SST – Dossier

Zwei Leute sehen ein, daß man mit Musik alleine noch keine gute Musik machen kann, und stürzen sich auf Distribution, Labelpolitik, Durchsetzung in der wirklichen Welt, ohne aufzuhören Musiker zu sein. Mit SST verwirklichten Greg Ginn (Black Flag, Gone, Tom Trocoli’s Dog) und Chuck Dukowski (Würm, Black Flag, SWA) die poppolitischen Ideen der achtziger Jahre auf breitester Front und mit ungeahnten Ergebnissen. Die beiden Musiker stecken seit einem Jahr mit der größten Veröffentlichungsflut, die je ein Indie gesehen hat, die Möglichkeiten für eine neue Musik ab. Jutta Koether traf Pat und Patachon am Rande des New Music Seminars. Dossier: Diedrich Diederichsen.

There is a question / existing in our minds / simple solutions / always so hard to find / two choices you lay down and die / or you look fate straight in the eye / don’t be afraid to take your chance / let them know you’re still alive …

Dieser Text ist aus „Sine Cosine X“ von SWA. SWA ist die Band von einem der beiden Köpfe von SST, dem amerikanischen Independent-Label, das mehr als jedes andere seine Chancen ergriffen hat, das nun seit fast zehn Jahren wissen lässt, daß da etwas am Leben ist, was aufs Feinste und Komplizierteste gezüchtet, verfeinert und erweitert wird, das über jede kleinliche Plattenpolitik hinausgeht, im Dienste der Musik stehen soll. So sagt nicht nur SST, sondern so manifestiert es sich in seinen stetig sich steigernden Veröffentlichungen neuer amerikanischer Bands, wie auch darin, daß sie mehr als jedes andere Label den Beweis erbringen und erbracht haben, daß es doch geht; gute, neue Musik verbreiten, Leute erreichen, und das im Top-40-Land USA und mit der „Industrie“ im Nacken (auch auf SST bekannt gewordene Bands sind ja schon zur Industrie abgewandert – wie Hüsker Dü, Soundgarden, Dinosaur Jr., Blind Idiot God, hinzu kommt der Krach mit Henry Rollins und gerüchteweise auch mit Sonic Youth). Doch die Chefs Greg Ginn und Chuck Dukowski zeigen sich ungebrochen, sind im Gegenteil dabei, mehr und mehr Fluten von neuen Platten herauszubringen, die dazu eine ungeheure Bandbreite innerhalb der weißen amerikanischen Rockmusik (bis auf die Ausnahmen H.R. und Ras Michael) abstecken.

Alles, alles, was in dem inzwischen auf 30 Mann Angestellte angewachsenen Betrieb in Lawndale, Kalifornien (das ist die Hafengegend von L.A.), herausgebracht wird, beruht auf dem Denken, Treiben, Willen, Zusammenspiel, den Erfahrungen und dem Selbstbewusstsein von diesen zwei Leuten, die ihre Entscheidungen als Musiker fällen, auch die geschäftlichen, für die Labelpolitik und Musik von ihnen selbst so miteinander verflochten worden sind, daß man sagen kann, sie betreiben ihre Arbeit als Labelchefs als eine direkte Erweiterung und Fortführung ihrer Musik, aufbauend also auf Black Flag, bei denen sie beide gleichermaßen beteiligt waren (auch wenn Dukowski schon relativ früh ausstieg, so lieferte er noch immer Kompositionen, Texte, Ideen, vor Flag hatte er Würm, eine legendäre Underground-Band, die seit ’72 existierte und die er 83 für LP-Aufnahmen kurz wiedervereinte, und später SWA; und Greg Ginn war der einzige Junge in Hermosa Beach, der lieber über Musik diskutierte als Skateboard zu fahren oder zu surfen, und der sich bei den legendären frühen Flag-Sessions regelmäßig von Jekyll zu Hyde verwandelte, im irren Tempo der Zeit, wie der erste SST-Hausproduzent, der schwarze Spot, berichtet, der in den Achtzigern dann Flag fast alleine führte, bevor er Gone gründete und mit Tom Troccoli’s Dog jammte. Immer wieder trafen sie sich bei Projekten, wo sie sich mit anderen wichtigen SST-Trägern musikalisch austauschten (October Faction), auch wenn fast niemand außer den Beteiligten (und Diedrich) letzteres Projekt, das zwei Platten abgeworfen hat, zu schätzen weiß.

Doch die Zusammenarbeit von Greg Ginn und Chuck Dukowski ist am besten sichtbar gewesen in Black Flag, wo Ginn als Prototyp des länglich-dünnlichen Gitarristen die Seele der Band verkörperte, und der kleine runde Chuck Dukowski mit dem Bass alle wichtigen Vorgänge markierte. Beide bestimmten dann immer, welcher Sänger in ihrer Band singen könnte. Auf diesem Weg wurde unter anderem Henry Rollins entdeckt. Was aber erst einmal viel wichtiger war, auf diesem Weg: Im eisernen Zusammenhalt von Ginn und Dukowski und im Glauben an die Wichtigkeit ihrer Musik entstand SST, entstand ein Netzwerk, das Freiheit fordert, Gleichheit auf radikale Weise praktiziert und dabei gleichzeitig eine Art amerikanischer Wertarbeit herstellt, wie sie in der Dichte sonst kaum in diesem Land zu finden ist. „He who trades freedom for security deserves to lose both“ (Georg Washington, zitiert auf der ersten October-Faction-LP) Daß ihr Freiheitsbegriff nicht das Gutheißen von haltlosem, relativierendem Pluralismus meinen kann, versteht sich, man braucht sich ja nur Black Flag anzuhören, um zu verstehen, wie es gemeint ist: Ginn und Dukowski sind immer bereit zu reden, doch das Erklären der ganzen Sache, das Aufdecken von allem, verbietet sich ihnen, ähnlich wie auch ein normaler Künstler niemals alles offenlegt, remember – für diese Jungs ist das Geschäft Musik, nicht umgekehrt, wie bei allen anderen, dafür aber bietet es verschiedene Anhaltspunkte, an denen dann ein Konzept, viele Konzepte, Gedanken, ablesbar, aber längst nicht abgeschlossen sind, weil sie ja mitten in einem Leben stehen, das aus zig Musikern und Tapes und Platten und Touren und Konzerten bis hin zum T-Shirt-Versand besteht.

