Spirituelle Reaktionäre und völkische Vernunftkritiker

Nach der Wende: Syberberg und Foucaults falsche Freunde

Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben wir Deutsche unsere Nachgeschichte in Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein.

Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung

Erste Initiation im Frühjahr 1982: Dietmar Kamper läßt mich nach Tübingen kommen. Mattenklott, Bergfleth, Sonnemann, Gehrke – und Baudrillard. Ein Hauch von Entspanntheit und savoir vivre. Claudia hat ein ausgezeichnetes Menü organisiert; ich darf neben Baudrillard sitzen und ihm meine Philosophie erzählen. Nach einem Spaziergang trage ich mich mit Kamper und Baudrillard in Hölderlins Turm ins Buch ein. Ich bin glücklich.

Alexander Dill, „Franzosen, Französinnen und ich“, in: Tumult, 15

Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.

Marx, ebenda

Ende 1990 suche ich mir einen Platz in der „Paris-Bar“ in Berlin und stelle fest, daß der einzige freie Stuhl mich zwingen würde, neben HJ Syberberg und schräg gegenüber seiner Muse E. Clever Platz zu nehmen. Den „Fall Syberberg“ gab es noch nicht, der Kampf der völkischen Rechten, deutschtümelnden Kultur- und Identitätsbewahrer um kulturelle Hegemonie, die Flut sogenannter rechter Intelligenz-Blätter zeichnete sich noch nicht ab, das heiße Medienthema „Neue Rechte“ und die Flut von Buchveröffentlichungen, die ihm folgen sollten, war an keinem Horizont zu sehen. Außer für Hubert Winkels, der mir auf der Buchmesse von seinen Recherchen zu diesem Thema erzählt hatte. Und als der leibhaftige Syberberg da wenige Meter von mir sein Herrenmenschenlodencape überwarf, streifte mich doch der Hauch eines Horrors. Die sogenannte „Wiedervereinigung“ hatte also doch stattgefunden. Und Witzfiguren wie dieser windige Wagnerianer waren plötzlich ernst zu nehmen? Ich schrieb einen Artikel für Spex, der dort im Januar ’91 erschien.1

Drei Jahre später nehme ich in Oberhausen an einem dieser Symposien zum Thema Hip-Hop teil. Da es sich um Filmfestspiele handelt, nähert man sich dem Thema über Videos und die Konstruktion von „Ethnischer Identität“. Natürlich geht es auch wieder um die Frage, ob Weiße rappen können/dürfen/sollen. Die amerikanische, schwarze Universitätslehrerin Tricia Rose erklärt den Anwesenden den Unterschied zwischen den korrekten 3rd Base oder House Of Pain auf der einen Seite und den unkorrekten Vanilla Ice oder Snow auf der anderen. Anhand der Fantastischen Vier erklärt sie, was Minstrelsy bedeutet. Minstrels seien im vorigen Jahrhundert auch oft schwarz geschminkte Weiße gewesen, die sich darüber lustig machten, wie sich Schwarze über Weiße lustig machten. Die Diskussion greift die Frage auf, wie Deutsche, die von dieser komplexen Tradition gegenseitiger, aber letztlich immer von den weißen Machthabern zu ihren Gunsten entschiedenen „Rassen“-Parodien ja kaum etwas wissen können, dennoch das gleiche Verhalten an den Tag legen können. Tricia Rose plädiert dafür, daß man sich mit „sich selbst beschäftigen“ soll, während ich die Ansicht vertrete, daß die deutsche Nachkriegs-Pop-Kultur immer schon offen eine Imitationskultur gewesen sei, darin gerade ihre große Chance lag, Fiktionen wie „Identität“ zu entgehen, die doch nur als offensive Strategien von Machtlosen schön und wahr werden könnten, während Tricia Rose dagegen hält, französischer Rap sei besser, weil er sich auf spezifisch Französisches einlasse, ich wiederum entgegne, guten deutschen Rap unterscheide man von schlechtem am leichtesten dadurch, wenn man untersucht, wer da spricht, die Plattenindustrie oder ein Fan. Chuck Stone III, ein Video-Regisseur, der mit Tricia Rose gekommen ist, spricht sich für House Of Pain aus, weil die ihre irische „Ethnicity“ zelebrieren. Ich melde gerade daran meine Bedenken an und erkläre, daß ich auf deutsche Rapper, die ihre deutsche „Ethnicity“ zelebrieren, gut verzichten kann. Da erhebt sich eine Frau und erklärt, daß man uns Deutschen seit 45 Jahren – sie sagt wirklich: seit 45 Jahren – die Identität genommen habe („Sehen Sie sich nur die Lehrpläne an!“) und daß die Kids, womit sie nur die Skins meinen kann, jetzt die Schnauze voll hätten, nicht sagen zu können, daß sie stolz wären, Deutsche zu sein.

Bizarrerweise solidarisieren sich die Afro-Amerikaner und Afro-Briten vorübergehend mit diesen Sätzen, die einen auch dann aufhorchen lassen müßten, wenn man nicht weiß, daß „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ bekanntermaßen ein Aufnäher ist, der nur von offenen Nazis getragen wird. Eine andere jüngere Dame solidarisiert sich ausdrücklich, eine weitere spricht davon, daß man im Film wieder die Nationalkulturen respektieren müsse. Die jüngere erklärt in der auf Englisch geführten Diskussion, daß wir unsere „Whiteness“ befragen müßten und daß die Existenz einer deutschen Identität schon durch prügelnde Nazis bewiesen sei (gegen meine Einlassung, nationale Identitäten seien Fiktionen mit unterschiedlichen Funktionen; die des Black Nationalism z. B. teilweise politisch korrekt, diverse postjugoslawische verheerend und eine deutsche ganz bestimmt unerträglich). Es wurde wirrer und erregter, bis schließlich die erste Frau das Drama der deutschen Umerziehung erneut beklagte. 45 Jahre Erziehung hätten uns unsere Identität ausgetrieben. Wer hat das denn gemacht?, frage ich wiederholt, wer wollte das denn, wessen Interesse entsprach dieser vermeintliche kulturelle Kahlschlag? Die Juden?, die Kommunisten?, biete ich an, als sie eine Antwort verweigert. Da kommt es, leise, aber bestimmt: die Amerikaner.

In dieser Einschätzung trifft sich diese völkische Kulturpolitikerin nicht nur mit allen Bands der vielbeschworenen und umraunten Rechtsrock-Szene, die alle neben je einem obligaten Kinderficker-Song einen Anti-McDonald’s-die-Amis-haben-uns-unsere-Bratwurst-weggenommen-Klopper im Programm haben, ihre Rede ist auch die Essenz eines Buches, eben von HJ Syberberg, das den Endpunkt eines intellektuellen Verfalls im Westdeutschland der Achtziger ebenso markiert wie den Unstern, unter dem das neue Deutschland seine historische Mission beginnt. Es ist zur Zeit bei Linken die Versuchung zu erkennen, durch Ortung und Beobachtung der neuen Rechten wieder Boden unter die eigenen Füße zu bekommen. Das staunende Lesen der Frechheiten in der FAZ, der immer weiter voranschreitenden Übernahme des Spiegels kann zum Selbstzweck werden: klare Verhältnisse schaffen, die nicht klar sind und zum Spiegelbild der Neurose werden, die sich in der verzweifelten Suche der FAZ nach der Linken ausdrückt. Die Suchanzeige „What’s Left“ ist ja auch ein Hilfeschrei von Leuten, denen das Weltbild kaputtgeht. Nur sind die 1.) an der Macht und damit auch an der Definitionsmacht: Sie erklären, was normal ist und wo die Abweichung beginnt. Normal sind zur Zeit in der FAZ die Nazi-Manifeste ihres Herausgebers Reißmüller („Was sich da alles selbst verwirklicht“), während der amüsante Rortyaner Patrick Bahners auf den Kulturseiten die den guten fraktionsübergreifenden Ruf stabilisierende Ausnahme darstellt. 2.) zeigen Fälle wie die Diskussion in Oberhausen, daß man sich überall und zwangsläufig mit Positionen auseinandersetzen muß, die man zwar auch stärkt, wenn man sie nur benennt und beschreibt, die man aber auch nicht mehr ignorieren kann. Und 3.) geht es mir in diesem Text eher darum, den Anteil an dem Schlamassel aufzuzeigen, den Künstlertypen wie unsereins zu verantworten haben, nicht darum, den neuen und alten deutschen Rechten ihre Geschichte zu schreiben.

1990 versprach ein Buch2 von Hans-Jürgen Syberberg per Klappentext „unseren kulturellen Identitätsverlust in der Nachkriegsepoche“ zu beschreiben, als eine „Niederschrift der Trauer und zugleich eine Befreiungsgeschichte“: „Nicht nach links, nicht nach rechts geht der Weg.“ Das erinnert an den Titel von Zeev Sternhells „Ni droite, ni gauche“, auf das sich kürzlich eine Auseinandersetzung des Bataille-Experten Denis Hollier mit dem Faschismusverdacht in der Bataille-Rezeption in einer Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift October bezieht. Die Bataille-Rezeption lag ja in Amerika in den Händen von Feministen, Körperkünstlern, Anwälten und Praktikern aller Arten von „perversen“ Lebensweisen, vom masochistischen Dichter bis zum gepierceten Techno-Musiker: Die Bataille-Mode war eine gegenkulturelle Mode, eher die Erweiterung des „emanzipativen Projekts“ als ihr Ende. Syberbergs Buch erschien in dem Verlag, auf dessen Konto nicht nur das Gros der deutschen Bataille-Veröffentlichungen, sondern auch die prominenteste Bataille-Sekundärliteratur geht. Aber ich fürchte, daß diese „Ambiguity“ wirklich nicht mehr ist als ein „cover for an univocal fascism“3, was Denis Hollier für Batailles „Collège de Sociologie“ zurückweist, und nicht „profound ambiguities, which are as such – as ambiguities – at the heart of what was thought …“. Alle Eindeutigkeiten im kulturellen Bereich entstehen aber durch eindeutige Kontextualisierungen prinzipiell immer eher zweideutiger, importierter Kunst/Kultur-Daten.

