Als ich Tina Weymouth von den Talking Heads, die eng mit den B-52s befreundet sind, fragte, ob sie den B-52s beim Bekanntwerden, beim Umgang mit Plattenfirmen und Produzenten geholfen hätten, antwortete sie: „Das war nicht weiter schwierig. Alle mögen sie. Wir mögen sie, Eno mag sie und, was am wichtigsten ist: Chris Blackwell von Island mag sie auch“. Und eben dieser Chris Blackwell hat soeben die erste LP der B-52s auf den Bahamas produziert. Drei Tage später in London sollen die B-52s ihren ersten Gig außerhalb der Staaten machen.
Es war ein langweiliger Sonntag. An solchen Sonntagen ist London genau wie Hamburg. Überall tritt man auf breitgetretene Big Mäc-Verpackungen. Ich versuche mir die Zeit mit Fernsehen zu vertreiben, denn weder die Band noch irgendein Island-Mensch waren zu erreichen. Nur ein Hausmeister oder Nachtwächter, der sein Lebtag noch nichts von SOUNDS oder den B-52s gehört hat. Das englische Fernsehen ist eine abstruse Kreuzung aus amerikanischer Rasanz und Unverbindlichkeit und britischer Behäbigkeit. „Mr + Mrs.“: Mr. muß sagen, ob Mrs. den Sellerie eher mit Pfeffer oder mit Salz oder überhaupt nicht ißt, stimmen die Antworten der Ehepartner überein, gibt es 10 Pfund, wahrhaftig ein hübsches Sümmchen. Das ganze soll das Eheleben fördern und immer bevor die Commercials eingeblendet werden sagt die Kreuzung aus Johnny Carson und Frankenfeld, die als Moderator fungiert: „Be nice to each other!“ Im anderen Programm laufen stundenlange ungemein aufregende Cricketspiele, pervertierte Komödien mit Miss Marple-Humor, der wirklich genau die Sorte englischen Humor darstellt, den man schon seit Schulzeiten haßt, weil ihn einem der Englischlehrer so penetrant nahebringen wollte. Die Krone war ein Ultra-Denk-fix, bei dem sich zwei konkurrierende Mannschaften aus verhärmten Studenten die Haare raufen, ob Kaiser Claudinius Tizinius’ Mätresse Valpurtia oder Sesterzina geheißen hat. Und alles typisch englisch, schlecht ausgeleuchtet, man hört die MAZ surren.
Nachdem ich das Debilenprogramm ausgestellt hatte, war es immer noch nicht halb acht, also bestelle ich mir ein Dinner, das mich an Donald Ducks England-Reise erinnert: „Ist das was zum Essen oder zum Einreiben?“ Endlich im Lyceum: Zwei Vorgruppen, beide unbekannt, beide gut: Delta 5 und Fashion. Dann spielt der DJ abwechselnd James Brown, Ramones und Bunny Wailer und setzt damit bereits das Signal für das, was mun folgt: Futuristische Tanzmusik.
Die B-52s bestehen aus einer vorderen und einer hinteren Reihe, die sich nie ins Gehege kommen. Hinten ein Schlagzeuger, Keith Strickland, der präzise und monoton die klassischen Rock-Figuren aus dem Lehrbuch spielt, aber mit sehr viel Energie, sehr laut und einem überzeugten Gesicht. Ein Gitarrist, Ricky Wilson, der teils Rhythmusfunktion, teils Baßarbeit übernimmt. Auch er energisch, traditionell und verbissen. Vorne die optisch und musikalisch moderne Seite der B-52s. In der Mitte ein Sänger, Fred Schneider, Charmeur aus den dreißiger Jahren mit Oberlippenbart und Hawaiihemd, in dessen Bewegung und Mimik auch ganz andere Einflüsse enthalten sind: Devo’s Robotergebärden, die Neuroseshow eines David Byrne (Talking Heads), schwarze Soulheroen wie Otis Redding oder James Brown und vieles mehr, umgeben ist er von zwei Mädchen, Kate Pierson und Cindy Wilson, die zunächst durch ihre Frisuren auffallen. Frühe 60er Girlie-Gruppen a la Shangi-Las und Country Diven a la Tammy Wynette scheinen die Vorbilder zu sein. Der Gruppenname „B-52s“ bezieht sich übrigens auf diese Frisuren, man nannte sie so wegen ihrer militanten, bedrohlichen Größe. Der Überraschungseffekt tritt ein, wenn man die Mädchen singen hört. Ihre Stimmen klingen so, als hätte man die Daten aller weiblichen Rockstimmen von Diana Ross bis Siouxsie in einen Computer eingegeben und dann künstlich die Synthese erzeugt. In diesen Stimmen ist alles enthalten: die schneidende Schärfe und Coolness einer Grace Slick bis hin zu den überdrehten New-Wave Stimmen unserer Tage. Wenn die beiden im Chor über ihre Mikrofone gebeugt singen sieht es aus wie von 1955 und klingt wie 1983. Verfremdung. Beide bedienen während des Singens übrigens verschiedene Perkussionsinstrumente und Synthesizer, die entweder die Baßfunktion übernehmen oder die Melodielinien der Sänger unterstützen.