Eines der schönsten Dinge, die ich gesehen habe bei Ginn und Dukowski, war, daß sie bei den NMS-Tagen in N.Y., als jeder Plattenfirmenbetreiber, bis zu den kleinsten, auf den Socken war, herumwieselnd, hektisch, umtriebig, aufgeregt, den größten Teil ihrer Konzentration und Anspannung dem Betrachten ihrer Bands bei den diversen SST-Nächten widmeten. So in der Mitte des Raumes stehend, applaudierend, zustimmend mit dem Kopf nickend; und obwohl beide 34 sind und meist tappige T-Shirts tragen, hatte ihr Auftreten als SST-Chefs etwas Königliches. Davon abgesehen, taten sie ihr Bestes als Orientierungshilfe für ihre Bands. Die meisten SST-Bands brauchen allerdings keine; trotz all ihrer Unterschiedlichkeiten – es spielten in einer Nacht die experimentelleren, instrumentalen Bands wie Elliott Sharp, Alter Natives, Lee Ranaldo, und in einer anderen die schon bekannten mit Star-Status wie die Meat Puppets, und in einer dritten kommt es zu einem „bunten Abend“ mit dem Folk-Ding am Anfang (Roger Manning, der neue Singer/Songwriter), mit melodischen Westcoast-Sachen von den legendären, wieder aufgetauchten The Last, den unglaublich wundervollen Jazzrockern von Universal Congress Of, den schicken, langhaarigen NYern mit Hard Rock im Kopf Das Damen, mit Sylvia Juncosa – SST-Bands sind niemals verzweifelt oder panisch, wenige neurotisch.

Code/Organisation/Esoteriker-Verein

Chuck und Greg als SST sagen, sie wählen meistens richtig aus, behaupten, daß einer, der wirklich gute Musik mache, einfach kein totaler Idiot sein könne (worüber man wirklich noch mal diskutieren muss …), aber das hat wohl mit ihrer eigenen Musikerehre zu tun. Ich behaupte, sie haben trotz allem ein sehr feines Auswahlverfahren, das darin bestehen soll, daß der angenommen wird, der selbst an sich glaubt und einen Willen hat, ein Begriff, der eigentümlich häufig bei SST vorkommt: Wille – auf Platten wie in diesem Interview, und nicht umsonst hält sich das Gerücht, daß nicht nur Merril Ward, der heute SWA-Sänger ist und mit seiner früheren Gruppe Overkill einen „Triumph Of The Will“ aufnahm, sondern auch Dukowski mit der Bezeichnung Links-Nietzscheaner gut getroffen wären, schließlich soll der SST-Künstler keine Hilfen von einer Firma erwarten, außer dem, was vereinbart ist, was in allen Fällen heißt: keine Vorschüsse, aber ein sehr funktionierendes Netzwerk von Promotion auf allen Ebenen des Underground, sodaß du zumindest im Anzeigenteil von jedem Fanzine vertreten bist; viel, viel Touren und selber auf allen Ebenen Ideen haben, um sie dann aber den beiden vorzustellen. SST ist eine wohlfunktionierende Organisation, das ist die eine Ebene. SST ist aber auch eine Art Code, auf den in Amerika die Leute mit den unterschiedlichsten Meinungen (niemals aber ohne eine Meinung) reagieren. Für manche ist SST ein Esoteriker-Verein oder ein Wahnsinn-Unternehmen, das sich auf den Selbstzerstörungsweg begeben hat (mit quasi-religiösem Fanatismus Platten herausbringt und überall unbezahlbare Anzeigen, jetzt auch bei Spin, schaltet). Jedenfalls werden sie von allen anderen Independents aufs Schärfste überwacht: Wie lange werden die das noch machen? Können Sie wirklich unabhängig und unkorrumpierbar sein? Wie soll das weitergehen?

Interessant ist, daß fast alle Musiker auf SST hinter der Firma stehen, voll und ganz, gerade wegen dieser Verbindung von geschäftlichem Funktionieren und den wahnsinnigeren Aspekten, die sich in dem absoluten Entscheidungsmonopol von Ginn/Dukowski niederschlagen, in deren „Großem Plan“, der nichts Geringeres als das Aufbauen, Hörbarmachen, Begreifbarmachen und Bekanntmachen von neuer Musik meint, ihrem Gleichheitswahn und übergeordnetem Harmoniebedürfnis. Die Musiker halten SST für das Beste, und SST hält erst einmal seine Musiker für das Beste. Intern wohl noch mehr als nach außen hin … Es wird niemand von der Firma gepusht, promotionmäßig hoch getrieben. Jeder würdigt, daß er bei SST die größtmögliche künstlerische Freiheit hat.

„Wir versprechen keiner Band mehr oder weniger als das. Daher werden keine Beschwerden angenommen!“, sagt Greg Ginn, und Chuck Dukowski grinst wissend in sich hinein und blinzelt es aus den Augenwinkeln wieder heraus (hier nennt man das verschmitzt). Das sitzt. Sanfte Diktatur, radikale Demokratie, durchdacht und aufgebaut auf die Zwei-Mann-Personalunion von Vorstand und Exekutive Ginn/Dukowski? Sie werden es nicht so sagen; wie alle anderen guten Musiker holen sie den Verweis auf die Musik hervor, in der alle weiteren Diskussionen geklärt werden könnten. Daß es aber doch einen Unterschied gibt zu all den anderen „normalen Musikern“ und wie der beschaffen ist, das zeigt sich in der Aktion, in dem „einfachen täglichen Leben“, wie Greg Ginn es an einer Stelle so unendlich untertrieben nennt, dem Auswählen von Bands, den eigenen Bands, dem Produzieren von Bands (Greg), dem Konzepte-Entwerfen für Cover, bis herunter zum Schreiben von Promoblättern, zum Beispiel dem von SWA, in dem versichert wird, daß Dukowski kein machiavellistischer Manipulator von Medien und musikalischen Trends sei, dann aber ein Stück weiter verräterische Anführungsstriche zu finden sind: This dude is into „ROCK“, obwohl allgemein bekannt ist, daß das bei ihm so einfach nicht ist, daß er sich besonders für seine Band SWA ständig neue Forderungen, Kontrollen, Überredungsmanöver ausdenkt.