Der Weg zu dem Ergebnis, daß die taktisch ambige Formulierung „Weder rechts noch links“ sich (nicht nur in diesem Falle) ganz eindeutig mit „rechts“ übersetzen läßt, konnte sich den luxuriös-großherzigen Verzicht auf ermittelndes und verdächtigendes Lesen leider nicht mehr leisten. Er führte uns auch an einem Bataille-Übersetzer und-Herausgeber vorbei. Denn wir müssen ein paar Figuren beobachten, ein paar Orte und Unternehmungen, die mit dem Abbau und der Entsorgung des linken deutschen Denkens der Siebziger während der Achtziger, zum Teil auch aus zunächst guten Gründen, beschäftigt waren und im Namen von Poststrukturalismus, vor allem aber im Namen von Foucault und Bataille, an einem Vergessen mitgewirkt haben, das am Ende – der zeitlich mit dem Anfang des vereinigten Deutschlands zusammenfällt – sich nur noch jener als Geschichte ausgegebenen deutschen Mythen erinnert, die vergessen oder bewältigt und hinter sich gelassen zu haben die ganze Welt unbegründeterweise und unvorsichtigerweise der neuen Nation auf der Suche nach Identität, Vertrauen vorschießend, zutraut.

Anläßlich der „Wiedervereinigung“ Deutschlands eine „Identität“ zu basteln, war und ist ein weitverbreitetes Anliegen, das ebensoviele ehemalige Linke wie Rechte erfaßt hat. Diejenigen, die die unpassende Frage stellen, wozu man solch Identität denn braucht, wurden mit viel publizistischem und propagandistischem Aufwand aussortiert. Uneinigkeit, welche Materialien für das Fundament der Identität zulässig seien und welche Notwendigkeit überhaupt historisch forderte, Nationen zu Identitäten zu verhelfen, wurde meist durch anspielungsreiche Vagheit überspielt. Da ging Syberberg dann eben doch ein paar Schritte zu weit, oder zu früh ein paar Schritte zu weit, sowohl bei der Festlegung der Materialien wie bei der Bestimmung ihres Zwecks. Zumindestens gemessen an dem, was das offizielle westdeutsche Feuilleton zum Erscheinungstermin an Genauigkeit ertragen konnte, ohne in Konflikt mit dem zu geraten, was es eben immer nur andeutungsweise sagen darf: seinen neuen hegemonialen Ansprüchen, seiner Handlungsfähigkeit, ob mit Blauhelm oder als Weltwirtschaftsmacht, Führung der EG oder Bollwerk gegen anstürmende Ausländer aus dem Osten, deren Reisefreiheit vierzig Jahre lang eingeklagt worden war. Daß konservative Zeitungen wie die FAZ in den Chor der Empörung gegen Syberbergs Buch Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem Kriege in einem Ton mit einfielen, der sich schrill von ihrer vertraut mild-manierlichen Melodie unterschied, legte den Verdacht nahe, daß hier einfach einer aus den eigenen Reihen zu deutlich geworden war. Die antisemitischen „Stellen“ waren schnell gefunden und wurden als skandalöse Slogans anstelle einer symptomologischen Lektüre geoutet, die aufgedeckt hätte, daß die Gemeinsamkeiten des Pamphlets mit dem Tagesgeschäft der FAZ-Ideologie bei genauer Lektüre des Buches doch stärker ins Gewicht fallen müßten als die Unterschiede im Ton und in den literarischen Tischsitten.

Schnell wurde ein Symposion in Berlin einberufen, über das anderntags – eilige Reichssache – alle Tageszeitungen und sogar das Fernsehen berichteten. Syberberg-Fans wie Susan Sontag wurden dort mit Sätzen konfrontiert, die auch sie „erschreckend“4 fanden, auch wenn das keinen Einfluß auf ihre Wertschätzung der Syberbergschen Kunst hätte. Heiner Müller moderierte gelangweilt, im Publikum hörte man rechtsradikale Zwischenrufe, aber nur Klaus Theweleit griff Syberberg direkt an, dem seine Lieblingsdarstellerin Edith Clever sekundierte, indem sie den Verfall des Niveaus in der Demokratie bejammert. Alles sei so gemein geworden.

Daß Syberberg sich für einen Verfolgten der Kulturbürokratie hält, ist keine neue Information, gegen massen- und gegenkulturelle Erscheinungsformen hat er auch schon vor mehr als zehn Jahren in Die freudlose Gesellschaft und dann wieder 1984 in Der Wald steht schwarz und schweigt in einer atemlosen Sprache gewettert, die Anzeichen einer paranoiden Sinnestrübung nicht mehr zu verbergen versuchte. Dem meist zitierten Satz aus dem „Unglücksbuch“ – „Wer mit den Juden ging wie mit den Linken machte Karriere, und es hatte nicht mit Liebe und Verständnis oder gar Zuneigung zu tun. Wie konnten das Juden ertragen, es sei denn sie wollten nur Macht“5 – folgt unmittelbar die Formulierung von der „Kunst ohne Volk oder billiger, bequemer, schneller Wegwerfwaren wie Punk, Pop oder Junk“, deren Modell sich schon über zehn Jahre zuvor in der freudlosen Gesellschaft als gegen Jeans-, Turnschuhträger und andere gerichtet, mit deren Bekleidung weder Staat noch Identität zu machen ist, lesen ließ.

Nur eine Rezension ging 1990 freundlich mit Syberberg um. Bernd Mattheus veröffentlichte sie in der klerikalkonservativen Wochenzeitung Rheinischer Merkur – Christ und Welt. Mattheus kann man kennen als Aphoristiker und Essayist, der eine zweibändige „Thanatographie“ Georges Batailles schrieb und mit dem Verleger Axel Matthes zusammen 1985 in dessen Matthes-&-Seitz-Verlag die Anthologie Ich gestatte mir die Revolte6 herausgab, in der neben Texten klassisch konservativer und/oder kulturpessimistischer Autoren wie Jünger, Cioran, Klages und Leon Bloy Radikale und Revolteure aller Art wie Artaud, Bataille, Carl Einstein, Marcel Broodthaers und Oswald Wiener zu Wort kommen. Darin finden sich aber auch bemerkenswerte Sätze des Verlegers, die sich nicht nur stilistisch erstaunlich an den 1990 von Syberberg (nicht zum ersten Mal) angeschlagenen Ton anschmiegen. Z. B. gegen das, was er dem Hörensagen nach als „Radical Chic“ kennt: „Prestige, klischiert und medioker wie das Insein eines heterosexuellen Frisörs und einer lesbischen Mutter. Godards Filme haschen nach Radikalität wie Achternbuschs Hervorbringungen und die von einer Intellektuellenschickeria hochgeputschten pubertären Phantasien à la Rainald Goetz, ähnlich sehe ich den apokalyptischen Dandysmus des späten Beuys. Der Verschönerungspunker sehnt sich nach Ordnung und eindeutigen Verhältnissen wie der Schablonenmensch. Und ist der Computerfreak bei seinen Verrichtungen so anders?“7 Gegen Postmoderne: „Die These, es gäbe nur eine endlose Wiederbelebung bekannter Positionen, halte ich für eine Argumentationsmode der Entertainer in einer Bordellgesellschaft.“8 Und gegen einen „anthropomorphen“ Zeitgeist ohne Sinn für echte Radikalität. Daß der Haß gegen die keiner Mühe der Prüfung und Sichtung mehr unterzogene zeitgenössische Bordell-Kultur wenigstens noch die Namen wahllos herausgegriffener und offensichtlich nicht vertrauter Personen (Beuys, Goetz, Godard, Achternbusch) und vermeintlicher Zeiterscheinungen (Punker, Computerfreak, heterosexueller Frisör) nennt, markiert die sieben Jahre Differenz zu Syberberg, der dann nur noch global von „Pop, Punk und Junk“ reden kann: Jetzt hat man nicht mal mehr die Zeit, sich die Namen dessen zu merken, was man diffus bedrohlich, schmutzig und vor allem frivol findet. Wobei Syberberg nicht einmal die Tautologie aufzufallen scheint, sich selbst „Punk“ oder „Junk“ nennenden Produktionsweisen Wegwerfmentalität vorzuwerfen. Um unter anderen Kritikern der Warenform noch Verbündete zu suchen, ist es zu spät, wohl weil einem langsam, trotz ständigen Beschwörens der leeren Konsum- und Wegwerfmentalität, dämmert, daß es einem eh um was anderes geht: Im Gegensatz zum depressiven Matthes von ’85 hat Syberberg ja mittlerweile eine Hoffnung; nicht nur vom Unglück, auch vom Glück handelt ja sein Buch. Zwar muß vorher sehr viel möglichst schnell verschwinden, was die neue Identität gefährden könnte. Aber im Prinzip herrscht Hochstimmung.

