The Cult – Sympathie für Revis

Der gelahrte Mittzwanziger-Pop-Fan hielt The Cult schon immer für eine späte Rache der Acid-Fresser, deren Vereinnahmung er entgangen zu sein glaubte, als er 1977 eine Talking Heads-LP und eine Pere-Ubu-Single kaufte. Oh, er Irrender! Jetzt wenden sich auch die eingefleischten Anhänger von Southern Death Cult und Death Cult und vielleicht noch der ersten Cult LP von Ian Astbury ab, der zum Revisionisten des reinen Mysto-Punk geworden zu sein scheint. Diedrich Diederichsen fordert, in einem Anfall ungekannter Milde: Fairness für einen Verräter.

Früher, als Kind, zog ich vorm Spiegel immer die Augenbrauen hoch, damit die Stirn kleiner und der Eindruck, der Pony sei gewachsen, meine Haare seien „lang“, so lang wie die der Beatles, etwas weniger illusionär schien.

Dann kam das weiße Album der Beatles, und John Lennons Haare waren auf so eine uneinholbare Länge enteilt, daß man es grad hätte aufgeben können. Haare. Haare. Überall Haare. Mädchen haben lange Haare, und eine Generation wollte sein wie die Mädchen. Das war allemal einfacher, als ein Mädchen zu besitzen: selber eines werden.

Daß Ian Astbury sich heute soviel auf seine langen Haare einbildet, läßt sich nicht erschöpfend damit erklären, daß es, wie er meint, das Letzte an Non-Konformismus sei, wenn man heutzutage „wieder“ lange Haare trägt. Vor circa einem Jahr gingen so komische nach hinten geföhnte neue Langhaarfrisuren für Männer durch die abgefucktesten Zeitgeist-Illustrierten. Vielleicht hat es eher was zu tun mit dem noch weniger originellen Gerede von der Treue zu sich selbst, das Astbury gerne anstimmt, mit dem man es sich aber nicht zu einfach machen sollte, denn hier ist offenbar wirklich jemand einen recht dornenvollen Weg zu einer Identität gegangen; mit einer stumpfen Machete von Kid-Selbstbewußtsein durch den Style-Dschungel der frühen 80er.

Dabei herausgekommen ist keine hassenswerte, zusammengekleisterte Popstar-Not-Identität (sprich: Lebenslüge), sondern die Wiederbelebung des „Typ“, mindestens eine produktive Lebenslüge also.

Astbury hat ja keinen kunstvollen, interessanten Langhaarschnitt, er hat die alte Mittelscheitel-Filz-Matte, die einen „Typ“ von allen anderen Menschen unterschied, jedenfalls zwischen 69 und 74 in Hamburg. Ein „Typ“ war einer, der eigentlich eher durch seinen Habitus, seine Frisur und seinen charakteristisch-coolen Tonfall auffiel, der aber in allen Segmenten der Subkultur zu finden war, bei den K-Gruppen, den Nur-Kiffern, den Anarchos, aber auch bei uncoolen Gruppen wie den „Revis“ (DKP etc.). Der „Typ“ redet nicht viel, ist früh vergreist, gehört zur Avantgarde des Alles-nicht-so-verbissen-Sehens und schafft sich durch seine Matte einen Haufen Probleme vom Hals. Unter anderem die Mädchenfrage, die ihn zu uncoolem Verhalten nötigen würde, hätte er nicht das Problem durch Einverleibung bereits gelöst. Die meisten Typen hießen Jörg, Jürgen, Michael und Thomas.

Wie wird nun einer wie Ian Astbury zum späten Denkmal des „Typ“. Er ist einer, der sich schon immer gerne gestylt hat, der also nicht ohne Bewußtsein irgendwie aussieht, und er benutzt sein vermeintlich ureigenes Äußeres mit demselben Selbstbewußtsein wie die starken Worte, die vor allem in letzter Zeit die Texte seiner Gruppe durchziehen: „Revolution“, „Love“, „Glitter“, „Nirvana“ etc. Auch wenn wir bald darauf erfahren, daß er mit „Revolution“ nicht dasselbe meint wie jeder andere Mensch, nämlich gewaltsame politische Veränderung, und statt dessen das Wort in der Bedeutung von „Change“ verwendet und nur deswegen nicht gleich „Change“ geschrieben hat, weil „Revolution“ besser klingt, so sieht man doch durchgängig, daß hier jemand das Gespür dafür hat, irgendwelche starken, toten Zeichen zu besetzen, um deren genaue Bedeutung er vielleicht nichts weiß, aber deren Kraft er spürt.