Deine Zukunft, wenn Du eine hast.

„SWA is your future if you have one“ … „Be SWA, your name, your picture, identify yourself, SWA Photo I.D.“ … und dann kippt er eine Flut von SWA-Entschlüsselungen übers rückwärtige Cover (von XCIII): Star Whoring Around – Survived Whipslash Accidents – Sylvia Whips Admirers – Suffused With Adoration – Snakes Were Advising – Staggering With Alcohol – Sappho Was Appaled – Saints With Attitude – Softly Whispered Affections – Sleeping While Awakened – Suffused With Arrogance – Student Womens Anatomy – Succumb Without Argument – Sex With Animals – Space Weird Acid – alles als Hintergrund gedacht, auf zartem Blau, nur mit Anstrengung lesbar. In diesen Zeiten läuft nichts ohne die rechte Präsentation. Daher hat sich Chuck Dukowski auch schon immer um das optische Konzept für SWA gekümmert. Man kann aber davon ausgehen, daß dies für die meisten SST-Bands gilt, und ist es nicht die Band selbst, die die Gestaltung macht, so ist es bestimmt einer aus einer anderen Band oder sogar Raymond Pettibone, gerüchteweise Gregs Bruder.

Es geht bei diesem Independent-Label SST um keine Fortführung von idealistischen Ideen, und nicht um das Durchexerzieren der alten Aufsteigeridee, also dem Versuch, eine der großen, ein Major zu werden. Zu zweit ist man niemals ein Richard Branson. Dazu werden Ginn/Dukowski noch von einer harten Kernmannschaft umringt, die ganz fest zu ihnen hält; zu der gehört auch fIREHOSE, die gerade ein fettes Angebot eines Major-Labels zugunsten von SST ausgeschlagen haben. SST ist selbst ein Major-Independent, das sich aber in der Lage sieht, seine Zuträgerfunktion als Scout für die Industrie auf ein Minimum zu beschränken. Und das hat viel mit dem inneren Zusammenhalt der Bands und der Musiker zu tun, den Codes, die nur untereinander verständlich sind, den Jokes und Verweisen, dem klassischen Musikerbewußtsein, gepaart mit Elitetruppen-Selbstbewußtsein: erinnert alles stark an die Jazz-Hipster aus Bebop-Zeiten. Außerdem … als Hüsker Dü abwanderten, hatten sie schon viele Platten auf SST gemacht, die nun noch mal einen richtigen Verkaufsschub erlebten, als die Band zur Industrie ging. Dann lösten sie sich sowieso auf. Schadenfroh sind Greg und Chuck nicht. Den rausgeschmissenen Drummer haben sie gerne wieder bei SST aufgenommen.

Die Schönheit aber, die von SST formuliert werden will, zeigt sich nicht nur in der Musik, sondern in den Gesichtern der beiden, die diese Musik auswählen, und in ihren Reden über die einfachen Fakten – sie, SST betreffend.

Greg: „Wir haben 1978 angefangen, Stücke mit Black Flag aufzunehmen. Wir haben ein eigenes Label gegründet – wie viele andere auch –, weil wir sonst keine Chance gehabt hätten, unsere Musik auf eine Platte zu bekommen. Sobald wir aber wußten, wie Plattenrausbringen funktioniert, haben wir neben der Musik auch diese Arbeit weitergetrieben. Und dann waren da Minutemen … die Platten machen mußten! Mit der Anzahl der Menschen wächst die Verantwortung, wachsen die Verpflichtungen. Wir sehen das als Teil unserer Arbeit an. SST stand am Anfang für nichts anderes als die Idee, sich aufzumachen. Die Buchstaben selbst sind das Signet einer Electronic-Firma, für die ich gearbeitet hatte … daher hatte ich auch schon etwas Geschäftserfahrung!“

Chuck (und wir wissen nicht, ob sein Name wirklich Dukowski ist und auch nicht, ob er wahrheitsgemäß Fragen beantworten will, da er Fragen erstmal mit seinem nach innen gedrehten Böser-Buddha-Grinsen auffängt): „Ich habe auch mal in einer Firma gearbeitet, eine die Möbel herstellte.“

Mit dem Zusammentreffen der beiden, mit dem Beginn von Black Flag, veränderte sich die Welt. Seid ihr euch darüber im Klaren?

„Es ist ein Problem für uns, die eigene Stellung zu definieren, weil eigentlich für uns nur das Leben an jedem neuen Tag neu zählt – und die Schritte, die täglich getan werden, um die Musik, die wir mögen, in die Welt zu setzen und zu verbreiten, also unsere Arbeit zu tun.“

Könnt ihr „Musik, die wir mögen“ etwas näher bezeichnen?

Greg: „Das geht nicht. Wir haben niemals eine Sorte Musik besonders bevorzugt, und wir sind offen für alles, was neu, interessant und von starkem Willen ist.“ Ihre Art von Präzision äußert sich wirksamer in Entscheidungen, wie sie sich auch wirksam in Black Flag geäußert hatte. Hat aber darüber hinaus nicht Black Flag dennoch den Boden bereitet für ein neues Verständnis, eine neue Funktion von Hardcore-Musik? Wäre etwa Megadeth ohne Black Flag denkbar?

Greg: „Black Flag war grundlegend, aber aus einem Interesse am Übergeordneten heraus. Als Punk passierte, gab es nach kürzester Zeit diese Mini-Untergruppierungen, dieses Aufsplittern, diese kleinmütige Konkurrenz etc., die den Verfall der ‚Bewegung‘ schon antrieb. In dieser Situation war es das einzig Vernünftige, auf eine Kraft zu vertrauen, die nicht so einfach zu vereinnahmen war und die wir alle sehr liebten, die hieß Heavy Metal. Es war einfach eine Notwendigkeit und hatte nichts mit Auswahl und Ausgrenzung von bestimmten Stilen, Moden und Trends zu tun. Das war jenseits all dessen. Es wurde auch nicht als Hemmblock für andere Einflüße benutzt, daher konnten wir Hardcore-Rock spielen, aber dennoch später andere Einflüße zulassen. Wenn überhaupt, betrachte ich es als unser größtes Verdienst, daß wir mit Black Flag demonstriert haben, daß man keine geschmäcklerischen Grenzen zulassen darf, die falschen Grenzen niederreißen muß. Das Gleiche gilt auch für alles, was wir später gemacht haben, für Gone, October Faction, SWA. Textlich ist das Ziel der Ernst, und zwar konkreter ausgesprochen. In diesem Sinne ist SWA ein Nachfolger von Black Flag, in der musikalischen Erweiterung habe ich mit den instrumentalen Bands operiert. Aus beiden Elementen setzen sich auch unsere Entscheidungen für andere Bands zusammen. Mehr will ich nicht dazu sagen. Es gibt schon zu viele Definitionen in der Musik. Es wäre besser, die Dinge, die sich da bieten, erst einmal so wie sie sind anzunehmen!“