Syberberg publizierte bei verschiedenen, in der Regel angesehenen, liberalen Mainstream-Verlagen, zuletzt vor Matthes & Seitz bei Diogenes. Sein erstes Buch für Matthes & Seitz hat selbst den, wie wir später sehen werden, einiges gewohnten Verleger schockiert. Aus Syberbergs Vorrede geht hervor, daß Matthes von ihm eine einleitende Standortbestimmung haben wollte, die vielleicht vernebeln sollte, was denn doch nicht zu übersehen war. Syberberg gehorcht und nennt seine Helden: Kiefer, Tarkowski, Thomas Bernhard, in der Politik: Gorbatschow, Václav Havel und Walesa, dann Ernst Jünger, Heidegger und sogar noch Hannah Arendt, bevor er sich bei biblischen, mythischen und antiken Figuren verliert.9 Ein Jahr später tauchen einige dieser Namen (Jünger, Heidegger) wieder auf, als Axel Matthes in einem Beitrag zum Matthes-&-Seitz-Verlagsalmanach Der Pfahl mit dem „Spiesser- und Mitläufertum unter deutschen Intellektuellen“ anläßlich der inzwischen zur „Affäre“ gewordenen Syberberg-Debatte abrechnet.10

Neben anderen Leitfiguren des „neokonservativen“ (um es mal vorsichtig zur formulieren) Deutschlands (Carl Schmitt, Spengler etc.) kommt auch Theodor W. Adorno zu unerwarteten Ehren („der trotz der voreiligen Malicen zu Heidegger, Spengler und Sibelius ein hervorragender Anarch war“). Matthes zitiert Adorno von 1947: „Stalin braucht sich nur zu räuspern und sie werfen Kafka und van Gogh auf den Misthaufen.“ Das lasse sich bruchlos auf unsere liberal verseuchte Kultur applizieren: „Mittlerweile braucht nur ein Magazin-Redakteur über Syberberg zu zetern und die Kampfbündler rangieren den Autor und Künstler samt Verlag aus.“ Die besondere Komik des Vergleichs von Stalin mit dem hier gemeinten harmlosen Herrn Karasek vom Spiegel, einem Mann, der am liebsten über Woody Allen und gemütliche Glossen unter Pseudonym schreibt und dessen radikalster Moment vermutlich vor über zehn Jahren das Bekenntnis war, sich durchaus auch an einem James-Bond-Film freuen zu können, wird noch verschärft dadurch, daß Matthes hier von einer Steigerung der falschen Verhältnisse spricht: Karasek schlimmer als Stalin, das Verbrechen, Syberberg auszurangieren, fataler als der Misthaufen für Kafka und van Gogh. Daß Adorno dafür herhalten muß, ist allerdings symptomatisch.

Wir müssen noch etwas weiter ausholen: 1978 veröffentlichte der Berliner Merve-Verlag den Reader Das Schillern der Revolte11, der nicht nur am Anfang der Rezeption neuerer französischer Theorie durch deutsche (ehemalige) Linke steht, sondern auch die bemerkenswerte Karriere des Begriffs Revolte einleitet, die mit Syberbergs heroischer Auflehnung gegen internationales Judentum und Junk Culture ihr vorläufiges Ende findet. Vorher war Merve vor allem ein Verlag der „Internationalen Marxistischen Diskussion“ gewesen. Neben Sohn-Rethel veröffentlichten dort z. B. Toni Negri und andere „undogmatische Linke“, wie man sie damals nannte. Unmittelbare Vorläufer von diesem Reader waren Veröffentlichungen zu den Projekten italienischer Autonomer (etwa die Sendeprotokolle des Senders „Alice A/traverso“) und deutsche Übersetzungen von Foucault, Althusser und Deleuze/Guattari. Im Schillern äußern sich erstmals auch deutsche Anhänger der noch diffus rezipierten französischen Novitäten. Bis dahin waren Foucault und Deleuze/Guattari wie auch Derrida nur einem kleinen Kreis von Spezialwissenschaftlern bekannt gewesen; der immense Erfolg von Klaus Theweleits Männerphantasien hatte durch seine vielen Fußnoten und Verweise, die sich besonders auf Foucault und Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus (in Deutschland 1976 erschienen) bezogen, den Boden für das allgemeine Interesse bereitet. Zu den Autoren des Schillerns gehören so unterschiedliche Leute wie der ehemalige SDS-Aktivist Franz Böckelmann, in den frühen Sechzigern gemeinsam mit Dieter Kunzelmann Begründer der „Subversiven Aktion“ (einer Nachfolge-Organisation der deutschen Sektion der Situationistischen Internationale), später „Katastrophentheoretiker“ und Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift Tumult – Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Dietmar Kamper, heute einer der bekanntesten Professoren der Republik, der sich in Berlin 1993 doch tatsächlich mit dem „Nouvelle-Droite“-Chefarsch Alain de Benoist zu einer Diskussion an einen Tisch setzen wollte, und die Foucault-Übersetzer Walter Seitter und Ulrich Raulff. Seitter nimmt darin Abschied von der „Litanei Marx Marx“12 und schlägt eine andere Lesart des Mai ’68 vor, dessen Symbole nun „die schwarze Fahne der Anarchie und die bunten Wandschriften der Poesie“ gewesen sein sollen. Das nahm ihm im Berlin zwischen Punk und Tunix natürlich niemand übel.

Tatsächlich war die etablierte Linke in Frankreich mit dem Mai ’68 so erledigt wie sie in Deutschland nicht erledigt sein konnte, weil es eine etablierte Linke in der Nachkriegszeit nicht gegeben hatte. 1956 wurde die KPD verboten, die Sozialdemokraten hatten im Godesberger Programm 1959 den Begriff „Klassenkampf“ gestrichen, und in den fünfziger Jahren war es im Westen nicht einmal immer möglich, ein Stück von Brecht auf die Bühne zu bringen. Die in der Nachfolge der deutschen Studentenbewegung gegründeten diversen maoistischen Sekten, die sogenannten K-Gruppen (KPD, KPD/ML, KBW, KB etc.), die sich im Laufe der Siebziger in selbstquälerischen Spaltungen immer weiter atomisierten, glichen eher einer nachholenden Parodie auf die Geschichte des Weltkommunismus. Man überbot sich an Rigidität und Parteidisziplin und glaubte sich trotz totaler politischer Bedeutungslosigkeit in einer Kampffront mit der Arbeiterklasse. Bezeichnenderweise hatte ein Teil der K-Gruppen im Einklang mit dem offiziellen China den sowjetischen „Sozialimperialismus“ zum Hauptfeind erklärt, die NATO galt als das kleinere Übel. So konnte dann auch die Forderung nach einer „Wiedervereinigung“ eines sozialistischen Deutschlands ein Ziel sein, das teuer genug war, um junge Genossen zu zwingen, nicht bürgerlich-pazifistisch den Kriegsdienst zu verweigern, sondern in der antisowjetischen Bundeswehr Dienst zu tun. Als gegen Ende der Siebziger die K-Gruppen sich der Reihe nach aufzulösen begannen und ihre ehemaligen Mitglieder sich in vielen Fällen in den Reihen von Spontis, Bürgerinitiativen und anderen „autonomen“ oder „mikropolitischen“ Bewegungen wiederfanden, begann auch die Rezeption einer für Deutschland neuen französischen Theorie, deren Texte aber in der Regel damals circa schon ein Jahrzehnt alt waren. Die „Abwicklung“ der eigenen K-Gruppen-Vergangenheit ging mit scheinbar dem gleichen Tempo und der gleichen Reibungslosigkeit vonstatten, die man in den späten Achtzigern noch einmal bei der Wandlung von orthodox marzistischen oder von der kritischen Theorie kommenden Wissenschaftlern in Systemtheoretiker beobachten konnte. Indem man sich einer französischen Theorie zuwandte, die schon lange zuvor auch in Gegnerschaft zur Orthodoxie der etablierten Linken entstanden war, bekämpfte und exorzierte man aber den eigenen Stalinismus in der K-Gruppe; ihm und sich eine Bedeutung zusprechend, die weder die Individuen noch die Parteien je hatten. Denn daß dieser Stalinismus selber schon eine hysterische Antwort auf die Abwesenheit einer kommunistischen Geschichte in Deutschland gewesen war, eine machtlose Farce mit mitunter sympathischen Zügen von Jugendtribalismus und Pfadfindertum, an deren Händen nicht nur kein Blut klebte, von einigen kleineren Psychodramen abgesehen, sondern dessen Zustandekommen eher der „Anamnese der Genese“ als protestantischer Selbstbezichtigung bedurft hätte, wurde in diesem Akt der Reue über die Anmaßung politischer Bedeutung unter den Teppich einer neuen Gewißheit gekehrt: daß wir alle Skelette im Schrank haben und uns ganz schnell zu verantwortungsvollen und handlungsfähigen Demokraten wandeln müssen. In der Grünen Partei oder anderswo. (Man fühlt sich an die Penetranz erinnert, mit der Ex-Linke, vermeintliche Linke und Rechte heutzutage den Mythos von einer kulturellen Hegemonie der Linken aufrecht erhalten und einer schon lange verflüchtigten Linken Verbrechen und Versäumnisse vorwerfen, die sie gar nicht begangen haben kann). Zwar ist von Seitter nicht bekannt oder zu vermuten, daß er eine K-Gruppen-Vergangenheit zu bewältigen hatte. Aber daß man nun anders und von neuem an den Mai ’68 anschließen konnte, der plötzlich ein ganz anderer Mai geworden war, nicht mehr der Mai der Wütenden und Situationisten, nicht der Mai der Maoisten und des Generalstreiks, sondern ein Mai der Poesie und der Cohn-Bendits, ein Mai der unmittelbar zu Ariane Mnouchkine und Jérôme Savary, nicht mehr zu Guy Debord oder Jacques Mesrine oder Malcolm McLaren führen sollte, war eine Botschaft, die zu Anfang der achtziger Jahre überall auf den fruchtbaren Boden fiel, auf dem auch Traumtheater, begnadete Körper und anderer Quatsch wuchs. Überall griffen bunte, zirzensische Phantasien nach der Macht.