Die B-52s erobern das Publikum schnell. Die New-Wave-Exzentriker im Publikum tanzen. Ein Dicker im Kretin-Look ärgert die Umstehenden, auch mich, indem er mit einer brennenden Zigarette in anderer Leute Gesichtern ’rumfummelt. Ein junger Schwuler mit Bowie-Habitus faßt mir und anderen unentwegt an den Arsch, meine Aufmerksamkeit wird eingeschränkt. Dann der Höhepunkt „Rock Lobster“, die einzige Single der B-52s, bringt alle auf die Beine, das Lyceum tobt, Schweiß rinnt, Make-Up löst sich auf, Badges fallen zu Boden. Was nun noch folgt, einschließlich der drei Zugaben, wird bejubelt. In der Musiker-Garderobe nach dem Konzert ist man zufrieden. Fred Schneider und Kate Pierson erzählen völlig ruhig über ihre Gruppe. Fred ist zwar der Mann in der Mitte, verwehrt sich aber dagegen, als musikalischer Kopf zu gelten. „Das ganze Konzept, von der Musik bis zur Bühnenshow ist eine Kollektividee.“
Die Gruppe spielt seit zweieinhalb Jahren zusammen. Vor ca. einem Jahr erregten sie die Aufmerksamkeit von Glen O’Brien, New Yorks hipsten Musikkritiker, durch einen Gig in New York. Vorher hatten sie allerdings schon einen Kult-Status in Athens, Georgia. Eine Universitätsstadt, deren Population zur Hälfte aus Studenten besteht. Hier sind die meisten Gruppenmitglieder aufgewachsen, hier haben sie sich kennengelernt. Ihre Einflüsse sind alle Arten guter amerikanischer Tanzmusik, vor allem Soul der 60er Jahre, Stax und James Brown. Trotzdem ist ihre Musk völlig neu. Der rhythmische tanzbare Background steht einer Melodik gegenüber, die neben Rock’n’Roll-Reminiszenzen nicht-Tanzmusik-Elemente von Cool Jazz bis Eno, von den Fleetwoods bis Devo aufgesogen hat. Dabei waren sie alle nie große Fans von igendetwas, keine Musikenthusiasten: „Wir haben halt alles irgendwann gehört“.
Nachdem Glen O’Brien durch zwei Artikel in Andy Warhol’s „Interview“ den B-52s auch in New York zu lokaler Geheimtip-Popularität verholfen hatte, entstand auch die erste Single „Rock Lobster“, die irgendwann auch bei mir ankam und seit der ich auf diese Gruppe gespannt war, obwohl Fred Schneider heute meint, die Produktion sei säuisch gewesen und die Album-Version sei viel besser.
Eigentlich sind Kate und Fred Filmbuffs gewesen und Fred wäre gern Filmemacher geworden. Jetzt, da sie Musiker sind, leben sie ihre optischen Fantasien in ihrer Bühnenshow aus: „Alte amerikanische Filme, Werner Herzog und Fellini“, meint Kate aber vor allem wollen sie als Tanzband verstanden werden: „The greatest white American dance band“, wie Tina Weymouth meinte.