Und da liegt vielleicht auch das Problem. Gruppen wie The Cult gelten als mystisch verquast, weil die Köder aus der Welt der entschlossenen Gesten, die sie auslegen, die begierig zubeißenden Jung-Intellektuellen nur zu anderen jungen Männern führen, die mindestens ebenso verwirrt sind wie sie selbst. Was zu einer Enttäuschung führt, die für Erkenntnis gehalten wird und in Wirklichkeit nur ein Mißverständnis ist. Ein Mißverständnis von Pop.

Astbury hat keine Idee zu all den starken Worten, nur ein Gespür für Stärke und Wirksamkeit, was wiederum sein eigentliches Publikum, zu recht, an ihm schätzt. Wenn einer verwirrt ist, und das ist ja zunächst mal keine Schande, adelt es ihn mehr, wenn er sich nur an den großen Worten, die für ihn kraftvoll-sinnstrotzendes Leben verheißen, orientiert, als wenn er sich an kleinen, mickrig-pfiffigen Lebensweisheiten, die mit kleiner, sympathischer Woody-Allen-Geste daherkommen, aufgeilen würde. Wer das Gegenteil behauptet, versteht nichts von Pop-Musik.

Ich für meinen Teil habe es genossen, wie diese viel zu weiche Heavy-Metal-Band sich langsam ein Feld schafft, wo ihre Verwirrungen mindestens live vor einem Haufen altersloser Berliner Rock-Fans, die ihre Idole mit Rufen wie „Jetzt aber volle Pulle!“ anfeuern, zu feurigen, langweiligen Mahnmalen auswachsen. Das Mahnmal des „Typs“ bzw. des Poor boy, dem nichts anderes übrig bleibt, als …, und anderer relevanter Leichen aus dem Rock-Bestiarium. So was ist besser als die verschmitzte gute Single und besser als die edelgute LP, es ist naturgemäß weniger als nichts gegen die Pogues und John Lennon und John Lee Hooker, aber, recht krass, Musik zur Zeit.

Mit The Cult ist es heute so wie früher mit Bauhaus, dann mit Theatre Of Hate, dann mit Alien Sex Fiend und Cocteau Twins: Alle wollen was drüber lesen, keiner will was drüber schreiben.

Umgekehrt verhält es sich zum Beispiel mit Jazz: Jeder will drüber schreiben, keiner will drüber lesen. Wer auch zählt die Berge der unaufgefordert eingesandten Winston-Tong-, Blaine-Reiniger- und Tuxedomoon-Artikel, wer trägt sie ab? Bei Cult dagegen kramt der Schreiber in der Regel so lange im ideologischen Müllhaufen, bis er der Band messerscharf ihr Irregeleitetsein beweisen kann. Ich wollte jetzt endlich einmal fair sein.

Ian Astbury: „Die Zeichen auf unserem Cover bedeuten eigentlich nichts, gerade weil heute alles so bunt und psychedelisch ist, wollte ich eigentlich ein Cover ganz ohne Symbole, bis auf dieses hier, ein ägyptisches Feuersymbol, also was ganz Simples, Schweres. Der Rest ist nur Design und völlig willkürlich.“

Astbury, der selber den Begriff „mystische Scheiße“ verwendet, um das zu beschreiben, was der Band in der Regel nachgesagt wird, kriegt zwar noch eine Bemerkung über indianische Lehren hin, die ihm der intolerante Hippie-Jäger in mir vorhalten könnte, aber in dieser Hinsicht kommt doch selbst bei den einwandfreiesten Figuren im Laufe eines Nachmittages einiges an Scheiße zusammen. Pop-Musiker sind nun mal so und Jazzer sowieso die mit der meisten Mystik in der Matschbirne.

Vergessen wir also einmal die allzugerne angenommene Analogie zwischen Wall-Of-Sound auf der Bühne und unkonturierten Gedanken im Privatleben (also Wall-Of-Sound im Hirn), die ist nicht nur falsch, sie hilft niemandem.

Die Anfänge seines Musikerlebens vergleicht Astbury gerne mit The Jesus And Mary Chain. So wie die heute war seine erste Band, Southern Death Cult, seinerzeit noch blutigste Amateure, Opfer und Nutznießer eines Hypes der damaligen NME-Grundwerte-Kommission. Der Startschuß zum sogenannten Positive Punk. Was statt dessen in Wirklichkeit begann, war die Liaison aus Culture Club und Heavy Metal, also effeminiertes Styling plus gebremsten Macho-Lärm, eine echte hermaphroditische Mixtur, die heute nach der vierten LP ein veritables Massenpublikum erreicht.

