An meinem dreizehnten Geburtstag notierte Peter Weiss in sein Tagebuch, schon mitten in der zweiten Hälfte des Lebens und gerade von schwerer Krankheit genesend1: „Morgens treten wir, ohne uns dessen recht bewußt zu werden, fast regelmäßig, zum Ritual eines Totengedenkens an. Während wir unserem Körper die erste Tagesnahrung zuführen, nehmen wir die Zeitungsmeldungen auf, kauend, schlürfend erfahren wir von den Erschlagenen, Zerstückelten, Verbrannten, Zerquetschten und Ertrunkenen, von den an Krankheit, Schwäche, Auszehrung oder Verzweiflung Zugrundegegangenen, von denen, die es einzeln niederstreckte, paarweise, in kleinen Gruppen, bis zu den Massen, den Ungezählten …“ und so weiter, eine Seite weiter: „Es sind immer andre, die dran glauben müssen, uns kann es nie ereilen, bis du selbst am eigenen Leib erfährst, daß der Morgen sehr nah war, an dem du selbst als Aas auf dem Frühstückstisch liegst und man sich den Nachruf auf dich zwischen Butter und Marmelade aufs Brötchen streicht. Nein, nicht einmal diese Erfahrung kann dich aus deiner Benommenheit reißen, nicht einmal dem geringsten vereinzelten Sterben kannst du zur Hilfe eilen, für kein Grab reicht dein Trauern aus … .“ Was Weiss hier zur Sprache bringt, ist die Unvollkommenheit des aber dennoch unbezweifelten Gefühls, das heute unter dem Namen „Betroffenheit“ nicht zu Unrecht einen schlechten Ruf bekommen hat. Nicht zu Unrecht, weil, wie hier schon zu ahnen, private Ängste sich über größeres Elend zwanghaft stülpen wollen, weil sich die eigene Regression nur am offensichtlichen Elend anderer noch sinnhaft wiedererkennen kann, weil kein Mensch mehr glauben kann, daß Morgenzeitungen oder andere Medien uns etwas so verläßlich und materiell in uns aufnehmen lassen wie Marmelade und Honig. Andererseits ist die Gewißheit, ganz sicher nie den dummen Fehler machen zu können, von irgend etwas wie auch immer ergriffen zu werden, die sich so selbstzufrieden in Texten heute breitmacht, die glauben, nur noch ahnungslos oder satirisch sein zu können, ein Symptom einer Verdrängung, Verdrängung von etwas, was Peter Weiss an anderer Stelle Gedankennot genannt und zum Kriterium der Widerstandsfähigkeit erhoben hat.2
Ich habe verschiedene Worte ausprobiert, um der Arbeit von Künstlern außerkünstlerische Zuordnungen anzubieten. Oder zuzumuten. Diese Zuordnungen gaben nicht nur eine Richtung oder einen Orientierungspunkt für künstlerische Arbeit an, sondern untersuchten gleichzeitig die gegebenen Bedingungen für künstlerische Arbeit, bzw. schon für die Entscheidung, Künstler werden zu wollen; die eingebildeten wie die wirklichen, nur allzuoft tragen beide den gleichen Namen. Diese Begriffe hießen Freiheit, das Soziale, die Gruppe, das Ritual, das Opfer, die Subversion, das Mißverständnis, die Produktivität. Hier kommt ein anderer Begriff dazu, der im Gegensatz zu den eben aufgezählten einen stärker verpflichtenden Charakter zu haben scheint. Aber wie alles verpflichtende, auch etwas beruhigendes; er heißt LINKS.
Es wird einige Gesprächspartner geben, mit denen ich über den Begriff sprechen will: KRS-One, Peter Weiss, Denis Hollier und, weniger explizit but not least, Michel Foucault.
