Die Rastas sagen, daß der, der kein „Ital Food“ (= ihren Auffassungen entsprechend gesunde Nahrung) esse, vom Reggae-Baß den Magen umgedreht bekäme. Passiert ist das bisher in keinem bekannten Fall. Anders bei Throbbing Gristle – Peter Christophersons Geräusche haben tatsächlich schon manche Leute zum Kotzen gebracht.
Drei Konzerte gaben TG diesen November in der BRD, ihre ersten Auftritte außerhalb des britischen Königreiches, und schon beim dritten Gig – in Frankfurt – kam es zum Eklat, wurde Bier (nach anderen Berichten Rotwein) über Teile der Anlage gegossen und nur weil die Instrumente so sorgfältig gesteckt waren, waren keine Toten in der Band zu beklagen. Nach zwei ganz normalen Konzerten in Berlin gerieten TG in Frankfurt unfreiwillig wieder in die Zone, die ihr Image, ihren Nimbus ausmacht: Gewalt, Verwirrung, Brutalität.
Vor den beiden Berliner Gigs wurde jeweils der Throbbing-Gristle-Film „After Cease To Exist“ aufgeführt, eine Kastration vor der Kamera, oder besser: wie man einen Schwanz seziert (auch hier regelmäßig Übelkeit, Ohnmachtsantalle). Der Soundtrack zu diesem Film bildet die zweite Seite der ersten LP von TG. THE SECOND ANNUAL REPORT von 1977, die A-Seite enthält verschiedene Live-Aufnahmen, vorwiegend des Titels „Slug Bait“: I get your husband to your front bedroom / I cut his balls off with my knife / I make him eat them right there / In front of his pregnant wife / … / I look at your big heavy stomach / It’s already moving a bit with your baby / I use the carving knife from your kitchen / I start to perform the operation / … / I pull out your baby / I chew his hand off with my teeth / I lick him clean / It’s obscene / As you bleed to death I kill it / I’m just a wicked boy“ – Dieser Härte entsprechend waren die frühen Auftritte TGs aggressive Negation des geläufigen Konzert-Ablaufs, extreme Versuche den Zuschauer in Verwirrung zu versetzen, um ihn dann in diesem Zustand hart zu treffen. Da gab es einen Auftritt, bei dem sich die Gruppe hinter Wänden verbarg und eine Video-Installation ihr Bild nach außen übertrug. Es kam oft zu Schlägereien, Skandalen und überall gab es wütende aufgebrachte Zuschauer, jeder war auf seine Art provoziert. Das war der Krach der frühen Jahre.
Throbbing Gristle entstand 1975. Mitglieder waren und sind Genesis P. Orridge, Texter, Verfasser von Manifesten, Künstler von internationaler Reputation in diversen Metiers, und Sänger; Chris Carter – Synthies, Rhythmusgeräte, Organisator des Band-eigenen Labels Industrial Records: Cosey Fanni Tutti – Gitarre, Synthies, schöne Frau, nebenberuflich Striptease-Tänzerin und Ex-Porno-Darstellerin und Pete Christopherson – Operator diverser selbst konstruierter elektronischer Maschinen.
Man lebte am Anfang gemeinsam in einem Fabrikgebäude („Death Factory“) bei London und arbeitet(e) gemeinsam an Musik. Alleine und gemeinsam an Filmen, Aktionen, Texten etc. Am bekanntesten wurden dabei die Projekte von Genesis, dem Mann des Wortes in der Gruppe. Seine Burroughs-Verehrung etwa, mit dem er schließlich zusammentraf, sich austauschte und momentan eine LP aufnimmt.
Doch die Musik bekam mehr und mehr Wichtigkeit. Throbbing Gristle lernte die Lektion, die schon viele Künstler lernten, daß Musik in unserer Zeit das Medium ist, das Avantgarde-Gedanken immer noch am weitesten trägt. Obwohl TG bis heute, also in fünf Jahren nur 37 mal live aufgetreten sind, spürt man auf ihrer zweiten LP, THE THIRD AND FINAL REPORT, wie intensiv sich TG zwischen 77 und 78 ihrer Musik ausgesetzt haben. SECOND ANNUAL REPORT führt radikalen, aber verhangenen, konturenarmen Synthie-Lärm vor, der den Zuhörer zwar plötzlich und unmittelbar körperlich treffen kann, um sich dann aber wieder endlos durch die Rillen zu nudeln. THIRD AND FINAL REPORT dagegen führt kürzere organisierte musikalische Einheiten vor, erfüllt den Gebrauchswert einer Schallplatte, ohne an Radikalität einzubüßen. Im Gegenteil: mehr Schärfe, mehr Dichte, mehr Konzentration.