Die Texte im Schillern sind natürlich in ihrer Zeit nicht nur zu erklären, sondern auch oft berechtigt: schon im Benennen von Argumenten gegen einen tatsächlich seinerzeit frigide gewordenen und mit der sozialdemokratischen Kulturbürokratie paktierenden linken Common Sense. Die Wenden von ’77/’78 haben ja auch damit zu tun gehabt, daß die sozialdemokratische Kultur marxistische Positionen und Aufklärungen repressiv einsetzte, ja daß sogar der Erfinder der Rasterfahndung gegen die RAF und andere politische Abweichler, BKA-Präsident Herold, seine Konzepte in einer marxistischen Begrifflichkeit erläuterte (die einem aber schon damals verdächtig nach Systemtheorie hätte schmecken können, wenn man die damals schon beachtet hätte). Da hatte Deutschland seine späte KP und Dialektik der Aufklärung bekommen, aber die Selbstbestrafung durch Fallenlassen der eigenen Politisierung, die die radikalen linken Intellektuellen betrieben, richtete sich gegen sich selbst und das eigene Milieu – anders als etwa der zur selben Zeit aufkommende Punk-Rock –, nicht gegen die sozialdemokratische Macht. Und im Zuge dieser Zerknirschung – die immer das bestätigende Gegenteil von Bearbeitung ist – gerieten auch die antifaschistischen Ursachen der Politisierung der deutschen Intellektuellen in Vergessenheit: Sie war jetzt nur noch die falsche Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, den Mai ’68 zu lesen, gewesen. Am Ende heißt es ’78 bei Seitter: „Auch der Solitär ist ein Prüfstein der Politik.“ Dieser wurde dann als heroisches Komplement zu grüner Realpolitik auch die Lieblingsfigur endloser Anthologien und Verlagsmitteilungen aus dem postlinken Nachfolge-Milieu, vom Konkursbuch-Verlag bis zu Matthes & Seitz: so unterschiedlich die Autoren und Traditionen, die in diesem Verlag zusammen kamen, sie alle wurden, wenn nötig durch manchmal krude Interpretationen auf Klappentexten (etwa wenn Marcel Aymé zum kämpferischen Anti-Sozialisten erklärt wird), auf die Position des Solitärs eingeschworen. Und das einzig denkbare korrekte Verhalten des Solitärs bekam den Namen Revolte. Auf dem Klappentext des Schillerns hingegen erscheint noch in aller Unschuld eine Losung, die heute in der Bundesrepublik Deutschland zu den häufigsten Attributen von Klappentexten bis zu Stellenanzeigen gehört und deren Beliebtheit als Gratislob für die billigste Unangepaßtheit bezeichnend ist, besser: für die totale, hysterische Angepaßtheit an die Standards des kulturellen Konkurrenzkampfes: „Querdenken“. Damit wollten sich aber die späteren Solitäre und Revolteure nicht mehr abspeisen lassen.

„Es handelt sich um eine Methode der Zersetzung, die vor nichts halt macht“, schreiben Robert Müller und Michael Makropoulos13 über das neue Denken, das jetzt an die Stelle des „linken“ Denkens treten soll, in einem Aufsatz, der nicht nur damals für die Theorie der Punkbewegung in Deutschland wichtig wurde, sondern auch heute noch in seiner Anwendung von Foucault und Deleuze/Guattari auf das damalige Elend im Studentenmilieu zutreffend ist: „… und schon gar nicht vor dem Mythos der jeweiligen Identität der revolutionären Gruppen oder Individuen.“ Denn nicht nur diese „Identitäten“ konnten einem damals in der Tat auf die Nerven gehen (wie die meisten „Identitäten“ – wir sprachen davon). Es war die Zeit linker Strickkurse und einer Dritte-Welt-Solidarität, die auf anderer Leute Elend die eigene Regression projizierte und gefahrlos anderswo eine übersichtliche Anordnung von Widersprüchen fand. Dagegen forderte man, und dieser Text untermauerte diese Forderung mit „aufregenden“ Zitaten eines neuen unbekannten Denkens, eine Subversion, die im Namen der „Ränder“ und der „Fluchten“ den Kapitalismus bekämpfte. (Daß es gegen den Kapitalismus ginge, war ’78 noch ziemlich unumstritten, und Agnoli und Brückner dürfen noch als Zeugen auftreten). Am Ende ihres Textes zitieren Müller/Makropoulos ein/en Bonmot/Aphorismus eines gewissen Gerd Bergfleth, den sie wie ein Gedicht umbrechen.

Ein paar Jahre später erscheint bei Matthes & Seitz in dem Reader Zur Kritik der palavernden Aufklärung14 ein Text von Bergfleth, der erstmals, u. a. von der Hamburger Zeitschrift Spuren, einen Antisemitismus-Vorwurf gegen ein Produkt von Matthes & Seitz laut werden läßt. Bisherige Autoren des Verlages wie z. B. Elisabeth Lenk, die die erste Bataille-Edition für Matthes & Seitz besorgt hatte, ziehen Manuskripte zurück.15 Matthes & Seitz war zu diesem Zeitpunkt, neben Merve, der Verlag, der sich am ausführlichsten und engagiertesten um die Veröffentlichung lange übersehener französischer Texte in Deutschland verdient gemacht hatte: Bataille, Artaud, Laure, Leiris und Barthes waren bei Matthes & Seitz erschienen. Bataille später herausgegeben und teilweise übersetzt von Bergfleth. Als ’8216 Baudrillards Symbolischer Tausch und der Tod erschien, versah Verleger Matthes den Band mit einem langen Nachwort von Bergfleth (gegen den Willen des Autors) und verfuhr dann wieder genauso, als Die Göttliche Linke erschien. Diesmal reichte allerdings ein Nachwort nicht: Neben dem russischen Kunsttheoretiker Boris Groys schrieben diesmal zwei Autoren, die man als Vertreter des deutschen Rechtsradikalismus nicht erst entlarven mußte: Hans Dietrich Sander, Herausgeber der rechtsradikalen Zeitschrift Staatsbriefe – regelmäßig von Hermann Kurzke in seiner FAZ-Zeitschriftenschau berücksichtigt – und Verfasser von Texten wie „Der nationale Imperativ – Ideengänge und Werkstücke zur Wiederherstellung Deutschlands“ oder „Von der geistigen Knechtschaft der Deutschen und ihrer möglichen Aufhebung“; und der besonders schillernde Günther „Cubamaschke“ Maschke, der ursprünglich als Linker nach Cuba ging, sich dort einem Putschversuch gegen Castro anschloß und dann als rechter Theoretiker und Philologe zurückkehrte, die Werke Carl Schmitts in einer eigens für ihn bei Klett-Cotta eingerichteten „Edition Maschke“ herausgibt, die Texte jenes Staatsrechtlers, der seinerzeit Hitlers Ermächtigungsgesetz rechtfertigte und heute an allen Fronten eine Renaissance erlebt (wobei dahingestellt bleiben soll, ob Teile seines Werkes tatsächlich entdeckt zu werden lohnen – Maoisten, aber auch Anarchisten der Siebziger hatten auch immer schon allerlei Übertragbares gefunden, Seitter wird Schmitt 1991 einen „exzeptionellen deutschen Denker des Politischen“ nennen). Heute gibt Maschke die Werke von Schmitts spanischem Vorbild Juan Donoso Cortés heraus und dient jungen neuen Faschos von der Etappe bis zur Jungen Freiheit (auch immer liebevoll in der FAZ rezensiert) als Vaterfigur. Daß Maschke und Sander bei Matthes & Seitz publizierten, verunsicherte aber kaum diejenigen Intellektuellen, die sich bei M&S all die Jahre ihre Batailles und Oswald Wieners, ihre Baudrillards und Panizzas geholt hatten; nur Baudrillard selber: denn der mußte seine Nachworte ja lesen.17

1990 erscheint ein Text von Bergfleth in den Staatsbriefen, aus dem sicher auszugsweise Zitate genügen, um diejenigen zu widerlegen, die das, was seine Kritiker für „Antisemitismus“ gehalten haben, als den „geschworenen Antifaschismus“ eines eben etwas exzentrischen und besonders radikalen deutschen Anhänger des Poststrukturalismus verteidigen, nur weil Bergfleth auch in seinem 1991er Beitrag zum M&S-Almanach Der Pfahl weiter munter Foucault zitiert18: „… Das Volk hat vollbracht, was sonst nur Beethovens Neunte bewirkt: es hat die Welt erschüttert. Aller Makel ist getilgt, aller ihm zugeschriebener Untertanengeist gelöscht. (…) Die Volksbewegung der DDR stellt das wahre Deutschland dar, das die Westdeutschen verraten haben – verraten an eine kapitalliberale Ökonomieseuche, die den Volkskörper zerfressen hat, an einen Technikkult, der das Land verwüstet, und an weltbürgerliche Lebenslügen, die darauf angelegt sind, die Zerstörung des deutschen Volkscharakters zu vollenden. Der Liberalismus ist die Spitze des europäisch-atlantischen Nihilismus. (…) Eine Aufhebung des Okkupationsstatus auf beiden Seiten mitsamt der wehrhaften Blockfreiheit Gesamtdeutschlands wird das mindeste sein, das zu gewährleisten ist. (…) Denn die Wiedergeburt der Nation setzt eine volkmäßige Erneuerung voraus, die den Westdeutschen noch bevorsteht. Erst wenn dieses Unvolk sich gegen seine technokratisch-amerikanische Knechtung erhebt, wird es reif sein, sich als freies Volk mit dem freien Volk der DDR zu vereinen. Die Volkserhebung der DDR ist der erste Akt einer nationalen Erhebung aller Deutschen, an deren Ende die Einheit der Nation stehen wird: das Deutsche Reich.“19

Vier Jahre zuvor hatte Rolf Grimminger Axel Matthes mit Sätzen des von ihm so viel beschäftigten Autors Bergfleth konfrontiert.20 „Grimminger: Ihr Autor Bergfleth hat bei ihnen einen Aufsatz stehen, in dem das Irren böse abrutscht, es restauriert völkischnationale bis nationalsozialistische Mythen. Wie verhalten Sie sich als Verleger zu diesem Skandal? Matthes: Ihre Lesart, die Sie mit anderen linker Provenienz teilen, die in der Presse geschrieben haben, ist irrig. Da wurde mit Rosenberg und Streicher verglichen. Man liest nicht, was man liest, sondern was man ist. Grimminger: Moment mal, ich zitiere jetzt im O-Ton Bergfleth, ‚daß das aufklärerische Judentum in der Regel keinen Sinn hat für … deutsche Eigenart … romantische Sehnsucht … Verbundenheit mit der Natur … nicht auszurottende Erinnerung an die heidnisch germanische Vergangenheit …‘ Oder noch schlimmer: ‚So züchtet die neue Aufklärung einen Unmenschen …, einen Deutschen, der Europäer, Amerikaner, Jude oder was immer sein darf, nur nicht er selbst. Er ist dank der linken Reeducation, die seine Kriegsniederlage erst vollständig macht, zum Gastarbeiter im eigenen Land geworden …, der das Gnadenbrot seiner Kultivierung von den linken Herrenzynikern der Aufklärungsmafia empfängt.‘ Das reicht wohl. Matthes: Ich weiß: Bergfleth fordert unseren selbstgewissen Zeitgeist heraus, er hat an ein bundesdeutsches Tabu gerade bei den Intellektuellen gerührt, zu denen ich mich als Verleger auch zähle. Ich kann die Aufregung in meiner Brust nachvollziehen, schließlich bin ich mit Benjamin und Adorno geistig groß geworden. Bergfleth ist kein Philosemit, und wir haben in Bundesdeutschland einen Philosemitismus, der ebenso unfrei wie verlogen ist. Bergfleth (…) ist aber auch kein rassischer Antisemit. So wenig wie Nietzsche! (…) Adorno hat sich beißend kritisch über Dvořák, Rachmaninow, Tschaikowski geäußert, aber ist er darum antislawisch?“