„Als ich 1980 nach längerem Kanada-Aufenthalt nach England zurückkehrte, hatte ich von Musik keine Ahnung, aber ich stand schon drauf, mich anzuziehen (to dress up) und auszugehen.“ Nur Cult-Gitarrist Billy hätte in seiner Jugend von Stooges bis Thin Lizzy alles durchgehört, bevor er über Theatre Of Hate zu The Cult kam.

Man einigt sich nach den interessant-krachigen, versponnenen Irrungen als Southern Death Cult und Death Cult als The Cult auf Heavy Metal mit menschlichem Antlitz, wofür die Information nicht unwichtig gewesen sein mag, daß Heavy Metal nicht immer von Musikern gespielt wurde, die wie Vergewaltiger und Mörder aussehen, sondern daß es die historische Phase gab, als Heavy Metal mit lieb-prophetischen Hippie-Gesten und bewußtseinserweiternden Lichtspielen zusammenfiel. Die englische Presse sieht in dieser Image-Rückkehr zu den unschuldigen Prä-Hooligan-Tagen des Heavy Metal die im Zusammenhang mit Cult immer wieder beschworene Renaissance der wahrhaftig größten Hard-Rock-Band aller Zeiten: Led Zeppelin.

Was allerdings völlig falsch ist. Daher hier in wenigen Worten die Geschichte der Gruppe, die Heavy Metal oder Hard Rock erfand. Jimmy Page, ihr Gitarrist, hatte als Studiomusiker für die erste Kinks-Single „You Really Got Me“ das erste Heavy-Riff der Geschichte aufgenommen (so 1964 ungefähr), bei den Yardbirds hat er oft ganze Songs lang puren Lärm gespielt, Arto Lindsay wie The Jesus And Mary Chain vorwegnehmend. Led Zep selber erfanden die Technik der krassesten Stimmungswechsel, immer gerne zwischen akkustischem Gezirpe und kräftigsten Gitarrenlärm pendelnd, und ihr Sänger Plant war der erste und beste aus der Schule der Urschrei-Tenöre, die heute so nachhaltig und stilbildend gewirkt hat. Led Zep hatten im Schnitt pro Song fünf unterscheidbare, markante Ideen, und damals war es cool, viele Ideen zu haben und damit verschwenderisch umzugehen. Das ist seit Punk anders, und The Cult haben mehr mit der Punk-Idee zu tun, daß es stärker auf Ausstrahlung und Haltung ankäme, als auf die vielen Ideen; viele Ideen in wenigen Minuten unterbringen zu wollen, gilt noch heute, siehe die Kritik an den Sting Rays im letzten Psychobilly-Artikel, als unfein und Gentle-Giant-mäßig (obwohl man andererseits in der Tat viele Rhythmuswechsel nicht mit vielen Ideen gleichsetzen kann).

Ian Astbury sieht ebenfalls keine Verwandtschaft mit Zep, aber er glaubt, daß Punk eh auf Heavy Metal hinauslaufe, und seine Lieblingsband ist AC/DC, aber jetzt hat er gerade MC5 entdeckt, das Live-Album „Kick Out The Jams“. Er ist 23: „Wenn man das so sieht, könnte man glauben, es ginge da um langweilige, deprimierende, öde Fuck-The-System-Parolen, aber es war ein Spaß, ein Ereignis, eine große Sache.“

Wenn man 23 ist, bis 1980 in Canada war, gibt es eben noch viel zu entdecken. Ian redet viel davon, daß man nach engstirnigen Anfängen als Alternativ-Band gelernt hätte, anderen mehr zuzuhören. Rainald Goetz, der beim Interview dabei ist, wendet ein, daß es ungemein stärkend sei, den anderen, von denen man weiß, daß sie dumm sind, einem nichts zu sagen hätten, gar nicht erst zuzuhören. Ian: „Aber wie soll man das vorher wissen? Ich bin doch nicht Gott.“

Nein, das nicht, so sieht Ian nicht aus, eher wie Neil, der Hippie aus der englischen TV-Serie „The Young Ones“, also die klassische „Typ“-Parodie und damit natürlich auch etwas Jesus-mäßig, so predigt er auch, allerdings realistisch und ohne Aufhebens und Brimborium von einer Sache, die er das „wirkliche Leben“ nennt (hier ein Auszug aus DEM INTERVIEW, wie es das tibetanische Totenbuch für alle Zeiten vorschreibt):

„Früher habe ich immer das gemacht, was andere von mir erwartet haben, aus Angst vor Liebesentzug. Inzwischen hab ich gelernt, das zu tun, was mir entspricht, und nichts auf die Erwartungen der anderen zu geben.“

Aber ist nicht gerade das das Spiel der Pop-Musik, das man immer Erwartungen ostentativ erfüllt oder die Erfüllung verweigert.

