To act in 8551 Weißenohe, Mai 80

„Mit dem Fahrrad und ’ner Mundharmonika“, kräht Ari-Up, während sie hospitalistisch im Kreis läuft und die anderen beiden Slits, lächelnd, aber diszipliniert, sich an Gitarre und Baß auf den Beginn des nächsten Songs konzentrieren. „Die heilige Schrift sagt: ‚Am Anfang war das Wort‘, aber das stimmt nicht. Am Anfang war der Rhythmus!“. So kündigt Ari die deutsche Fassung der letzten Slits-Single „In The Beginning There Was Rhythm“ an. Ja, die Slits sind auch ein Teil der neuen deutschen Welle. Jedenfalls für einen Abend.

Als ich die Tourneedaten für die erste BRD-Tour von zwei meiner Lieblingsgruppen, Slits und Pop Group, sah, mußte ich feststellen, daß kein Termin in Hamburg dabei war. Außer in Köln spielten die Bands nur in Weißenohe, also nahm ich die Gelegenheit wahr, mir das „To Act“ in Weißenohe anzusehen. Ein legendärer Club mitten auf dem Land, fast der einzige in Süddeutschland, in dem man neue Musik hören kann, und damit auch ein wichtiger Treffpunkt für alle Punks, Avantgardisten, Künstler und Selbstdarsteller aus Orten wie Nürnberg, Hof, Regensburg, Stuttgart, München, Bayreuth etc.

Der Intercity huscht von Metropole zu Metropole, und das bißchen Grün dazwischen ist für die Reisenden nur eine unwirkliche Kulisse, wie die abstrakten Muster, die man vom Flugzeug aus wahrnimmt.

Die Kleinbahn von Nürnberg-Nordost nach Weißenohe dagegen, die sich träge und alt durch die Landschaft quält, für die jeder Ast, der über die Gleise hängt, ein Hindernis zu sein scheint, macht mir erst klar, wo ich bin: in jenem Gebiet, bestehend aus Kirchen, Feldern, Bergen, Wäldern, Gehöften und Einfamilienhäusern, das man Land nennt, oder kulturgeografisch: Provinz.

An der Endstation der Kleinbahn holen mich die Fotografin Sabine und ein Aufsichtsratsmitglied eines Hamburger Punkkonzerns ab, der hier als Veranstalter fungiert. Durch ein paar Kopfsteinpflastergäßchen fahren wir zum „To Act“. Mitten in einem Dorf in unscheinbares Gebäude, an dem Graffitis wie „Tom Verlaine Superstar“ prangen. Eine kleine Schiefertafel, die wohl normalerweise benutzt wird, um Tagesgerichte anzukündigen, ist vollgeschrieben mit Namen wie lggy Pop, Robert Fripp – die nächsten Konzerte im „To Act“.

Der Veranstalter baut einen Tisch mit deutschen Platten auf und ich helfe ihm beim Verkaufen. Ari Up tanzt derweil einen Reggae-Schuhplattler mit „To Act“-Besitzer Robert Henfling. Die ersten Enthusiasten, die auf den obskursten Wegen in dieses abgelegene Dorf gefunden haben, treffen ein. Meistens bleibt man an unserem Tisch stehen und diskutiert die deutschen Neuerscheinungen. Fanzines werden uns auf den Tisch gelegt. Zwei Erlanger unterhalten sich mit Leuten aus Stuttgart. „Was machen die Geisterfahrer?“, „Ist die Abwärts-Single fertig?“, „Gibt es schon eine neue DAF-LP?“, „Wir wollen eine Single machen, könnt ihr uns helfen?“ – Jeder scheint hier in einer Band zu sein oder ein Fanzine zu machen. Was auffällt, ist, daß es hier noch nicht wie in den Großstädten die Konflikte zwischen Avantgardisten und Punks zu geben scheint, wer GERI REIG vom Plan kauft, fragt auch nach der Razors-LP usw.