Familienpolitik

Was grundsätzlich richtig ist; was vom Musikerstandpunkt aus sowieso immer behauptet wird, und hier von diesem erweiterten Musikerstandpunkt aus auch behauptet werden kann. Aber: Muß man nicht superweit die Arme ausbreiten, um all das, was SST anbietet, umfassen und annehmen zu können, bilden sie nicht gerade mit Absicht nur eine stachelige Plattform, von der aus man sich mit den Bands auf Irrwege begeben kann und Schleifen fahren oder Gone gehen, oder in die vergessenen, aber notwendigen Avantgarde-Quäl-Ecken abtreiben, wo die Melodien zerrieben werden, wo Jazzrock sein Unwesen treibt und sehr junge Menschen wirklich hart und herrisch auftrumpfen, voller Trotzen und Beharrlichkeit.

„Wir haben es so gewollt, so ausgesucht“, sagen SST und legen einen wieder erweiterten Katalog vor. 170 Platten in den letzten drei Jahren, fast hundert allein in den letzten 12 Monaten; damit das Gegenteil jeder Kulturindustrie betreibend, die möglichst hohe Stückzahl von möglichst wenig Artikeln verkaufen will, stecken SST die Profite von wenigen Bands in viele Artikel mit pro Titel relativ geringer Stückzahl-Erwartung. Eklektisch ist die Auswahl indes nicht. Sie folgt einer inneren Logik.

Wie, an welchem Ort wird diese Politik ausgedacht?

Greg: „Es ist keine Politik. Es ist eine Sache der Schönheit, von einer Auswahl, die wir treffen und dem Respekt, den wir einer Person bzw. einer Band entgegenbringen, und die wir fördern, wenn eine Qualität, mit der wir beide einverstanden sind, sich zeigt. Wir wählen nur das aus, was wir beide gleichermaßen wollen … sonst wäre SST ja mein Label oder Chucks …“

Bist Du mit allem einverstanden??

Chuck: „So weit ja. Wir haben nicht oft Streit. Wenn dem so wäre, gäbe es SST nicht. Auseinandersetzungen zwischen uns sollten kein Issue sein. Die Entwicklung des Labels war immer eine organische, insofern sich die Existenz des Labels mit unserem Interesse an Musik trifft. ‚Organisch‘ beschreibt auch den Weg, den wir als Label genommen haben, als eine Organisation, die Vertrauen in bestimmte Personen steckt. Wir sind an Entwicklung interessiert.“

Viele eurer Bands kennen sich untereinander. Gehört diese „Familienbande“ mit zu euren Absichten?

Greg: „Nicht unbedingt. Aber es ist wohl so, daß, wenn sich Bands von SST untereinander begegnen – und vorher nicht kannten – sie einen ziemlich hohen Grad an gegenseitigem Respekt haben. Ich glaube, es hat unter anderem damit zu tun, daß wir im Behandeln, Promoten, Touren-Organisieren von Bands auf eine sehr praktische Art vorgehen. Wir behandeln alle gleich, und darin lassen wir uns nicht beirren. Wir sagen keiner Band: ‚wir machen euch berühmt‘, wir ergreifen nur die direktesten, realistischsten Maßnahmen für die Bands, und sie wissen es.“

Und ihr steht da und freut euch daran, zu sehen wie es alles funktioniert!

Chuck: „Ja, so sind wir. Wir freuen uns darüber. Denk nicht, wir wären naiv. Wir sind nicht Hollywood, L.A. … die großen Firmen, Hypes, Promotion, all das … aber wir kennen uns genauestens aus, es spielt sich ja alles sozusagen bei uns im Hinterhof ab.“

Greg: „Wir fördern die Sachen, die für die musikalische Entwicklung gut sind, nicht mehr, nicht weniger.“

Nennen wir es relaxend, oder bezeichnen wir es als Mega-Selbstbewußtsein oder als die Rezepte von Dr. Music I und Dr. Music II, denen keine Operation mißlungen ist, weil sie auch das Verkorkste als Teil des Unternehmens „Neue Musik“ betrachten.

Chuck: „Wir haben noch nie jemanden fallen gelassen!“

Wie könnt ihr es finanziell schaffen, so viele neue Sachen herauszubringen?

Greg: „Wir verteilen das Geld! Wir haben einige auch finanziell erfolgreiche Bands auf dem Label, die das andere ermöglichen. Black Flag war von Anfang an immer sehr gut im Verkauf und hilft uns heute noch, wie auch der Backkatalog von Hüsker Dü, von den Minutemen, die erst wirklich gut verkauft haben, als es sie nicht mehr gab. Als deren erste Platte rauskam, hat sie 200 Stück verkauft … alles dauert eben, dauert Jahre. Doch die Platten haben Qualität, sodaß man sie auch noch nach Jahren mit Interesse hören kann, und die Leute eben auch heute die erste Minutemen kaufen. Dazu wachsen auch andere Bands mit Verkäufen nach: fIREHOSE, Meat Puppets, Brian Ritchie, St. Vitus, The Last, Das Damen, Volcano Suns… Geld wird dann in neue Sachen gesteckt.“