Und wieder Adorno. Nicht nur, daß geistig mit ihm groß geworden zu sein nicht viel gefruchtet zu haben scheint, daß die unter zuviel Philosemitismus leidenden Geister immer wieder ihn ins Feld führen, geschieht natürlich wegen seiner Kritik der Kulturindustrie, seiner Affekte gegen Jazz, gegen amerikanische Populärkultur, von der er ähnlich undeutliche Vorstellungen hatte wie Syberberg von Junk und Punk und Matthes von Godard und Computerfreaks; wegen seines Geprägtseins von einem bürgerlichen Kunstgenuß der letzten Jahrhundertwende, an dem sich auch der reaktionäre Musikliebhaber immer wieder wärmen kann. So wie in der Dialektik der Aufklärung von allgemeinen Merkmalen der Kulturindustrie die Rede ist, die sich eindeutig einerseits nur auf die New-Deal-Filme beziehen, mehrfach referiert er Capra-Plots, andererseits auf Großproduktionen Marke Cecil B. DeMille, obwohl sogar schon zur Niederschrift die Rückschlüsse über dieses Segment der Kulturindustrie überholt waren, so scheint auch die ganze Aufregung von Syberberg, Bergfleth und Matthes sich gegen kulturelle Produktionen und Erscheinungen zu richten, die zunächst nur als bedrohlich empfunden werden, weil sie nicht verstanden und einsortiert werden können. Den poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch von linken Positionen befreiten Schöngeistern bietet sich zur Entsorgung der Kulturmüllberge zunehmend verführerischer die Einsortierung kulturindustrieller und vermeintlich kulturindustrieller Produkte in je nach rechter Radikalitäit „amerikanische“, „fremde“, „künstliche“ bis „jüdische“ an. Nur mit einer gigantischen Abräum-Leistung scheint die Identität wieder herstellbar zu sein, die der – unverkennbar von Matthes stammende – Klappentext des Syberberg-Buches verspricht.

„Die Plastikwelt hat uns okkupiert. Wenn wir ins Auto steigen, ins Flugzeug, Schiffe betreten, wenn wir heutige Küchen erwerben, in die Fernsehwelt uns einlassen, vom Studio und Material bis Bild der Welt, so betreten wir die Welt der künstlichen Chemieuniversen. (…) Die Computer sind aus diesem Material gemacht und damit unser Denken, unser Erinnern, die Simulation des Lebens.“21 Die hier in schon bizarr falschem Deutsch eingeklagte Echtheit und Authentizität des Materials, die sich offensichtlich vor dem harmlosen Gehäuse eines Computers mehr fürchtet als vor den Chips, die immer noch aus Silizium gemacht werden, gibt einer Interpretation nicht nur Syberbergs Text, sondern auch des Erfolges, den seine Polemik hatte, recht, die die niederländischen Medientheoretiker Geert Lovink und Basjam van Stam in Mediamatic vorschlugen. Lovink / van Stam lesen Unglück und den anderen im selben Jahr bei deutschen Gemütsmenschen eingeschlagenen Theoriebestseller, George Steiners Von realer Gegenwart, als nostalgische Versuche, Authentizität über eine Art Kulturökologie (wieder)herzustellen. Wenn wir uns nur von der uns umgebenden Fülle von Mediendaten, die etwas verbergen, befreien, wenn wir uns der sekundären Diskurse entledigen, wird sich schon wieder „reale Präsenz“ (Steiner) oder Preußen statt Israel, Plastik und Punk (Syberberg) einstellen. Lovink / van Stam schließen: „Steiner and Syberberg fill a need. For the time being, experiments with electronic art are open-ended and offer no certainty in the unstable art world. So the call for a return to the authentic can count on public approval. The overkill, however, which is real, is a logical consequence of the new media’s phase of introduction onto the market. This will regulate itself via restraints and bankruptcies, irrespective of the authenticity wrapper. The drumroll of the oaken sticks on tightly stretched pig’s bladders which can be heard at fetes and street festivals (amplified or not) is at present passing before us in the media’s consolidation phase, followed by an authentic tape of 60s music and the latest technodisco. It is for lack of a primary media theory that Syberberg and Steiner can not only lash out so naively and conservatively, but on top of it get discussed as groundbreaking thinkers. If enough were known about the connections and technical possibilities of the media (and its history), such contributions would instantly be lost in the everyday multicultural shuffle.“22

Und genau dieser Shuffle ist denn auch Syberbergs größte Sorge, die Multikultur ist sein größter Feind, und erst im Schlußteil seines Buches, den er nach der Maueröffnung geschrieben hat, wittert er Morgenluft: „Und plötzlich wird deutlich, warum alles weg mußte, die Mitte, das Bewußtsein von Einheit und der Untergang triumphierte bis zur Katastrophe, in die das führen mußte, wie Furie des abendländischen Verschwindens aus dem Kraftzentrum seines Lebens mit Popneurosen, Freak-Dekadenz, Punk-Beliebigkeit, Realismus des Untergangs oder Existenzialismus nach dem ’45 der Lügen-Befreiung und mit sozialistischem Realismus des Ostens, blut- und bodenlos die Kunst der Eunuchen der Macht. Wo nur Neubeginn sein kann wie archaischen Ursprungs aus dem Zentrum der Verluste, wenn die Wahrheit der Gefühle den Verstand regelt, wo das ehrliche Weinen und Lachen alle Unnatur vertreibt.“23

Nüchterner – und in besserem Deutsch – kann sich Walter Seitter mit den neuen Verhältnissen auseinandersetzen. In den Achtzigern erscheinen von ihm, nachdem er über Lacan geschrieben, Foucault übersetzt und herausgegeben hat, regelmäßig seine Vorlesungen zum Nibelungenlied im Merve-Verlag24: darin schlägt er die Lektüre des Nibelungenlieds als Beispiel für „Ethnologie der eigenen Kultur“ mit Foucault vor. Das kann man schon merkwürdig finden, wenn man bedenkt, daß Foucaults Entwurf einer (idealen?, zukünftigen?, erweiterten?) Ethnologie, „die – statt sich, wie sie es bisher getan hat, durch die Untersuchung der geschichtslosen Gesellschaften zu definieren – eindeutig ihren Gegenstand bei den unbewußten Prozessen suchen würde, die das System einer gegebenen Kultur charakterisieren“25, kaum gemeint haben kann, daß sich in diesem Sinne mit dem Nibelungenlied Aufschlüsse über die unbewußten Prozesse, die das System der gegebenen (deutschen) Kultur charakterisieren, gewinnen lassen. Und das nicht nur, weil das Nibelungenlied eine Rezeptionsgeschichte als Staatsmythos hinter sich hat, die Seitter weit weniger interessiert, als sein „politisches Wissen“ hervorzubringen. Nun sind solche eiligen Applikationen im Prinzip sympathisch, weil sie gegen die gelähmte akademische Bewunderungsstarre stehen, die die Regel ist. Wie überhaupt der 1941 geborene Seitter als idiosynkratischer Sonderling (Solitär eben), dessen Vortragsweise ebenso einzigartig ist – er artikuliert jede Vokabel als hätte sie eine magische Macht – wie seine überraschenden Verknüpfungen von gewöhnlich Fernliegendem, schon früher durch eine Mischung aus philologischem Fleiß und originellen Vereinfachungen aufgefallen ist. Beide Nibelungenbücher werden auf der Innenumschlagseite von Helmut-Newton-Fotos geschmückt, eine von Seitters ästhetischen Privatobsessionen; die anderen sind Anselm Kiefer und – Syberberg. Seitter glaubt an Präzision, an analytisches Durcharbeiten („nicht Theorie, nicht spekulative Alleswisserei, sondern Arbeit ….“26). Seitter glaubt an das eine gute und richtige Zeichen für einen Sachverhalt wie an die Deutlichkeit seiner Artikulation. Daher kann man auch davon ausgehen, daß das Wort „rechten“, das dekliniert sowohl von „rechts“ wie von „recht“ kommen kann, nicht umsonst in seiner Doppeldeutigkeit im Titel seines Aufsatzes „Vom rechten Gebrauch der Franzosen“ vorkommt27; um nämlich auch eine politische Richtung anzugeben. An diesem Aufsatz ist manches verwunderlich, gerade auch, was nicht im Zentrum der Argumentation steht. Daß der Österreicher Seitter, der Österreich gerne das „Südosteck des Deutschen“ nennt, den Deutschen einen „Ethnozentrismus“ empfiehlt, den er wieder als Applikation der Foucaultschen „Ethnologie der eigenen Kultur“ geadelt wissen will und als deren Musterbeispiele er, neben den eigenen Arbeiten zu den Nibelungen, Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels nennt, ist die bislang edelste S-Klassen-Version des vertrauten Liedes „Die Amis haben uns unseren Hölderlin/Bratwurst weggenommen und durch Negermusik und Hamburger ersetzt“. Der überall gedeihende deutsche Ethnozentrismus, der sich nicht darum schert, wie zweifelhaft es ist von ausgerechnet den Deutschen als einer Ethnie zu sprechen, sondern in der Regel ex negativo und mit Baseballschlägern oder FAZ-Leitartikeln dekretiert, wer oder was nicht deutsch ist (oder „Makroorganismus“ statt Mensch, wie Reißmüller formuliert), kommt dabei ohne Benjamin aus. Doch auch Seitter wird bald deutlicher: In der neuen Nummer der von ihm (mit Kamper und Böckelmann, dem alten Schillern-Team also) herausgegebenen Zeitschrift Tumult zum Thema „Osten“ sind es „heftig riechende Türken“, die seiner Meinung nach nichts am Brandenburger Tor verloren haben.