„Jetzt geht’s aber los, ich bin aus Bayern“, ruft Ari. Die Slits sind ganz großartig an diesem Abend. Mit deutschen Versionen von Reggae-Klassikern („Die wissen gar nicht , was sie da singen“, Ari über die anderen beiden Slits) und den größten Slits-Hits, unterstützt vom Pop-Schlagzeuger und einem Pop-Group-Multiinstrumentalisten, versetzen sie auch ohne Sechzehntel und durchgeschlagenen Beat alle in Bewegung, auch die mit den Angelic Upstarts-U.K. Subs-Stiff Little Fingers-Badges und Jacken.

Bevor die Pop Group auftritt, legt sie, wie das die Slits mit einem Reggae-Band getan haben, ein Tonband mit der Musik auf, die sie mögen: Soul. Es geht los mit „We Are Family“ von Sister Sledge dann kommen Motown-Sachen, Stevie Wonder, P-Funk – lauter rote Tücher für einen richtigen Punk. Dick O’Dell, der Manager beider Gruppen, erzählt, daß dieses Band immer eine Provokation, ein Risiko bedeutet. Nicht so in Weißenohe. Während des Pop-Group-Konzerts erleben wir die Geburt des Funk-Pogo. Sehr intensiv.

Während wir mit Robert Henfling noch etwas essen, gehen die beiden Gruppen in den Wald, um zu sehen, wie „der Mond die Bäume küßt“. Im „To Act“ geht der Fanzine-Tausch weiter. Die Leute, die zu einem großen Teil auf gut Glück von weit hergekommen sind, versuchen irgendwelche Mitfahrgelegenheiten zu erwischen. Durch das „To Act“ quiekt der Plan: „Die Welt ist schlecht, schlecht / das Leben schön, schön, schön“. Wo sonst in der BRD kann man nachts um zwei diesen Song hören?

Am nächsten Tag machen wir Ausflüge in die Umgebung: sehen uns Nachbardörfer an, fahren nach Bayreuth und nach Nürnberg. Es ist der 1. Mai, Feiertag. (Der internationale Kampftag der Arbeiterklasse – M. K.) Auf einem Sportplatz spielen ein paar Leute Fußball, andere Tennis. Ein paar Jugendliche fahren mit Mofas durch die Gegend, aber das sind andere Leute als die vom Abend zuvor.

Bayreuth ist eine sehr schöne Stadt, freundliche Menschen, imperial-feudale Architektur. Alles ist langsam, bedächtig, vorsichtig. Kultur: Jean Paul hat hier drei Jahre gelebt. Richard Wagner-Festspiele. Subkultur? Klubs? Plattenläden?

Hier ist jedenfalls auch keiner von denen, die gestern das Publikum ausgemacht haben.

Nürnberg ist auch eine schöne Stadt. Genau das richtige für uns Touristen. Die Pop Group besichtigt das Reichsparteitaggelände, genau das richtige für einen neuen Song. Wo sind hier die Jugendlichen? Ein paar Altlinke in einer Studentenkneipe, ein paar tumbe Discos. Schließlich landen wir in einem Vorort Nürnbergs in einer „Alternativ“-Kneipe. Auch hier keine Zeichen von neuen Lebensformen, sondern genau „unsere Diaspora“, das kulturelle Hinterland, das sich Jörg in seinem Diskurs vorstellt, dessen „Seelen“ wir für neue Gedanken „gewinnen“ sollen. Scorpions-Graffiti an den Wänden, undefinierbarer Gitarren-Prediger-Rock aus den Lautsprechern. „Eine regelrechte Brutstätte des Heavy- Rock ist das hier“, ekelt sich der Aufsichtsrat.

Wo sind sie also nun, die Leute von gestern Nacht, dieses Potential einer neuen „Kulturrevolution“, die so offen und interessiert neuer Musik und neuen Konzertformen gegenüberstehen, die beide Bands zu Höhepunkten getrieben haben? In Köln sollen sie viel schwächer gewesen sein.

War alles nur ein Spuk, wie Ari-Ups Erlebnisse im Wald oder in einer Kirche, wo sie mit einer alten Frau über den Teufel gesprochen hat?

Sind sie buchstäblich im Untergrund verschwunden?

Ist die Provinz die Provinz oder ist sie das Aufmarschgebiet für einen Aufstand gegen die Metropolen?

Einen Tag später war in Hamburg die Straßenschlacht im Karolinenviertel, Mai ’80.