Manifeste

So auch in den Ankauf von Mike Watts New-Alliance-Label, auf dem nun ein Projekt, betitelt Aesthetic Peace mit Thurston Moore, als einer Art Leitung ins Leben gerufen wird, so aber auch mit coolen, professionellen Promo-Ideen, wie es etwa der No Age-Sampler ist, der die Tatsache, daß SST vor allem eine neue Instrumental-Musik anzubieten hat, hervorragend kommunizierte, aber auch in Spaß- und Kunst-Projekte, wie die beiden Filmprojekte, in die der SST-Kern musikalisch und auch schauspielerisch verstrickt war, Desperate Teenage Lovedolls und Love Dolls Superstar, oder in die gigantische T-Shirt-Produktion. Dazu paßt auch, daß für Liner Notes des öfteren Richard Meltzer (neben Lester Bangs der in den Siebzigern wichtigste Rockmusikschreiber in den USA, der schon 1970 mit dem Buch The Aesthetics Of Rock herauskam, maßgeblich am Aufbau des Konzepts für Blue Öyster Cult beteiligt war, sich dann als Punk-Rock-DJ betätigte und die Mehr-Als-Musik-Bücher Gulcher und das in diesem Jahr erschienene LA. Is The Capital Of Kansas – Painful Lessons In Post-New York Living schrieb) aktiviert wird. Auch Harvey Kubernik, ehemals Freund und Produzent von Kim Fowley, schreibt Texte auf die Rückseiten von SST-Platten. Chuck Dukowski wiederum verliest sein SWA-Manifesto auf der von Kubernik organisierten Doppel-LP mit L.A.-Dichtern, Voices Of The Angels. Weitere SST-Freunde und -Dichter im Hintergrund, neben dem Dichter-Karikaturisten Raymond Pettibone, sind Joe Carducci und Gary Jacobelly.

Was also hat es mit diesen drei Buchstaben noch alles auf sich, wie verkeilt sich da Rockgeschichte; folgt alles geheimen Regeln, muß man irgendwelche Platten rückwärts spielen, wer ist der Leader, wer entwarf den Plan?

In diesem Fall wendet man sich an den, der das Hirn bepinselt, der als zahnloser, räudiger Alter im Video zu SWAs Hit „Arroyo“ den Finger in die Sonne hält und dem im Leben (das laut Text eine Wüste ist, in der die Frau das Wasser darstellt) gescheiterten Merril Ward den Weg zum doppeldeutigen Arroyo weist (das Wort heißt Rinnsal, aber auch Gosse, Ende; ebenso Flüßchen wie Erquickung, Erfrischung in der Wüste) – der feist grinsend einen Ghettoblaster schleppt, während die anderen in der Band ein Gewehr und ein Surfbrett halten müssen, und der Meister im Verfassen von Manifesten ist … Chuck Dukowski:

SWA is your future if you have one
SWA is not political
SWA is not religious
SWA is the order implicit
In the chaos around there is an order implied
That order the order implicit is SWA – your future if you have one
You’re either SWA or non-SWA
there is no middle-ground
The problems facing the world today are direct result of violation principles non-manifest in nature itself.
Key to SWA is unified thought, that is thought without contradiction
With SWA we can have it all
Love Beauty Hate Destruction
We can tear down the world and it all works

Und welchem Meister nun dient diese Vernunft?
Gibt es ihn, den großen Plan?

Greg: „Natürlich. Wir machen mehr als nur Musik, und dieses Mehr an Ideen ist in die Musik eingebaut oder wird mit anderen verfügbaren Mitteln ausgedrückt.“

(„In the absense of intimidation, creativity will flourish“, Greg Ginn auf Gone-Cover / „Time is life and life is time. The fruit of the marriage is value“, Chuck Dukowski auf Würm-LP.)

Chuck: „Ich würde sagen, es gibt Ideen im Denken, und es gibt Leute, die auf diese Ideen reagieren und sich ihnen anschließen. Es entstehen über Zeiträume hinweg Kontakte, Berührungen. So entsteht um Personen, um das Label SST, um die Platten etwas, das ich die Reflektion unseres Denkens nenne … darin zeigen sich auch die unterschiedlichen Wege, die Menschen beschreiten, und die sich dann doch kreuzen. Alles ist notwendigerweise mit allem verbunden (so alle wichtigen Aspekte der Geschichte der weißen amerikanischen Underground-Rockmusik in diesem Pool sich berühren). Ich selbst sehe mich nicht an der Spitze eines Masterplans, aber ich bin darin, mittendrin als Spieler.“

Greg: „Wir stimulieren das Denken. SST ist nicht nur da für das Verkaufen von Platten. Teil unserer Funktion ist es, daß wir uns, aber auch die Bands, dazu anhalten, an diesem Diskurs, der weit über das Musikmachen und Verkaufen hinausgeht, teilzunehmen. Es ist nicht so, daß wir eine ‚Hausphilosophie‘, eine festgeschriebene Linie vertreten wollen, aber es gibt ein gemeinsames, für alle gültige Gesetz, das sagt, auch die Bands und andere an SST Beteiligten müssen sich untereinander mehr zu sagen haben als ein Gespräch über Verkaufszahlen.“

Die Besten kümmern sich um alles. Das ist das eine, was einem einfällt, dann aber auch die Nähe dieser Gedanken zu der französischen Rhizom-Philosophie, womöglich oder wahrscheinlich, ohne die zu kennen. Gute Leute kommen in bestimmten gegebenen kulturellen Situationen automatisch auf bestimmte Strategien.

Chuck: „Was SWA angeht, so gibt es auch da keine Geheimnisse. Alle Texte auf den Platten erklären sich von selbst. Es sind keine kryptischen Botschaften … ich nenne diese Texte Starting Places. Davon abgesehen, ist SWA nur ein Glied im Ganzen, eine von vielen SST-Bands.“

Greg: „Ich meine dazu: Nach dem Start kann die Musik anfangen. Gute Musik ist ein Katalysator, eine Durchgangsstation, der Anstoß nach dem Anstoß, der gezielt gemacht wird, aber eine Menge offen läßt.“

Bei Black Flag aber wurde bei den „Messages“ nicht viel offen gelassen, „T.V.-Party“, „Drinking & Driving“, wie verhält es sich damit, oder mit den groben Entjungferungsritualen bei SWA („Until You Bleed“)?