KRS-One: The moral of this story is: there is no moral you have to finish this story for me …3
Der Frage, ob es noch einen Sinn hat, von „links“ zu sprechen, liegen folgende, jedermann zugängliche Beobachtungen zugrunde: 1.) Es gehört nicht mehr zum guten Ton – in der Welt, in der wir uns alle hier bewegen –, sich zur Linken zu rechnen. Im Gegenteil, es gehört zum guten Ton, sich über das, was man neuerdings die Links-Rechts-Differenz nennt, lustig zu machen. 2.) Es scheint plausibel, von links und rechts und den daran klebenden Ausdrücken progressiv und reaktionär nicht mehr zu sprechen, wenn man sich zum Beispiel des Begriffssalats erinnert, der beim Moskauer Putsch entstanden ist: Kommunisten waren Reaktionäre oder Konservative, Antikommunisten wurden Linke oder Progressive Kräfte genannt. Die große Abrechnung mit der Aufklärung, die seit 44 Jahren mindestens läuft, bringt immer wieder als Resultat hervor, daß linke Herrschaft nur eine, meist unerträgliche Abart von Herrschaft schlechthin hervorbringt. 3.) Es läuft ein größeres gedankliches Projekt, das die Unterscheidung zwischen rechts und links den anderen unerträglichen terroristischen Binaritäten zuordnet wie männlich/weiblich, schwarz/weiß etc., die das dialektische Denken über uns verhängt hat und denen wir durch ein Denken der Vielheiten, der Schattierungen, der regellosen Kontextbezogenheit und der Mikropolitik entgehen müßten. Und 4.) Links sein fällt, nach der Verabschiedung des historischen Subjekts Arbeiterklasse und anderen „objektiven“ Bestimmungen politischer Subjektivität oder Subjekt-Positionen unter die „Überzeugungen“. Und Überzeugungen sind ja, wie wir alle wissen, die perfidesten unter den Selbsttäuschungen und sollten in der Regel Gegenstand von psychiatrischer Behandlung sein. Oder etwa nicht? Das würde dann jedenfalls das Argument des unter 3.) referierten Projekts entkräften: Wenn Links heute nur noch eine „Überzeugung“ ist, dann kann man darauf nicht die Kritik, die man den kulturell verhängten binären Codes des Körpers, der Rassen, der Rollen etc. entgegenbringt, anwenden.
Überzeugung ist in der Regel ein Name für einen ideologischen Trick, mit dem man das, was sowieso geschieht, als Durchsetzung des selbst Gewollten interpretiert. Das, was ganz offensichtlich gegen diese, per definitionem stabile „Überzeugung“ spricht, ist aber auch immer noch gut, wenigstens die „Überzeugung“ gefestigt zu haben. Man kennt diese Todeslogik aus unzähligen Debatten: Was nicht die eigene „Überzeugung“ bestätigt, bestätigt sie erst recht, weil sie ihrer Differenz zum Wirklichen als Kritischem Bewußtsein Recht gibt. Daß wer völlig falsch liegt, gerade richtig liegt, weil sein Denken die Auszeichnung „nicht angepaßt“ verdient, diese alte linke ideologische Torheit lebt, im Gegensatz zu manch anderer linker Errungenschaft, bis heute in besonders blöden Euphemismen wie „Querdenker“ fort. Vielleicht läßt sich aus dieser ein erster Versuch machen, linkes Denken für heute positiv zu bestimmen. Oder herausfinden, warum das nicht nötig oder falsch wäre.
KRS-One: One thing I know: the truth can always be questioned
Und kann man die Wahrheit, daß man die Wahrheit immer in Frage stellen kann, ebenfalls in Frage stellen?
Wir müssen also davon ausgehen, daß die harten ideologischen Fallen, die vor allem in den Verfallsjahren linker Kultur so offensichtlich wurden, sozusagen hausgemacht seien. Dann können wir sie vielleicht lesen als internen Widerstand gegen die zu schwer zu akzeptierenden … Wahrheiten, ist nicht das richtige Wort: Grundbedingungen linken Denkens. Die auszuhalten mein auf Versöhnung der Gegensätze im eigenen Kopf trainierter Kleinbürgerverstand strukturell kaum in der Lage ist.
Zuvor aber noch etwas anderes: Komplementär zu den Verhärtungen des linken Denkens zur Bestätigungsmaschine nur psychologisch, aber nicht politisch motivierter „Überzeugungen“, gibt es eine Geschichte der Revisionen, der Selbstanklagen, der Häresien – beides ist in der Geschichte nichtlinken oder rechten Denkens unbekannt. Natürlich fällt einem sofort die strukturelle Ähnlichkeit linker Häresien und Revisionen mit den Entsprechungen in der Kirchengeschichte ein: hier die katholische Macht wie die Internationale oder die KPdSU, dort die Häretiker, Abweichler, Ultralinken etc. Aber diese strukturelle Ähnlichkeit enthüllt nur eine Teilwahrheit; denn die Geste der Revisionen war in der linken Kultur, die Zeit hat sie gar nicht gehabt, nicht auf die Ränder der kommunistischen Macht beschränkt, sondern erreichte ja selbst in der poststalinistischen UdSSR das Zentrum der Macht.