Dem ging durchaus eine Entwicklung voraus: Noch im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Anthologie von Foucault-Interviews, Von der Subversion des Wissens, billigt Seitter Foucaults Freundschaft zu Althusser und begründet Foucaults Austritt aus der KP ausdrücklich mit deren „staatstragender“ Funktion“28, also als eine Art linke Dissidenz. Jetzt gibt er nicht nur dem neuen deutschen Staat Ratschläge zu dessen innerer Architektur, er spielt dafür auch Foucault mit Eribons Biographie und der darin berichteten Entzweiung mit Gilles Deleuze – bei der es immerhin um die Einschätzung der RAF ging; ob man sie nämlich vorbehaltlos unterstützen soll (Deleuze) oder „nur“ dafür sorgen, daß ihre Mitglieder in Frankreich politisches Asyl (Foucault) erhalten – als Deutschenfreund gegen dessen weniger deutschenfreundlichen Freund Gilles Deleuze aus: Foucault habe Erhards „Soziale Marktwirtschaft“ gewürdigt und sich gegenüber Deutschland von einem „ängstlichen Optimismus“ leiten lassen. Schließlich entledigt sich Seitter en passant der zweitbekanntesten Frankfurter-Schule-Wahrheit – „Wer vom Faschismus spricht, muß auch vom Kapitalismus sprechen.“ (Horkheimer) –: In einer Fußnote versteckt er lapidar die Entlarvung des deutschen Fehlers Antikapitalismus: „Auch der klassische Antisemitismus ist ein Antikapitalismus – ein besonders dummer. Dies vorläufig auch zum Antifaschismus.“ Eine andere Ungeheuerlichkeit wird ebenfalls an einer relativ unauffälligen Stelle versteckt. Dort definiert Seitter Politik als „ Apartheit: die Installation von Verhältnissen zwischen Fremden“. Soll auch hier über die Fast-Homonymie des für die deutsche Sprache neu erfundenen Wortes „Apartheit“ konnotiert sein, daß auch die „ Apartheid“, die man kennt, gar nicht so schlimm, nämlich auch nur Politik war? Und was von der Ablehnung staatstragender Veranstaltungen und der Sympathie für schwarze Fahnen geblieben ist, wenn er in Bonn „das klassische Minimum an politischer Kapazität“ vermißt, einen „Staatsmann“ nämlich, wird klar: nur der Name Foucault.

In den sozialdemokratischen späten Siebzigern war Foucault auch in Deutschland noch links und sei es anarchistisch, heute liefert er die Modelle für „Genealogie“, „Archäologie“ oder „Ethnologie“ der wiedermal neu geborenen Nation. In Amerika ist er der meist zitierte Autor linker, feministischer und antirassistischer Autoren vom kunsttheoretischen bis zum aktivistischen Spektrum. Man fragt sich natürlich, was jetzt, wo Foucaults populärstes Motiv vom „Mensch“ als mehr oder minder repressives Konstrukt des Humanismus zum Zwecke seiner besseren Versklavung und Ausbeutung nicht mehr so viel hergibt, weil Produktionsweisen sich etablieren, die ganz und gar auf den „Menschen“ in allen seinen Fassungen verzichten können, mit seinen Anhängern passiert und ob sie seine Kritik und Beschreibung der Macht noch einmal mobilisieren können, so wie damals, als sie noch selber gegen eine sozialdemokratisch-bürokratische Macht vorgingen.

Man könnte Seitters Schillern immer noch mit viel gutem Willen für die eklektizistischen Entgleisungen eines provokanten Privatgelehrten halten, dessen Springen zwischen den Referenzen und Vorliebe für überraschende Übertragungen einem als Methode einmal sympathisch waren und der zitierenderweise immer noch genausoviel auf einen Aufsatz eines nominell linken Autors wie Wolfgang Pohrt zu geben scheint. Daß aber dieser Aufsatz29, der die, dem Thema „Franzosen“ gewidmete, Nummer 15 der Zeitschrift Tumult eröffnet, zuvor schon in der Nummer 6 der Zeitschrift Etappe erschienen ist, ist dann doch leider ziemlich deutlich. Die Etappe ist ein Organ, das seine rechtsradikale Position, wenn auch durch Rezensionen von Seitter, Lipowatz, Foucault etc. aufgelockert, so wenig verbirgt, wie sein gelegentlicher Autor Maschke. Hier gilt jeder zweite Artikel dem Werk Carl Schmitts, Anzeigen werben für Produkte des Karolinger-Verlags, der dem Militärhistoriker und Matthes-Autor Jean-Jacques Langendorf gehört und in dem unter anderem der berüchtigte Hitler-Komplex erschienen ist, ein Buch, das diesen „Komplex“ der Deutschen für verhängnisvoller hält als seine Ursache, und manchmal stößt man auch auf Formulierungen wie „gewisse Philosophen jüdischen Geblüts“. Was machen Foucault und sein Übersetzer in dieser Umgebung?

Ernesto Laclau schreibt 1990: „An initial reaction to this new intellectual climate has been to become entrenched in the defence of ‚reason‘ and attempt to relaunch the project of ‚modernity‘ in opposition to those tendencies considered ‚nihilistic‘. The work of Habermas is perhaps the most representative of this attitude. Our position, however, is exactly the opposite: far from perceiving in the ‚crisis of reason‘ a nihilism which leads to the abandonment of any emancipatory project, we see the former as opening unprecedented opportunities for a radical critique of all forms of domination, as well as for the formulation of liberation projects hitherto restrained by the rationalist ‚dictatorship‘ of the Enlightment.“30 Dies hätte in Deutschland wohl 1978, aber kaum noch 1990 geschrieben werden können: Die Verbindung einer Vernunftkritik mit emanzipatorischen Projekten wird schon allein deswegen nicht mehr gedacht, weil sie kaum je stattgefunden hat. Habermas wird dagegen mit Geifer und Seiber von rechts kritisiert. Der Widerstand in den Städten ist während der Achtziger in dem Maße theoriefeindlicher und sprachloser geworden, wie die Vernunftkritik bestenfalls zur Depolitisierung, schlimmstenfalls zur Rechtsradikalisierung einer Intellektuellengeneration beigetragen hat. Die alte Marxsche Diagnose von der philosophischen Zeitgenossenschaft der Deutschen, die auf keiner historischen fußt, trifft einmal mehr zu. Weder minoritäre noch gegenkulturelle noch feministische oder antirassistische Bewegungen haben in Deutschland jenseits von grünem Öko-Kitsch und schlichter Friedensbewegtheit in den Achtzigern Fuß fassen (von einigen wenigen, aber marginalisierten autonomen Zentren abgesehen), geschweige denn sich mit einem vernunftkritischen Befreiungskonzept verbünden können. Die „nihilistischen“ drei Ps (Punk, Poststrukturalismus, Postmoderne) haben nur aus Erfahrung und Erinnerung getilgt, was sie einst korrigieren und auf die Höhe der Zeit bringen sollten/wollten: eine frigide und rigide Emanzipationskultur und deren Ursachen. Aber nicht einmal ihre Vorläufer waren gesellschaftlich geerdet; die eine politische Hysterie ließ sich leicht gegen eine andere austauschen, man mußte nicht einmal seine Philosophie wechseln. Heute wundern sich deutsche Professoren, daß und wieso Derrida und Foucault in den USA für den Kampf der Feministinnen oder der African-Americans genutzt werden. Die einzigen prominenten Foucault-Rezipienten der deutschen Linken fand man bei der RAF, die in ihren letzten Erklärungen dessen Begriff der Gegenmacht verwendete.

Hubert Winkels hat bei seiner Recherche (vgl. Anm. 4) auch eine Fülle persönlicher Beziehungen zwischen der offenen und der Kultur-Rechten entdeckt, die im einzelnen wiederzugeben zu weit führen würde. An entsprechenden Nachschlagewerken wird ja ohnehin zur Zeit überall gearbeitet.31 Tatsächlich läge es mir trotz allem fern, Seitter direkt neben Syberberg einzusortieren, man kann hoffen, daß der Weg von der „Poesie“ des Mai zur Veröffentlichung in der Nachbarschaft des gewöhnlichen Antisemitismus ein Irrweg des Rechtsfoucauldianers ist, der typisch ist für unübersichtliche Zeiten und mangelnde Erdung; während Syberberg schon vor einer Weile in Sphären abdriftete, wo er auch für das Schmettern des gallischen Hahns nicht mehr erreichbar war.

Durch die Konfrontation mit solchen Erscheinungen wird man auf Positionen zurückgeworfen, die man für überflüssig oder selbstverständlich gehalten hat. Ärgerlich ist eben, daß genau die Expedition in eine Zeitschleife geraten ist, deren Aufbruch nicht nur vielversprechend war, sondern tatsächlich um 1980 weltweit synchron das zu veranstalten oder zu weben schien, was Lyotard so optimistisch das „Patchwork der Minderheiten“ nannte. Es scheint aber, daß die Minderheiten, die sich neu und künstlich definierten, die Tribes der Gegenkulturen, im Laufe der Zeit in ein Patchwork nicht mehr geerdeter Abschottungen und (frei- wie unfreiwilliger) Ausgrenzungen gerieten, eben nicht im Besitz von Definitionsmacht sind, nicht im Besitz von symbolischer Macht wie sie dagegen die Vokabel „links“ oder später oder in Amerika „p. c.“, also politically correct, immer noch hat.