Greg: „Die Texte sind nie so ernst, wie man denkt. Es ist immer auch etwas Ernstes und Ernstzunehmendes darin, aber nie sollte man die Zeilen einzeln ernsthaft herausnehmen. Musik ist ein spielerisches Ganzes, sie ist eine Darstellung dieser Frage: Was willst Du sagen?“

Chuck: „Und nähme man nur ein Teilchen da heraus, es zu untersuchen, dann ist das so, als würde man einen einzelnen Aspekt des Lebens zur alleinigen Basis der Existenz machen, und das will doch wohl keiner. Wir jedenfalls wollen diese Beschränkung nicht. Daher ist es manchmal besser, etwas offen zu lassen, nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Überzeugung.“

Greg: „Manchmal ist es richtig, diese Frage ‚Was willst Du sagen‘, mit Extremen zu bearbeiten, womit wir noch einmal zu Heavy Metal kommen. Extreme Schockwerte sind nur solange als Mittel erlaubt, wie sie dem Zweck dienen: einfach so sich Schocks auszudenken, wie es viele Metal-Bands tun, ist nichts wert. Musik verstehe ich als Kunstform, die gleichwertig neben den anderen wie Film, Literatur, Bildender Kunst, Comics etc. steht. und die für alle da ist. Extreme, also auch Gewalt, werden in jeder Kunst behandelt. Man kann einen Rambo-Film, man kann auch andere Filme drehen. Das als Vergleich. SST-Bands verbinden Musik mit anderen Kunstformen, zum Beispiel mit Videos.“

Chuck: „Meine liebsten sind die von den Minutemen.“

Die besseren Flammen

Diese Videos sind eine seltsame Art von Polit/Fun/Live-Spiel-Videos … rasch geschnitten. Eines stellt die Band spielend da, während Reagan, in jungen Jahren, als Pilot Bomben auf die Minutemen wirft. SST macht nur Videos mit Bands, die auch die Ideen dafür haben.

Chuck: „Wir gehen an Videos heran wie an die Platten.“

Bester Beweis ist das Video zu „Arroyo“ von und mit SWA, in dem sich Merril durch Küssen von Kakteen, Sylvia als Gitarre spielende Indianerin hinter dem Feuer, aber auch Dukowski als erwähnter Wegweiser schauspielerische Verdienste erwerben … besonders in der langen Version mit dem richtigeren Schluß: Nach der Fata Morgana, die Merril vorgaukelt, er lecke Frauenbeine, während in Wirklichkeit sein Gesicht an Kakteen herabgleitet, folgt das Sterben in den trockenen Bergen, lang ausgestreckt, Jesus-Zitat.

Chuck: „Merril sagt, daß alles wahr ist … nun ja, daß Arroyo zumindest der Name eines Mädchens war, das er gekannt hat“.

SWA und Gone, beide Bands ruhen zurzeit aus. Andrew Weis und Simeon Cain von Gone sind mit Henry Rollins auf Tour und leben ansonsten auch lieber in New Jersey als an der Westküste, und SWA braucht, nachdem Richard Ford Produkt-Manager bei SST wurde und Sylvia Juncosa sich ganz ihrer eigenen Band widmet, wieder einmal einen neuen Gitarristen. Was also wird im weiteren Verlauf mit den beiden SST-lern geschehen?

Sie sind nicht in Eile mit sich selbst. Immer haben sich wieder Neuigkeiten ergeben, kamen neue Leute mit dem für sie richtigen Bewußtsein zueinander.

Greg: „Die Entwicklung nimmt immer wieder neue Formen an. Die meisten guten Rocksachen werden natürlich von Bands gemacht. Das heißt, es gibt keine Stars im Line-Up, der Drummer ist wirklich genauso wichtig wie der Sänger. Nur Leute, die wirklich in dem Bewußtsein und mit dem Können zusammenspielen, können wirklich gut sein, und dann können sie auch wiederum wechseln, mit anderen So-Gesinnten zusammenspielen.“

Was auch die Fluktuationen, die Jam-Sessions und deren gute Ergebnisse erklärt.

Greg: „Wir können nur entwickelte Persönlichkeiten in unseren Bands ertragen. Auf einem anderen, oberflächlicheren Level nicht, also einen nur so zur Show mit hereinnehmen, können wir nicht. Wir wollen keinen Fake. Nichts dergleichen. Unser Konzept verlangt eine bestimmte Chemie und einen Willen zum Begreifen, vom Musiker, und wahrscheinlich auch von dem, der es hört.“

So also ein Ausschnitt aus den Regeln, Geboten, Leitlinien der beiden Vorsitzenden von SST. Da lacht das Herz, da hüpft die Lust am Risiko, da sind zwei seltsame, schräge, das Eigentum nach Kräften abschaffende und den Gewinn verteilende Unternehmer am Werk. Zwei Musiker, die auf diese Weise brennen, sich auf diese selbstverständliche Weise anfeuern und herausfordern, ergeben die besseren Flammen. So ist es.

SWA: „Truth is, the rest is another man’s guess“.

Chuck Dukowskis Augen sind kleine Schlitze, aus denen es freundlich herausglimmt – und glüht, gemein in Weisheit.

Bist Du ein Meister des Haiku?

Chuck: „Weiß nicht … aber ja, früher habe ich welche geschrieben …“

Greg: (lacht und lacht und lacht …)

Dossier

Neben musikalischer ist auch die handwerkliche Qualität des Labels bemerkenswert, eine so schöne Coververarbeitung wie bei „Double Nickels On The Dime“ hat es seit den Impulse-Platten der Sechziger nicht mehr gegeben, die späteren Black-Flag-Platten, etwas ab My War, verdienen alle Layout-Preise dieser Welt.

Liner Notes sind selten, aber um so interessanter, von den immer lesenswerten Minutemen-Texten und der „Punchline“ beigelegten kleinen Philosophie, sowie den Meltzer- und Kubernik-Texten abgesehen, seien Spots Erinnerungen an frühe SST-Tage (auf dem Live-Doppelalbum Everything Went Black) empfohlen; Spot lebt heute in Texas und hat zwei Solo-Platten auf eigenem Label; sowie Greg Ginns Erklärungen zur Black-Flag-Instrumental-EP The Process Of Weeding Out, wo er die Notwendigkeit einer Instrumental-LP u. a. damit begründet, daß Black Flag immer schon Zensur-Opfer von Händlern war, die Botschaften einer Instrumental-Platte könnten die Spießer allerdings nicht verstehen, das könne nur die Intuition der richtigen Leute – pure Jazz-Hipster-Philosophie. Der Weg zu einem neuen Post-Jazz/Post-Rock-Instrumentalstil wurde schon sehr früh beschritten, schon mit dem Signen von Saccharine Trust und der zu Black-Flag-Hyperhardcore-Zeiten veröffentlichten LP Family Man, mit je einer Seite reiner Dichtung von Rollins und einer Seite reinem Jazz von Ginn, Kira und Stevenson, außerdem war auf jeder Flag-Platte nach Damaged mindestens eine irre, jazzverwandte Nummer drauf.