Throbbing Gristle verarbeiten hier viel konkretes Material (Briefe, eingesandte Kassetten – wie etwa den Brief eines amerikanischen Krankenpflegers über dessen Horrorerlebnis mit einer von der Taille aufwärts völlig verbrannten, aber lebendigen Frau, die er die Hamburger Lady nennt – TG haben seinen Brief vertont und auf dem Cover abgedruckt). Ebenso werden Statements zu den einzelnen Musikstücken (Entstehungsgeschichte, Umfeld) veröffentlicht, die TG kommunizierbarer, offener und einsehbarer werden lassen. Bis heute ist die Korrespondenz, das Feedback ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Alle Konzerte werden mitgeschnitten und die Kassetten den ca. 2000 TG bekannten Briefautoren zugänglich gemacht, einzelne Fans machen Konzerttouren mit oder mixen mal einen Gig. Während mir Genesis das in Berlin zwischen den beiden Gigs erzählt, sitzt ein solcher TG-Supporter mit im Zimmer, ein junger Engländer, den man nach seinem äußeren Erscheinungsbild eher für einen Cure- oder gar Police-Fan halten würde.
Ihre vierte LP, HEATHEN EARTH – CAN THE WORLD BE AS SAD AS IT SEEMS?, wurde vor geladenen Fans in der „Death Factory“ mitgeschnitten. Zwischen den aggressiven und provokativen Begegnungen mit dem größeren Rock-Publikum (Platte, Konzert) steht bei TG also immer die Kommunikation im Kleinen, der kontinuierliche Austausch. Dies schuf für TG eine Basis, die es ihnen möglich machte, auch nach der frühen Schockphase effizient weiterzuarbeiten. „Wir machen solche Auftritte nicht mehr. Wir haben das gemacht, wir wissen wie es ist, wir haben unsere Erfahrungen gemacht.“ Das Thematisieren gröbster und härtester Exzesse von Gewalt, das TG z.B. im NME eine totale Ablehnungsfront einbrachte (auch wenn erzählt wird, das hätte persönliche Ursachen), ist heute abstrakteren Themen gewichen. Texte wie „Slug Bait“ und „Urge To Kill“ oder der Auschwitz-Song „Zyklon B Zombie“ sind auf der dritten TG-LP mit dem „ironisch/mehrdeutigen“ (TG) Titel 20 JAZZ FUNK GREATS nicht mehr zu finden. Ebenso verzichtet diese Platte auf Geräuschkollagen, man findet fast überall einen, wenn auch oft minimalen, tonalen musikalischen Aufbau und ein, zwei kleine Synthie-Instrumentals, die einfach nur hübsch sind.
Ein anderes musikalisches Talent TGs begann sich zu entfalten. Cosey: „Es gab eine Phase in der wir oft geübt haben, wir spielten so oft zusammen, daß uns die Musik zu schleimig wurde. Heute spielen wir nur noch bei Konzerten, für Plattenaufnahmen und wenn wir neue Instrumente ausprobieren.“
Bei dem TG Konzert in Berlin lernte ich, daß den Texten, der Präsentation in vergangenen Zeiten und anderem außermusikalischen Beiwerk im Falle TG zuviel Gewicht beigemessen wurde, Man kann über „Slug Bait“ denken was man will: „Realismus“ oder „Abscheulich“ , mir gefällt die Attitüde des Unbedingten, des so-hart-wie-es-geht, aber all das bedeutet nichts, wenn man nicht die Musik erlebt hat, am besten live erlebt, It don’t mean a thing if it ain’t got that Swing!