Auf die Veröffentlichung einer ersten Fassung dieses Textes bekam ich aus wohlmeinend postmodernen Ecken öfter den Vorwurf zu hören, ich würde einer überholten Rechts/Links-Differenz das Wort reden, die in das gleiche System terroristischer Binaritäten gehört wie weiß/schwarz, Mann/Frau etc. Nun denn: die Linien und Fronten, die sich bei der Nachzeichnung einiger „poststrukturalistischer“, „frankophiler“ deutscher Schicksale ergeben, verdienen vielleicht einen neuen Namen, für den ein spezifischer Kulturpessimismus, ein Traum von Ursprünglichkeit und Echtheit, ein Affekt gegen elektronische, multikulturelle und „ausländische“ Künste die Bauelemente bilden. Wenn Seitter im Namen auch Foucaults ein „rationales, stabil-flexibles Verhältnis zur Macht“ fordert, „verbrecherische Regimes“ nur im ehemaligen Osten sieht und in Bonn „einen Staatsmann“ von echtem Schrot und Korn haben will, steht er in der Reihe zu Recht nicht zur Linken gerechneter deutscher Publizisten, die eine Nation handlungsfähig machen und normalisiert sehen wollen, indem sie für „normal“, „deutsch“ und gesund auch das erklären, was man früher „nationalistisch“ oder auch „rassistisch“ genannt hätte. Und während der eine Flügel von Normalisierung spricht, entwirft der andere die Krise der Kultur und der Zivilisation, die halt die Verschärfungen notwendig mache. Vom Spiegel bis zu Reißmüller sind sie sich einig, daß nun Schluß mit lustig ist: Ausländer, Gewaltvideos, Graffiti und Obdachlose bedrohen das Land.

Als „re-eduzierte“ Kinder eines nur begrenzt, nämlich „nur“ ökonomisch handlungsfähigen Deutschlands hat meine Generation die Chance gehabt, Ethik (und was sie verbietet: Verbrechen) auch dann noch primär global anzusetzen, wenn der Weltausbeutungszusammenhang noch so „komplex“ die Wahrnehmbarkeit globaler Verbrechen vernebeln konnte. Einem weitgehend nicht einmal mehr ausbeutungsfähigen, und daher ganz unauffällig gewordenen Kapitalismus läßt sich dann gut im Namen von Dumézil und Foucault der deutsche Ethnozentrismus und der „verständige Beitrag (Deutschlands) zur Gestaltung einer Erdmacht namens Europa“ (ebenfalls ein running gag, auch bei bekennenden Rechten: immer, wenn der nationalistische Expansionismus und Hegemonie-Anspruch zu offensichtlich wird, ordnet man sich in Europa ein, das so immer mehr zu einem neuen Namen für Großdeutschland wird; nicht umsonst heißt die älteste der heute verbreiteten Rechtszeitschriften Europa und Nation) verordnen. Der Grundgedanke ist so simpel, wie in letzter Zeit weit verbreitet in allen möglichen Segmenten deutschen Schrifttums: nicht Selbstbezogenheit, Nationalismus, Hegemoniestreben etc. seien Deutschlands Problem, sondern, so Seitter, „Selbstvergessenheit“. Die Deutschen tendierten zur Flucht, zur Exotik, statt endlich normal und politikfähig zu werden.

Von Weglaufen vor der Identität war dann auch in Oberhausen immer die Rede: Du kannst nicht vor deiner Identität als Deutscher davonlaufen. In München hörte ich neulich am Nebentisch eine Frau über mehrere Minuten insistieren: Du kannst nicht vor deinen Genen davonlaufen. Das in rechten Kreisen so überaus erfolgreiche Buch heißt Rückruf in die Geschichte – Volker Rühe empfiehlt es den Lesern der Welt, die neo-völkischen bauen ihr Weltbild daraus auf –: das heißt, wir haben uns um unsere Pflicht gedrückt oder wie wieder die Welt neulich schrieb, wir sollten uns wieder klarmachen, daß Osteuropa deutsche Interessensphäre so sei wie Lateinamerika die der USA. Imperialismus ist die normalste Sache von der Welt, und wir müssen endlich wieder normal werden. (Schleyer und die Seinen aus der deutschen Vor- und Nachkriegswirtschaft müssen sich im Grabe umdrehen, wenn sie immer zu hören bekommen, daß sie’s nicht ernst gemeint haben mit dem Imperialismus.) Folglich widmet sich dann die Nr. 17 der Zeitschrift Tumult, erschienen 1993 dem Thema „Osten“. Da wird dann aus dem Criticón, der von Jüngers ehemaligem Privatsekretär Mohler – der Maharishi der Rechten – herausgegebenen Zeitschrift, zitiert, „Carl Schmitt, kein geringerer als der lang Verdrängte“ angehimmelt und sein geopolitisches Vokabular über die „lang verdrängten“ Themen gegossen. Seitter phantasiert von den zwei deutschen Hauptstädten, und Kamper heideggert durch den deutschen Osten, daß selbst ein Hermann Kurzke in der FAZ das Heft „zu rechts“ fand (immerhin ein Mann, der schon mal kommentarlos Michael-Kühnen-Thesen als erwägenswert referierte). Immerhin hat „Osten“ gezeigt, wozu die Befreiung von der „Litanei Marx, Marx“ auf deutschem Boden immer noch führt, auf östlichen Boden, zur Schmittschen Geopolitik, zu „Ortung und Ostung“. Wer will da nicht wegrennen?

Wer das aber tut, kriegt zu hören, „daß man über die deutschen Vorgänge nur mit denen sprechen kann, die sie auch innerhalb Deutschlands selbst erlebten. Nur die, die durch die Spannungen der letzten Monate hindurchgegangen sind, die von Stunde zu Stunde, von Zeitung zu Zeitung, von Umzug zu Umzug, von Rundfunkübertragung zu Rundfunkübertragung alles aus unmittelbarer Nähe miterlebten, Tag und Nacht mit ihm rangen, selbst die, die das alles nicht jubelnd begrüßten, sondern es mehr erlitten, mit diesen allen kann man reden, aber mit den Flüchtlingen, die ins Ausland reisten, kann man es nicht. Diese haben nämlich die Gelegenheit versäumt, den ihnen so fremden Begriff des Volkes nicht gedanklich, sondern erlebnismäßig, nicht abstrakt, sondern in gedrungener Natur in sich wachsen zu fühlen …“32 Nein, das war vor sechzig Jahren, aber so ähnlich. Der Autor dieser Zeilen hat schließlich auch ca. zwanzig Jahre vor diesen Worten ein „Modernes Ich“ entworfen, das für seine Zeit einen ähnlichen „poststrukturalistischen“ Aufbruch darstellte wie für die späten Siebziger das „Schillern der Revolte“. Diese Flüchtlinge, denen man dann in der Nachkriegszeit nur sehr zögernd und eigentlich erst in den siebziger Jahren Gehör schenkte, haben aber Nachfahren gehabt. Leute, die in der Nachkriegszeit aufwuchsen und deren Orientierung pro-amerikanisch oder pro-sowjetisch war und für die die deutsche Sprache auch ein Mittel war, ihr selbst zu entkommen. Leute, die dieser Sprache das Maximum an Neuheiten und Fremdheiten aufbürden wollten, das man noch sinnvoll in ihr sagen konnte. Und einige machten auch die Erfahrung, daß schlecht gesungenes Englisch Wahrheiten für und über Deutschland zutreffender und richtiger ausdrücken konnte als deutsche Sätze. Die besten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit waren solche Flüchtlinge, Hubert Fichte und Rolf Dieter Brinkmann. Fichte, seit 1970 praktisch nur noch auf der Südhalbkugel unterwegs, Brinkmann, der möglicherweise gegen Ende seines Lebens geistig wieder ein Deutscher geworden war, hatte auf literarischer Ebene die Spritze nordamerikanische Kultur injiziert, die das Leben in der BRD erträglich gemacht hat (und teilweise aus amerikanischer Kultur wegen doppelter Fremdheit mehr machte als die USA). Wenn überhaupt, dann verdient dieser brd-deutsche Zug als der bessere eine „Ethnologie“: die Emigrationen und die aus der Differenz und Distanz zum „Eigenen“ entstandenen Beiträge; gegen ein Schrifttum, das nun von deutschen Emigranten so wenig hören will wie die deutschen Politiker und die gewöhnlichen Reaktionäre, die sie regieren, von Immigranten. Doch ist von denen nicht die Rede, ob es sich nun um diejenigen handelt, deren Denken auf dem Geflohensein vor den Nazis aufbaut oder um die wenigen angenehmen Gestalten der deutschen Nachkriegsliteratur, die, wie Fichte oder Brinkmann, eine deutsche Literatur auf der Flucht vor dem und den Deutschen entwarfen.

Einer der unangenehmsten Nachkriegsschriftsteller, Deutschlands Staatstheaterautor Botho Strauß, der unlängst auch einmal bei Matthes & Seitz veröffentlichte, schrieb das Nachwort zur deutschen Ausgabe des Steiner-Essays, darin bekennt er sich zu dem „spirituellen Reaktionär“ (Selbsteinschätzung) Nicolás Dávila, dessen Name ebensooft in der Etappe oder im Pfahl gedroppt wird. Solchen Connections nachzuspüren mag mir bei der ersten Fassung dieses Textes vor drei Jahren noch der Tätigkeit eines Staatsanwaltes zu ähnlich erschienen sein. Verdächtigendes Lesen und Faschismusverdacht haben wir nur zu oft – damals als Punkrocker – als Methode der sozialdemokratischen Soziologenmacht kennengelernt; doch solange sich die „Rechten“ hinter Ambiguitäten verbergen, bleibt einem nichts anderes übrig. Verhindern konnten wir nichts: Das Bekenntnis zum Reaktionär Dávila, der eklig-elitistische Gestus, der bittere, enttäuschte Ton riefen erst das öffentliche Interesse hervor. So krönte der mittlerweile weltberüchtigte „Abschwellende Bocksgesang“ von Botho Strauß eine Reihe von Artikeln im Spiegel von 1993, über die Manfred Hermes zu Recht schrieb, man hätte mit ihnen „eine Debatte über entartete Kunst führen können.“33 In einer Titelgeschichte über den allgemeinen Verfall der Sitten ging es in einer Allgemeinheit gegen Sex & Violence, daß man schon glaubte, bei Christ und Welt gelandet zu sein. Doch der nachgelieferte Kontext stellt die Bedeutung auch dieses Textes klar: Strauß’ offenes Bekenntnis zur Rechten nebst Entdeckung der „Würde der Zigeunerin“, die Entsorgung Foucaults als S/M-Philosophen auf allerniederstem, homophobverklemmtem Niveau, eine offen homophobe, mieszynelnde Attacke des unglückseligen Matthias Matussek gegen p.c. und die Whitney-Biennale, gegen die man alles mögliche sagen kann, nur nicht, wie Matussek, daß politische Kunst mit der Aufhebung der Sklaverei und Schleierpflicht erledigt sei. Deutschland muß sauberer werden, und die Würde der Zigeunerin beim Betteln darf auf keinen Fall durch Sozialhilfe verletzt werden.