ALTER NATIVES: Jazz/R’n’B-Quartett, 2 LPs, vorwiegend instrumental.

ALWAYS AUGUST: Kennen alle Gründe, warum ein Stück lang sein muß, beherrschen alles von der völlig unverkrampft-folky Gitarren-Improvisation bis zu Latin-Jazz und leben in einer Hippie-Kommune in Virginia. Motto: Wenn du John Coltrane für „mellow“ hältst, sind wir es auch.

ANGST: Vgl. Spex-Artikel. Songwriting in klassischer Schule, extrem sparsamer Einsatz der bekanntesten Chord-Changes, 3 LPs, 1 EP.

BAD BRAINS: Vgl. 7/87, inzwischen aufgelöstes Rasta-Hardcore/Speedmetal-Quartett, Sänger und Drummer, siehe H.R.

BLACK FLAG: 4 Drummer, 2 Bassisten, 5 Sänger, und Greg Ginn an der Gitarre, vgl. diesen Artikel und Scheurings, Anfang ’83.

BLAST: Einer der verbliebenen Stützpfeiler der auch irgendwann mal von SST ausgelösten Surf/Skate/Speedmetal-Bewegung. 2 LPs in großen Abständen veröffentlicht, sehr gutes Video zu ihrer Single „Surf And Destroy“. Früher konnte man bei SST ein Black-Flag-Skateboard bestellen.

BLIND IDIOT GOD: Das Instrumental-Trio, das Dub, Strawinsky und Free Jazz auf Power-Metal-Basis verschmolz, leider vom verbrecherischen Bill Laswell zur Industrie gelotst.

SCOTT COLBY: Slide-Gitarrist extraordinaire, SST-Cooder.

CRAZY BACKWARD ALPHABET: Eine perverse Blues-Band um den geläuterten Alt-Avantgardisten Henry Kaiser.

CRUEL FREDERICK: 2/4 Universal Congress Of, vgl. Artikel in diesem Heft.

DAS DAMEN: 2 LPs, 1 Mi-LP, wunderschöne Melodien in Hüsker-Nachfolge, die schönsten Jungs mit den längsten Haaren, die definitiven nächsten Stars, East-Coast-SST.

DC 3: Zu unbekannte und unterbewertete Band von Dez Cadena, Rollins’ Vorgänger bei Black Flag, in der ersten Version mit Kurt Markham von Overkill am Schlagzeug, und maßgeblich durch Wunderkeyboarder Paul Roessler geprägt. Dez Cadena erzählt nur allerprivateste Geschichten zu Blues-Rock-Musik, fein stilisiert. 3 LPs, scheint momentan auf Eis zu liegen, vgl. auch Roesslers Solo-LP, die angekündigt ist.

DESCENDENTS: Band um zwischenzeitlichen Flag-Drummer Bill Stevenson, die ihre ersten vier Platten woanders veröffentlichte, und erst, nachdem die fünfte und die sechste bei SST erschienen sind, die anderen nachpressen ließ; Ami-Antwort auf Fun-Punk (haha); vgl. diverse Rezensionen in Spex.

DINOSAUR: Nach einer allseits beliebten LP und einer ausgekoppelten Maxi zu Blast First resp. Normal gewechselt, Nachfolger scheinen Das Damen zu werden.

DIVINE HORSEMEN: Kamen hier bei New Rose heraus, in den USA ist das Gesamtwerk auf SST.

fIREHOSE: Vgl. 7/1988.

FLESHEATERS: Erste Band von Slash-Begründer und Horseman-Leader Chris D(esjardins), auf SST nur die Greatest-Hits-Compilation.

FRED FRITH: Wer kennt ihn nicht, den bienenfleißigen Alt-Avantgardisten, der für je eine Duett-LP mit Henry Kaiser und einer Doppel-LP, zu denen ich wg. nicht-gehört gerechterweise nichts sagen kann, bei SST unterkam.

STEVE FISK: Bester Freund und Hausproduzent der Screaming Trees, Solo-Künstler mit einer LP, und am besten als Leader von Pell Mell.

GONE: Zurzeit auf Eis liegendes bahnbrechendes Trio-Projekt von Greg Ginn, instrumental, zwischen Surf- und Free-Jazz und Heavy Metal.

H.R.: Stilmulti und Ex-Sänger von Bad Brains, macht alles zwischen Reggae, Jazz, Speedmetal und Rap. 1 LP und 2 EPs, die auch als The H.R. Tapes zur CD zusammengefaßt wurden. Produziert Rasta-Fundamentalist Ras Michael.

GRANT HART: Hüsker-Dü-Drummer, nach Rausschmiß wieder bei SST.

HÜSKER DÜ: Von ihrem Backkatalog lebt immer noch eine Menge Nachwuchs.

HENRY KAISER: Umtriebiger Gitarrenavantgardist, der neben Crazy Backwards Alphabet auch solo mit zwei LPs auf SST vertreten ist, die ihn weit entfernt von den Unverbindlichkeiten der Esoterica zeigen, mit denen er früher zu tun hatte; neben Elliott Sharp zweiter wichtiger Avantgardist, der bei und durch SST sein Selbstverständnis verändert hat.

KIRK KELLY: Neuentdeckung. Fahrender Singer/Songwriter, SST-Bragg, aber besser.

THE LAST: L.A.-Beatband, seit über zehn Jahren dabei, aber zwischendurch oft verschollen, aus ihr ging Superproduzent/Engineer Vitus Matare hervor, der neben Bill Tarling, Ethan James und Spot wohl häufigste SST-Produzent/Engineer, besonders an der Jazz-Front. Auch Trotsky Icepick ist eine Band, die aus ihnen hervorging, vgl. komplizierten Stammbaum der Nolte-Brüder in einem der nächsten Hefte.

LAWNDALE: Surf-Instrumental-Jazz-Quartett aus der Nachbarschaft, sehr gut die Duke-Ellington-Pink-Floyd-Cover, 2 LPs.

LEAVING TRAINS: L.A. Rocker der alten Zeit, zwei LPs, vgl. Artikel in diesem Jahr.