Im SO 36, jenem herben, länglichen Kerker, ist es halb voll und nur halb dunkel. Ich komme zu spät. Auf der Bühne drei Männer in Kampfanzügen, eine Frau in Leder: Cosey sitzt mehr oder weniger unbeweglich im hinteren Bühnenteil und bearbeitet dem Publikum abgewandt ihre Gitarre, ein introvertiertes Lächeln umspielt Pete Christophersons Lippen, während er auf größtenteils selbst konstruierten elektronischen Gerätschaften die Klänge fabriziert, die das spezifische Fluidum der meisten TG-Platten ausmachen: von den schlaftrunkenen Erörterungen („United“ „Persuasion“) über die Attacken (Zyklon B Zombie“, „Urge To Kill“) bis hin zu den Fast-Liedchen und dem neuen Hit: „Something Came Over Me“. Chris Carter steht langhaarig und rätselhaft am Ende des Horizonts und fabriziert Rhythmen, die Blicke konzentrieren sich auf Genesis, den Sänger und Chef-Ideologen mit der weiblichen Physiognomie. Er singt live genauso schnarrend, einfräsend auch ohne elektronische Stimmverfremdungen. Seine Bewegungen sind, egal ob gerade heftig oder zurückhaltend-diszipliniert, immer absolut suggestiv und prazise. Daß er bei einem Song wie „Something Came Over Me“ Wichsbewegungen macht, mag gelesen zu platt und banal wirken. Gesehen ist es absolut richtig. Bei „Discipline“ verfällt er nicht in modische Devo-Robotwerk Zackigkeit. Seine körperliche Verarbeitung von Musik ist nie pantomimisch, fool-esk. Die Leute, die von „Performance“ reden, irren: es war ein Konzert. Dem Zuspätkommenden erschien es, nachdem er sich nach vorne gewühlt hatte, beim Betrachten der Gesichter im Publikum so, als wäre er mitten in die TG-Welt versetzt: lauter kleine wahnsinnige Mörder, lauter Ed Kempers mit einem Drang zum Töten. Natürlich waren es in Wirklichkeit lauter nette aufgeschlossene junge Leute, aber das Konzert war eben gut, führte suggestiv vor, warum TG die doch etwas platte Frage: „Kann die Welt so schlimm sein, wie es scheint?“ zum Programm einer LP erheben.
Genesis: „Musikalisch sind unsere Konzerte überhaupt nicht geplant oder eingeübt, wir verarbeiten einfach die Eindrücke des Tages, der Räumlichkeit, der Stadt“ – Aber es gab doch Momente unglaublich stimmiger, aber sehr komplexer musikalischer Inszenierung – „Kann sein, daß du es so hörst, natürlich gibt es Stellen, die vage festgelegt sind, aber gestern sagte Cosey zum Beispiel zu mir ‚Ich möchte, daß du „Discipline“ so und so singst‘, und ich tat es, so entstehen unsere Auftritte“… „Und deshalb haben wir auch Angst vor einem zweiten Konzert, wir haben den Leuten im SO alles gegeben, was wir ihnen geben konnten, wir haben zu dieser Stadt gesagt, was wir dazu zu sagen hatten“, erläutert Cosey. Tatsächlich war dann auch das zweite Konzert ein energieloser Abklatsch vom ersten Konzert, erwähnenswert war höchstens der Auftritt von Non alias Boyd Rice vor fünfzig Übriggebliebenennach dem Konzert.
Der Gesamtkomplex Throbbing Gristle vermittelt eine Vielzahl zum Teil widersprüchlicher Anregungen und das intensiv. Z.B. der ständig präsente Widerspruch zwischen der Ausgeglichenheit, den fast sanften Charakteren und den Greueln, die sie vorführen. Oder auch zwischen Genesis großem Output an Formulierungen, Erklärungen und Manifesten einerseits und der Weigerung Erwartungen, Gedanken etc. zur Musik zu präzisieren, sich festzulegen.
„Der totale Krieg wurde zum Informationskrieg und wir sind mittendrin“ heißt ein Essay von Genesis P. Orridge, den man auf deutsch „Amok Koma“ (siehe Buchbesprechungen im letzten Heft) nachlesen kann. Darin heißt es unter anderem:
Ich bin (…) der Ansicht, daß seit den frühesten Stammeszeiten, durch Ansiedlung und Städte und Industrialisierung hindurch bis zum heutigen Tag, ein beständiger, endloser Prozeß ablief. Diesen bezeichne ich als Kontrollprozeß, und er existiert unabhängig von irgendwelchen Individuen. Dieser Kontrollprozeß kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt von fast jeder Interessengruppe für ihre überkommenen Interessen eingesetzt werden (…) Seine entscheidende Stärke liegt darin, daß er die Information unter Kontrolle hat. (…) Der Feind ist also der Kontrollprozeß, und dessen Macht gründet sich letztlich kaum auf Militär und Polizei, ist keine Sache brachialer Gewalt (…) die wirkliche Macht hat der, der die Information hat. (…) Die Schwäche derer, die an den Kontrollhebeln sitzen, liegt darin, daß sie eine sehr einseitige Perspektive haben, während wir die Outsider, die genetischen Terroristen oder Kontrollagenten, wie wir bei TG dazu sagen (was nicht heißt, daß wir Kontrolle ausüben, sondern, daß wir uns mit ihr auseinandersetzen), die Fähigkeiten des Mutanten haben, Bewußtseinssprünge zu machen. Genau das sagt man ja kreativen Menschen nach, oder Künstlern oder talentierten Kriminellen: daß sie die Dinge in größeren Zusammenhängen erkennen, Strukturen von außen analysieren (…) In inspirierten Momenten fliegt der Sand in so manches Getriebe…
Auf dieses Manifest und seinen Zusammenhang mit der konkreten TG-Arbeit angesprochen, will Genesis sich zunächst nicht festlegen: „Das zu beschreiben, das würde zu weit führen. Was zwischen uns und dem Publikum geschieht… ist, nun ja, sehr komplex“
Aber könntest du die Vorstellung von Subversiven und Rebellion aus deinem Aufsatz erläutern?