Das heißt noch nicht, daß in der Chefetage der Befehl zum Rechtsruck des Spiegels laut geworden sei, neben den genannten und an exponierter Stelle, meist als Aufmacher des Feuilletons gedruckten Texten, erscheint immer noch the average linksliberale Besserwisserei: Der Rechtsruck wird nicht gemacht, sondern nur nicht mehr verhindert, und zwar von einer Generation, die genau in den achtziger Jahren flügge geworden ist, als man sich in Deutschland poststrukturalistisch linker Positionen entledigte. Ausgerechnet im Playboy windet sich Nichtmehrsoganz-Spiegel-Mann-Karasek, als er mit den neueren Entwicklungen in dem Hause, dem er so lange verbunden war, konfrontiert wird. Er distanziert sich von Strauß, rechtfertigt aber mehr oder minder die ganze Richtung als „Dokumentation“ von „Zeitgeist“, quasi als korrekte journalistische Reaktion auf das, was anliegt: dokumentieren. Diese blinde, konkurrenzdruckgeförderte, journalistische Neugier und die Scheu gebrannter ex-maoistischer Verleger und Uni-Lehrer vor „verdächtigender“ Lektüre und Parteiausschlüssen bilden das Sprungbrett, von dem aus die Rechten sich ins öffentliche Interesse katapultiert haben. Als Thema sind sie hot und kontrovers (und kontrovers ist immer gut), als Typen sind sie Querdenker und irre originell, und wenn sie über die Stränge schlagen, ist das entweder eine Provokation oder eine Zweideutigkeit, der erst mein verdächtigendes Lesen einen eindeutigen Sinn gegeben hat.

Da, anders als in Amerika Bataille und Foucault in Deutschland keine Autoren geworden sind, die von neuen „Emanzipationsbewegungen“ (oder wie immer man sie nennen will) gesellschaftlich geerdet und fruchtbar gemacht worden sind, hat ihre Rezeption im günstigsten Falle eine Depolitisierung, im ungünstigeren, von dem hier die Rede war, eine Rehabilitierung rechter Positionen möglich gemacht. Bataille hat nicht Syberberg gemacht, aber eine Linke, die ihn Matthes & Seitz überlassen hat, hat ihn für die Herstellung eines Klimas freigegeben, von dem Syberbergs Publikation und seine und seinesgleichen spätere „kontroverse“ Prominenz profitieren konnten. In diese neue Front konnten auch aus dem Zusammenhang gerissene Reste Adornos miteingeschmolzen werden: denn alle neuen Rechten eint ein Horror vor Massenkultur, Gegenkultur, Pop und vor allem amerikanischer Kunst (die entweder politisch oder frivol ist. Oder gar beides): Jeff Koons ist ihnen der Scheitan, die obskure Alt-Nazi-Gazette namens Europa und Nation empfiehlt genau gegen seine und Warhols „Exkrementenkunst“ Syberberg als Gegenmittel. Die Affekte von Jungnazi-Bands gegen McDonald’s entsprechen hochmögenden Talk-Show- oder Reeducation-Verwünschungen durch Botho und Bergfleth so, wie der Ruf des Spiegels nach einer sauberen Mattscheibe dem Anti-Päderasten-Song, den es eben außer dem Anti-McDonald’s-Song auf allen indizierten sogenannten Rechtsrock-Platten gibt.

Diese massive ideologische Aufrüstung von rechts existiert 1.) über alle möglichen Grenzen hinweg; sie spricht 2.) grundsätzlich – im Fernsehen wie in der Schrift – von einem minoritären Ort aus gegen eine behauptete linke Hegemonie; sie vermeidet 3.) Festlegungen, redet gar Jive: Wenn Seitter von dem „Politischen“ redet, erklärt er nicht, welchen Politikbegriff er meint oder warum „unpolitisch“ sei, wer nicht Berlin aufrüsten will, die Eingeweihten wissen, wie’s gemeint ist. Aus diesen Gründen konnte „rechts“ für diverse „dissidente“ Typen attraktiv werden. Da die Betonung von Besonderheiten, Unterschieden, „ethnischen Besonderheiten“ ebenso zur Grundausstattung der rechten Diskurse gehört wie ein Affekt gegen Internationalismus, Amerikanismus, ja sogar mitunter Kapitalismus, ist es kein Wunder, daß diese Rechten schließlich einerseits Therapie für so manch erfolglosen 68er-Akademiker, Langzeitdissidenten boten wie auf der anderen Seite Abgrenzungsmöglichkeiten für Mittzwanziger gegen die Altvorderen. Anders als Bundesministerin Merkel, die ihren verlorenen Schäfchen Jugendzentren baut, sollte man aber hier nicht versuchen, durchs Miteinanderreden weiter zu kommen. Sollen die sehen, wie sie da rauskommen. Sie waren gewarnt.

  1. Diedrich Diederichsen, „Todesblei – Get out of Germany“, in: Spex, 1/91. ↩︎
  2. Hans-Jürgen Syberberg, Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege, München 1990. ↩︎
  3. Denis Hollier, „On Equivocation (Between Literature and Politics)“, in: October, 55/90. ↩︎
  4. Diese und andere Informationen verdanke ich einem unveröffentlichten Manuskript von Hubert Winkels, aus dem Auszüge in der Zeitschrift Tempo im Oktober 1990 erschienen. ↩︎
  5. Syberberg, Unglück, a.a.O., S. 14. ↩︎
  6. B. Mattheus/A. Matthes (Hrsg.), Ich gestatte mir die Revolte, München 1985. ↩︎
  7. Axel Matthes, „Achtung vor der Revolte“, in: Mattheus /Matthes, Ich gestatte, a.a.O., S. 384. ↩︎
  8. Matthes, Achtung, a.a.O., S. 371. ↩︎
  9. Syberberg, Unglück, a.a.O., S. 17. ↩︎
  10. Axel Matthes, „Spiesser- und Mitläufertum bei Intellektuellen“, in: Der Pfahl – Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft, 5/91. ↩︎
  11. Frank Böckelmann, Dietmar Kamper, Ellen Künzel, Michael Makropoulos, Robert Müller, Ulrich Raulff, Walter Seitter, Das Schillern der Revolte, Berlin 1978. ↩︎
  12. Walter Seitter, „Strukturalistische Stichpunkte zur Politik“, in: Böckelmann et.al., Schillern, a.a.O., S. 85. ↩︎
  13. Müller/Makropoulos, „Das Schillern der Revolte“, in: Böckelmann et.al., Schillern, a.a.O., S. 19. ↩︎
  14. Gerd Bergfleth et.al., Zur Kritik der palavernden Aufklärung, München 1984. ↩︎
  15. siehe Anm. 4. ↩︎
  16. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. ↩︎
  17. Maschke veröffentlichte dann noch einmal 1988 bei Matthes & Seitz im Verlagsalmanach Der Pfahl, 2/88. Staunend entnimmt man dem Impressum, daß sein Aufsatz „Die schöne Geste des Untergangs – Drieu La Rochelle – ein faschistischer Decadent“ bereits 1980 in der FAZ erscheinen konnte. ↩︎
  18. Gerd Bergfleth, „Finis Mundi“, in Der Pfahl, 5/91, S. 8. ↩︎
  19. zitiert nach Wolfgang Schneider, „Deutsche Manifeste“, in Spex, 5/90, S. 74f. ↩︎
  20. Rolf Grimminger, Die Ordnung, das Chaos und die Kunst, Frankfurt am Main 1990, S. 267f. ↩︎
  21. Syberberg, Unglück, a.a.O., S. 114f. ↩︎
  22. Geert Lovink & Basjam Van Stam, „The Souring Of Old Art“, in: Mediamatic 2-3/91. ↩︎
  23. Syberberg, Unglück, a.a.O., S. 169. ↩︎
  24. Walter Seitter, Das politische Wissen im Nibelungenlied, Berlin 1987; und derselbe, Versprechen, Versagen – Frauenmacht und Frauenästhetik in der Krimhild Diskussion des 13. Jahrhunderts, Berlin 1990. ↩︎
  25. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses), S. 454, Frankfurt am Main 1974². ↩︎
  26. Seitter, Versprechen, a.a.O., Klappentext. ↩︎
  27. Walter Seitter, „Vom rechten Gebrauch der Franzosen“, in: Tumult, 15/91. ↩︎
  28. Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, München 1974, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walter Seitter. ↩︎
  29. Alle Zitate und Referenzen beziehen sich auf Anm. 27. ↩︎
  30. Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London und New York 1990. ↩︎
  31. z. B.: Astrid Lange, Was die Rechten lesen, München 1993; H.Joachim Schwagerl, Rechtsextremes Denken, Frankfurt am Main 1993; oder Wolfgang Kowalsky, Kulturrevolution? – Die Neue Rechte im neuen Frankreich und ihre Vorläufer, Opladen 1991. Kowalsky ist allerdings – ob freiwillig oder unfreiwillig ist nicht ganz klar – selbst zum Lieblingsautor der neuen Rechten geworden, gehört er doch zu denen, die an anderer Stelle den Mythos einer noch bestehenden linken kulturellen Hegemonie beliefern. Keines dieser Bücher stellt den Zusammenhang zwischen offenen und Kulturrechten oder gar Underground-Rechten her: Die Attraktivität des Rechtsradikalismus für Künstlertypen sollte doch seit seinem bekanntesten Vertreter sich als Untersuchungsgegenstand anbieten. ↩︎
  32. Gottfried Benn, „Antwort an die literarischen Emigranten“, Gesammelte Werke, Band 7, Wiesbaden 1968. ↩︎
  33. Manfred Hermes, „Wer spricht? – Verkennung in Deutschland“, in: Spex, 5/93. ↩︎