungen von Pop-Musik doch wesentlich näher waren als Bob Seeger. Tina Hohl wurde Redaktionsassistentin. Sie kam wie ihr Vorgänger Kröher vom Land. Aber nicht aus so einer Ungegend wie dieser (Hinterpfalz), sondern aus dem vertrauten Winsen an der Luhe bei Hamburg. Sie sprach auch nicht Dialekt. Knapp zwei Jahre später sollte sich Kid P., der ebenfalls aus der Hamburg vorgelagerten Provinz stammt, in sie verlieben.

Hans Keller emigrierte nach New York und quartierte sich nach einigen Irrungen fünf Blocks südlich von der Central Street in einer Loft ein, die vor ihm schon Joy Ryder und Iggy Pop bewohnt haben. Mit seinem Geigenkasten und seinem Mafioso-Schnauzer schlich er noch im tiefsten Winter auf Turnschuhen auf- und abfedernd durch die verbotensten Gegenden Manhattans und der Bronx und war ununterbrochen am Entdecken. Rap und so.

Deutsche Musik wurde immer outer, obwohl die Doof-Welle erst zu ahnen war. Ideal und DAF waren in den Charts, aber von Hubert Kah, Jawoll, Trio und dergleichen gab es noch keine Spur. Stattdessen wurde alles funky und alles schwarz. Julian Cope war nicht mehr nur noch „in“, sondern „der definitiv kommende Star“ (8/81). Über Pyrolators Platte „Ausland“ schrieb ich in 10/81: „Endlich hat’s noch geklappt: Eine deutsche Platte, die einem nicht nur gefällt, weil man sich relativierend sagt: ‚Naja, für Deutschland‘.“ Das war wahr, aber zuhause gehört habe ich seit den frühen S.Y.P.H., Fehlfarben und Mittagspause kaum noch was aus Deutschland. Die Avantgarde-Freunde, die Residents-Fans und Oberschüler wurden 81 noch mühsam mit James White, Tuxedomoon, Pere Ubu und Red Crayola befriedigt. Das Suchen nach „neuen Tönen“, war im Prinzip so out wie in Punk-Zeiten der oft bemühte „Klangteppich“ aus Hippie-LP-Reviews. Ich ging aus Gewohnheit noch immer in die Marktstube, aber es passierte nichts mehr. Immer häufiger verliess man das Lokal, bevor es um 4 Uhr schloss um sich noch in irgendeiner der unsäglichen deutschen Discos rumzutreiben, auf die man damals in Hamburg noch angewiesen war.

Dorau machte einen Hit. Palais Schaumburg liessen sich von David Cunningham produzieren. Statt des abendlichen Zusammenhockens im Klüngel bahnte sich der neue Hedonismus an, noch ein Auszug aus Lottmanns endlosem Roman, Datum 5.6.81:

„Es war ehrlich gesagt ein seltsames Gefühl auf der Party zu erscheinen. Ich umarmte alle. Es gab sie noch… Ich konnte es kaum glauben. Sie hatten still und geduldig auf mich gewartet, all die Monate: Die Rothosige, Ingrid, der kleine Zirkusdirektor, Flittchen, diverse blonde Gifte, der Diedrich, natürlich die junge Gepa, Timo Blunck, Fritz Brinckmann, Marque mit qu, Rica, Pia, Luzia, Angelika, Cornelia und viele andere. Ich ging als erstes in die Küche und liess mir von Ingrid Sekt einschenken: ‚Schloss Böchinger‘, der gute halbtrockene Billigsekt aus dem Automatenladen. Dann schlenderte ich zurück in den Flur zu Diedrich, der über Neonazis sprach. Hübsche junge Mädchen flatterten vorbei. Mein alter Freund Ohrt stand schon Sekunden nach seinem Eintreffen betrunken an eine Säule gelehnt; die Frauen liebten ihn. So stellte ich mich neben ihn, um in der Nähe all der Frauen zu sein, die er wie ein Magnet anzog.“ Schloss Böchinger und blonde Gifte das war 81, Sambuca und Pillenbibis – das wurde 82. Dazu AWG und B’Sirs statt Marktstube. Soft Cell, ABC, Dexis, Haircut 100 statt Geräusche.

Das geschah alles im Zuge der Radikalisierung. Es war etwas, was wir als Suche nach Wahrheit verstanden. In diesem Zusammenhang ist auch der Grosseinsatz von Kid P. zu verstehen. Eine Offensive, die wir ab Anfang 82 begannen. Kid P. amüsierte nicht nur unzählige Leserbriefschreiber, er war ausserdem eine Art von Schreiber, die sich kein anderes Medium leisten konnte. Er war vollkommen frei von Schlacken journalistischer Phrasen. Ich versuchte das gleiche auf einer reflektierteren Ebene. The Thinking. Diverse Leute vermuteten Kid P. sei mein Deckname. Dabei hatte ich schon 79 ein kleines Artikelchen über ihn und seine vulgär-schrillen Super-8-Collagen geschrieben. Kid P. stand für den extrem engen Austausch zwischen Leser und Schreiber, den wir 82 erreicht hatten. Albert Oehlen bemerkte ganz richtig: Kid P. ist kein Schreiber, er ist ein Leser. Leserbriefmassen ungeahnten Ausmasses ergossen sich über uns. Jeder wollte zu dieser lustigen Familie gehören und jeder gehörte dazu. Bis auf die paar Leser, die nicht mehr folgen konnten und wahrscheinlich für unseren Auflageneinbruch vom Sommer 82 verantwortlich waren. Hätten wir damals einfach den Kaufpreis verdoppelt. Ich glaube, das hätte geklappt. Nach unserem Ende überwiesen Azubis halbe Monatsgehälter auf unsere Spendenkontos.

81 gab es schon Calypso-Parties, aber erst 82 gab es die Saison, das Grossausgehen verbunden mit Zeitgeistforschung, die Seismographie der Mode-Bewegungen: Es war das Ende des Musikjournalismus und es war kurz davor, etwas ganz anderes zu werden. Dieses ganz andere war denkbar nahe. Doch dann gefiel es der Vorsehung, es enden zu lassen. Und wir können auf einen wirklich gelungenen Jahrgang 82 zurückschauen. Aber den kennt ihr ja alle.