„Wir brauchen keine Rebellion, wie sich etwa viele Punks das vorstellen, durch Konfrontation mit der Staatsmacht etwa. Das ist sekundär. Was ich mir vorstelle ist eine alien culture, eine fremdartige Gesellschaft mitten in Gesellschaft, die langsam von innen kommt. Sieh dir die Leute an, die zu unseren Konzerten kommen: Sie sehen unauffällig aus und wohnen in Suburb-Appartements. Aber sie denken und leben in einer Weise, die sich die Herrschenden nicht erklären können…“
Auf dem von Throbbing Gristle geleiteten Label „Industrial Records“ erschienen neben vier Throbbing Gristle LPs und drei Singles diverse sehr unterschiedliche Singles: zwei von Monte Cazzaza, einem mit TG befreundeten, ebenfalls sehr radikal arbeitenden kalifornischen Performance-Künstler. An diesen Platten sind TG-Mitglieder beteiligt und die Geistesverwandschaft von Cazzaza’s Arbeit mit TG ist eh evident. Das Gleiche gilt für Surgical Penis Klinik, eine australische Gruppe, bei der ja schon der Gruppenname an „Cease To Exist“ erinnert. Aufgescheucht reagierte jedoch mancher auf Dorothy’s „I Confess“ und Elisabeth Welch’s „Stormy Weather“. Das erstere ist naiv-gerissener Pop, an der B-Seite hat sogar Genesis mitgewirkt, das zweite charmanter, verträumter Salonjazz. Beides ist sehr geschmackvoll und überzeugend, aber für den ernsten Hardcore-TG-Fan unerträglich. Von dieser Seite hörte man ja auch gegen „Something Came Over Me“ und die anderen neuen TG-Single-Beiträge empörte „Das-ist-ja-kommerziell“-Verwünschungen.
Genesis: „Wir werden noch mehr solche Dinge machen. Wir sprechen von „Exotic Music“. Im Moment hören wir viel von Martin Danny. Das war auch die Musik, die gestern nach dem Konzert vom Band gekommen ist (ein höchst eindrucksvolles, melodisch-seltsam organisiertes und verfremdetes Bar-Piano-Geklimper – der Verf.). Er ist ein Amerikaner, der auf Hawail lebt und mich zur Zeit stark beeinflußt.“
Genesis P. Orridge ist der leiseste Interviewpartner, den ich je hatte. Auf dem Band ist er kaum zu verstehen, obwohl er sich sehr deutlich artikuliert. Alle, die mit TG in Deutschland zu tun hatten (ich incl.) berichten übereinstimmend, wie nett und menschlich sich TG verhalten, ganz im Widerspruch zu ihrem Image. Die Zöllner an der Grenze Westberlin/DDR haben sie erkannt und gleich gesagt: „Ah, Throbbing Gristle, ihr spielt doch heute abend im SO 36, wir hatten euch schon erwartet.“
Nach den Konzerten inspizierte die Gruppe die Berliner Strip-Tease Lokale. In einem Porno-Shop entdeckte Cosey einen alten Film in dem sie mitgewirkt hatte. Dies war der erste nicht endgültige Report über Throbbing Gristle in SOUNDS. Weiterführendes Material gibt es genug (etwa im Jahrbuch „The 80s“ von Jürgen Kramer oderin „Amok/Koma“), die Platten hat jeder gute Import-Händler, wenn nicht, übt Druck aus! Als Einstieg eignet sich am besten THE THIRD AND FINAL REPORT. In inspirierten Momenten fliegt der Sand in so manches Getriebe.