Dafür verdanken wir auf der anderen Seite Historikern wie Norman Cohn ein Bild der klassischen christlichen Häretiker-Bewegungen, das dem von Ultra-Linken ziemlich ähnlich sieht: in der Mischung aus einem theoretischen Sauberkeitsfanatismus mit einem praktischen Durchsetzungseifer, der die Verpflichtung zur Überprüfung der Ergebnisse nicht nur mit einschloß, sondern in den Mittelpunkt stellte; so daß permanentes Revidieren der Theorie einen ganz anderen Rang bekommt als das Falsifizieren bei der Naturwissenschaft oder selbst das Beobachten von Dynamiken und Tendenzen bei diversen Sozialwissenschaften. Da die Theorie die Wirklichkeit, die sie verantwortete, mit verursacht hatte, durfte sie keine Dauerhaftigkeit haben. Sie mußte einerseits sauber sein – und die Realität widerlegte sie natürlich unausgesetzt – und beanspruchte zum anderen, Moral und Handlungsanweisung zu enthalten. Indem sie Befunde verkündete, die keine bleiben durften, sondern durch Zeitdruck sofort zu Befehlen wurden, geriet dieser Diskurs vom einen performativen Widerspruch in den nächsten: Theorie war Praxis und doch nur als Theorie ausgerüstet. Wann immer dies nicht mehr auszuhalten war, wurde aus der entsprechenden Häretiker-Bande eine puritanische Sekte, die den Anspruch auf Realität aufgab.
Und in der Regel aufs amerikanische Land zog (oder seine späteren Entsprechungen heimsuchte, vom Monte Verita zum Friedrichshof). Das ist die Genese dessen, was als „Überzeugung“ seit vielen hundert Jahren die Köpfe von Christenmenschen inkl. christliche Kommunisten stilllegt. In einem Merkur lese ich in einer Rezension4 eines Buches über Alexandre Kojève, diesen referierend: „Die Philosophie muß in der Stadt heimisch sein, wenn sie mehr sein will als privates Träumen; die Weisheit erfordert eine dialektische Beziehung zur Welt, und zwar nicht einer akademischen Sekte auf den amerikanischen Prärien.“ Das ist exakt das, was nun in den letzten beiden Jahrhunderten dazu gekommen ist, seit die Häretiker als Bohemiens in den Arbeitervierteln trinken. Mit dem Ergebnis, daß Häretiker zum ersten Mal Macht auch im großen Stile erhielten. Mit ihr in Händen gerieten sie erneut in Lagen, wo sie nichts anderes anfangen konnten als entweder Massenmorde aus Überzeugung und gegen Überzeugung zu organisieren oder die Selbstkritik bis zur Selbstauflösung zu treiben. Die gute alte Oppositionssituation, in der der Angriff schon durch die allgemeine Verteilung der Macht gerechtfertigt ist und jedes Ergebnis des Angriffs mindestens als Lehrmittel, unterschied sich nachhaltig von der Lage, wo man unter den nominell Machtlosen verborgen Mächtige bestimmen mußte, um weiter einen wertvollen Feind zu haben.
Die gegenwärtige Selbstauflösung der Linken zeigt die andere Seite der stalinistischen Medaille. Die Geschichte linker Revisionen, die bei Orthodoxen wie Ultras in einem gegebenen Moment immer in dem Schimpfwort „Revi“5 gipfelte, konnten wir in letzter Zeit, nicht erst seit dem Mauersturz, ziemlich eindrucksvoll beim Ansteuern neuer Höhepunkte beobachten, niemand hat das getan: Mittlerweile scheinen sich ehemalige Linke darauf geeinigt zu haben, daß gerade jetzt die Linke eine besonders gefährliche Macht besitze, die sie dringend aufgeben müßte. Ein weiteres Beispiel für die Mechanik von Überzeugungen, das jeweils Durchgesetzte, das Verschwinden der Linken, zur eigenen, perverserweise linken Forderung zu verklären. Der alte Gegner FAZ fragt dagegen händeringend „What’s left?“.