„Ja, das ist die Falle, in die so mancher getappt ist, aber nicht wir. Wir hätten es sehr leicht gehabt, unsere Platte nicht ‚Love‘ zu nennen und nicht lange Haare zu tragen.“

Aber gerade diese Unterscheidungsmerkmale machen eure Bedeutung auf dem Markt aus, wie glaubst du denn zu vermeiden, daß deine Entscheidungen nicht ein Teil des allgemeinen Spiels sind?

„Durch Treue zu mir selbst.“

Und wie findet man heraus, was man selbst ist (ach, die schönen, alten Fragen)?

„Indem man einfach irgendwas macht und sich dann die Quittung geben läßt. Als Jugendlicher macht man sich zum Beispiel Sorgen über Sex. Man hat zum Beispiel Angst als Junge mit einem Jungen zu schlafen. Dabei macht das doch in Wirklichkeit jeder. Als ich 16 war, habe ich auch mit einem Jungen geschlafen, und erst später, als ich das erste Mal mit einem Mädchen geschlafen habe, habe ich herausgefunden, was gut für mich ist.“

Nach diesem rührenden Try-and-Error-System hat man auch den Weg von der Hype-Band über die Bannerträger eines Underground-Movement zur Wir-sind-für-alles-offen-Band mit Berliner Volle-Pulle-Publikum geschafft. Bob Dylan dagegen gibt eher Rainald recht, wenn er sagt: „We recorded that album, and I didn’t know what to make of it. Lots of times people will get excited and they say, ‚this is great, this is fantastic‘. But usually they’re full of shit. They’re just trying to tell you something to make you feel good. People have a way of telling you what they think you want to hear – anytime I don’t know something and I ask somebody, I usually know less about it after I asked than before.“

Und deswegen wurde er auch Bob Dylan mit all seinen zeitlosen Wunderlichkeiten. The Cult dagegen sind auf diesem Wege groß geworden und haben exakt seit ihrer letzten LP – wie mir aus gut unterrichteten Kreisen berichtet wird, wegen ihres zu kommerziellen Bass – ihr ursprüngliches Mysto-Punk-Publikum verloren, die wenigen, die sehr an sie glaubten, und haben jetzt ein Publikum aus vielen, die ein wenig an sie glauben.

Darüber sind sie zeitgemäß geworden, auf breiter Ebene, so daß jeder sehen kann, auch der, der sich keine Mühe gibt, was die Zeit so zu sagen hat. Noch eine LP und der „Stern“ macht einen Artikel, daß die jungen Leute die 70er wiederentdeckt haben. Und es wird sich dann sicher einer finden, der dem „Stern“-Reporter den Namen Led Zeppelin buchstabiert: L.E.D. neues Wort Z.E.P.P.E.L.I.N. Ich denke dagegen, daß man mehr nachdenken sollte, heute, über William Duffy, der den Wall-Of-Sound gelegentlich mit etwas Wah-Wah-Soli auflockert und in seinen besten Momenten an James Litherland, den Sänger und Gitarristen der ersten beiden Collosseum-LPs sowie später Leader der famosen Moguls Trash, erinnert. Das ist der einzige, kleine, winzige Zug von Größe, den ich entdecken kann an einer ansonsten völlig akzeptablen, realistischen, unprätentiösen, zeitgemäßen Band für die jungen Leute von heute.

„Das Problem“, darin sind sich Ian und ich wieder einig, ist heute, daß die Schreiber langsam wieder älter als die Musiker sind. Wie damals in den ersten Punk-Jahren. Die Lösung, wie man nicht ständig an die blöden Punk-Jahre, an ihre Zehnjahrfeier, an ihre teleologisch herbeigesehnte Wiederkehr und die inkompetente Interpretation all dessen durch Zeitgeist-Blätter und andere Feinde denken muß, ist Mut zur Langeweile: volle Pulle, lange Haare, Heavy Metal für Softis.