ROGER MANNING: Neuentdeckung, New Yorker Singer/Songwriter.

MEAT PUPPETS: Zurzeit wohl erfolgreichste aktive SST-Band, vom Hardcore der ersten Stunde zu weisem Wüstencountry, der immer mal wieder nach Talking Heads klingt, 5 LPs, diverse EPs. Extrem wichtig.

MINUTEFLAG: Rare, empfehlenswerte Jam-Session von welchen Bands wohl?

MINUTEMEN: Vgl. 7/1988.

MOFUNGO: Sehr gute New Yorker Polit-Band, man möchte fast New Wave sagen, im englischen Indie-Sinne der frühen Achtziger, haben vor ihrem SST-Debüt in diesem Jahr schon diverse Platten gemacht und zählen Elliott Sharp zu ihren Vollmitgliedern, der aber nicht unangenehm auffällt.

OCTOBER FACTION: Session von SWA, FLAG und SACCHARINE TRUST, vgl. Baiza-Artikel und diesen Artikel.

OPAL: Jeder kennt sie, Zukunft ungewiß, eine LP.

OVERKILL: Nicht mit der gleichnamigen Heavy-Band zu verwechseln, obwohl ebenfalls heavy, Merril Wards erste Band vor SWA.

PAINTED WILLIE: Rockband, die wir nicht kennen, strangely, 3 LPs, eine EP. Der Drummer ist allerdings als Regisseur der beiden Fake-Runaway-SST-Trash-Filme Desperate Teenage Lovedolls und Lovedolls Superstar mit viel L.A.-Prominenz hervorgetreten; gute Soundtracks.

PAPERBAG: Begnadetstes Improvisations-Ensemble, zwei LPs plus eine neue, die es nur als CD geben wird, alles zwischen frühe Floyd und später Free Jazz, in kurzen Einheiten, genial.

PELL MELL: Vgl. auch Fisk, Instrumental-Quartett, schwer einzuordnen, Acid-Jazz? Sehr leicht, swingend, angenehm.

GLENN PHILLIPS: Rätselhafter Fall zwischen Acid und New Age, zwischen Jazz und gestylter Raummusik, mir sehr angenehm, und bestimmt jenseits von New Age, dieser ehemalige Gitarrist der mythischen Hampton Grease Band.

RAS MICHAEL: Rasta, war bei den Sons Of Negus, ein echter Prediger, den H.R. zu SST geholt hat.

ZOOGZ RIFT: Vgl. 7/88.

BRIAN RITCHIE: Ex-Violent-Femmes-Bassist, spielt alles auf seiner LP und hatte einen kleinen Hit mit der auch in Deutsch aufgenommenen Sun-Ra-Antikriegs-Rap-Hymne „Nuclear War“.

RUN WESTY RUN: Aus Minneapolis’ Hardcore-Kreisen hervorgegangen, spielen einen sehr gut abgehangenen, tiefen, geschmackvollen Blues-Rock, mit wunderbaren Gitarrenpassagen.

PAT RUTHENSMEAR: Als Pat Smear bei den Germs setzte er unter diesem Namen die Singer/Songwriter-Welle bei SST in Bewegung.

SACCHARINE TRUST: Vgl. Baiza-Artikel in diesem Heft.

SAINT VITUS: Vier wahnsinnige Langhaarige, die nun schon auf vier hervorragenden LPs die erste Black Sabbath variiert haben. Plus zwei EPs.

SCREAMING TREES: Sixties-Pop-Band, nicht mit der gleichnamigen englischen Band zu verwechseln. Freunde von Fisk und Beat Happening, mit denen sie gemeinsam eine Single aufgenommen haben.

SEMANTICS: Improvisationstrio mit Elliott Sharp.

SISTER DOUBLE HAPPINESS: Haben eine der besten Platten dieses Jahres im Rocksektor gemacht. Sänger Gary Floyd und Drummerin Lynn Perko waren früher bei den Dicks, die die einzige SST-Platte neben den Subhumans gemacht haben, die vergriffen zu sein scheint, ansonsten ist auch die Repertoire-Pflege hervorragend.

ELLIOTT SHARP: Hat solo zwei Platten und mit seinem E-Musik-Orchester Carbon auch zwei für SST gemacht, siehe aber auch Mofungo und Semantics.

EVERETT SHOCK: Bislang nur ein Weißmuster bekannt. Wer ist das?

SLOVENLY: Die sprichwörtlichen Go-Betweens von SST, zwei feinsinnige LPs, tolle Songschreiber.

SONIC YOUTH/LEE RANALDO: Allgemein bekannt, dürften sich aber wohl demnächst von SST trennen, Lee Ranaldo bringt seine Endlosschlaufen ebenfalls als SST-EPs heraus, und Thurston Moore kriegt bald einen neuen Job (vgl. Text).

STAINS: Erste Speedmetal/Surf/Metal-Band aller Zeiten, und später in Hardcore-Legende MDC übergegangen.

SWA: Chucks Band, drei LPs, vgl. Artikel und div. Rezensionen.

TAR BABIES: Superagile Hendrix, Garcia/Funk-Fusion von superjunger gemischtrassiger Provinz-Band. 2 LPs.

TOM TROCCOLI’S DOG: Geiler Jam von Black-Flag-Roadie mit Greg und Devo und Gästen, mit der O.F.-Dukowski-Komposition „Todo para mi / nada para ti“.

TREACHEROUS JAYWALKERS: Jugendliches Trio, das Minutemen anhimmelt, an die subversive Kraft von Skateboards glaubt und beide unter dem Banner der Revolution besingt. Bass spielt der Sohn von Jazz-Bassist Charlie Haden.

TROTSKY ICEPICK: Nebenband von The Last, sehr sophisticated, LP hier schon rezensiert, kommt demnächst.

UNIVERSAL CONGRESS OF: Vgl. 10/1988

VOLCANO SUNS: Bisher eine Homestead-Band, Verträge sind schon unterschrieben.

WÜRM: Die erste mythische Band von Dukowski, die sich für je eine Single und eine LP in den Achtzigern noch einmal wieder formierte, deren von ihnen nie aufgenommener Song „Modern Man“ ins Flag-Repertoire fand und deren irrer Sänger Simon Smallwood immer noch irgendwo sein Unwesen treibt (auch bekannt als Dead Hippie).