Von Gorbatschow bis zu den Revolutionären Zellen, von Boock bis Engholm: Das Abtreten, Selbstkritisieren, Revidieren trat dabei natürlich nicht als ein und derselbe Vorgang auf. Die Begründungen, Wege etc. waren so vielfältig wie die einzelnen politischen Wege und Karrieren. Diese Vielheiten, die linke Praxis ausgemacht und schwierig gemacht haben, sind vom zugegebenen Scheitern nicht verschlungen worden. Ein Szene- und Halbwelt-Typ wie Boock liefert andere Begründungen als ein Gorbatschow-Apparatschik, der zu Beginn seiner Perestrojka diese unter die Überschrift „Zurück zu Lenin“ gestellt hat und dann in der kapitalistischen Wüste angekommen ist. Gemeinsam ist das Bedürfnis, Rechenschaft abzulegen. Das linke Leben, und sei es das korrupteste, will immer theoretisch (moralisch) über Praxis Rechenschaft ablegen. Und natürlich haben alle Revisionen das Problem, daß immer ein anderer sie – ob zu Recht oder zu Unrecht – für Verrat hält. Was der auch muß, solange er das von anderen Ergebnissen aus tut, nicht von einer Überzeugung aus – den wahren Verrat begehen immer nur diejenigen, die sich aus einer Welt zurückziehen, wo Selbstkritik und Revision noch eine existentielle Bedeutung haben, zu der wechseln, wo das Existentielle an Gedanken in der Form der Überzeugung eingefroren wird. Aber von heute aus haben alle diese Revisionen etwas extrem Ermutigendes: Sie stellen durch Ähnlichkeit dar – was, solange die „Linke“ mehr oder weniger als ganze mehr oder weniger relevante Strömung funktionierte, nicht so leicht sichtbar war bzw. aus taktischen Gründen verdunkelt wurde –, welche Bündnisse sinnvoll möglich waren – und also auch jederzeit wieder möglich sein werden: etwa das zwischen Halbwelt und aufgeklärtem Apparatschik. Und nur so wird auch sichtbar, durch Verbindungen, wer als einzelne Type für so eine Verbindung geeignet ist. Welche Sorten von Leuten überhaupt noch zu Handlungen bereit und befähigt sind, die erkennbar gesellschaftlich sind, indem sie Ähnlichkeiten und Anschlußfähigkeiten erkennen lassen. Sie stellen weiterhin dar, inwieweit eine Überprüfung der Konsequenzen des eigenen Denkens, was weder bei rechtem noch akademischem Denken, da es ja nur anschaut und nicht bewegt, weder nötig noch vorgesehen ist, ein Essential des linken Denkens ist, das über jeden Tod der Linken hinweg möglich macht, von einem linken Denken zu sprechen.
KRS-One: Capitalism the system of pimps and hoes, in this particular system everyone’s a slave / The pimp’s so serious they’re funny, honey
Nähern wir uns der Frage von einer anderen Seite: In der amerikanischen Zeitschrift October erschien vorletztes Jahr ein interessanter Artikel über die Politik der Gruppe um Georges Bataille, das Collège de Sociologie. Denis Hollier eröffnete seinen Aufsatz „On Equivocation (Between Literature And Politics)“6 mit einem Zitat von Zeev Sternhell aus dessen Werk, Ni droite, ni gauche, weder rechts noch links. Dieser Titel verspricht eine Bestimmung einer solchen Position, die bis jetzt immer nur von Leuten reklamiert wird, die bei etwas näherem Hinsehen als Rechte sich entpuppt haben – denn so wie nur ein Bruchteil der Rechten sich rechts nennt, nannten sich immer sehr viel mehr Leute links als es Linke gab. Typische Rechtsintellektuelle nennen sich bis heute „unpolitisch“ oder „weder links noch rechts“. Hollier fährt fort, indem er seinen Text in die Geschichte von Jules Monnerot einklammert. Monnerot, seinerzeit ein Weggefährte Batailles und Mitbegründer des Collèges, stammt aus Martinique und nannte sich stolz einen Enkel von schwarzen Sklaven und weißen Abenteurern, er gehörte der Kommunistischen Partei an. Im Juni 1989 entdeckt ihn Hollier auf einer Kandidatenliste von Le Pens Nationaler Front für das Europa-Parlament in Straßburg. Inwieweit hängt dieses Schicksal zusammen mit der „Ambiguität“, die man der politischen Position des Collège, besonders Leuten wie Caillois oder Bataille selber, weniger Leiris, schon immer vorgeworfen hat. Hollier argumentiert jetzt, daß die rechte Taktik der Ambiguität nicht zu verwechseln sei mit echter Ambiguität. Die taktische Ambiguität der Rechten verhülle ja eine Eindeutigkeit, die wahre Ambiguität, die er in manchen Momenten des Collège gefunden haben will, sei endlos oder in der Schwebe, ließe sich immer nur in weiteren Ambiguitäten auflösen. Dem würde ich entgegensetzen, daß genau dies die genuin linke Position ist, die Peter Weiss in der Ästhetik des Widerstands formuliert, wenn er als Nenner all der diskutierenden, zweifelnden, überprüfenden, revidierenden Linken in seinem Roman resümiert: Wir haben nichts außer unserer Gedankennot. Endlos ambig im Denken, ohne Aufschub im Handeln wäre links, mythisch fixiert und bewegungslos im Denken, endlos strategisch im Handeln wäre rechts.
KRS-One: You have to look at another man’s existence, resistance – that’s materialistic.
Unsere Gedankennot – das ist in der Tat die endlose Ambiguität Holliers, und sie ist auch deswegen nicht ni droit, ni gauche, sondern gauche, weil es in der Rechten keine Gedankennot gibt. Es gibt auch dort Verwerfungen, Brüche, Tragik, aber alle Tragik ist eine des Einzelnen und seines Denkens, nie der Adäquatheit seines Denkens für die soziale Praxis, ihre vorgegebene Ambiguität ist die des gedanklichen Zweifels, des nicht genügenden Gedankens, gemessen an einer selbst gestellten Aufgabe. Sein Denken ist immer nur taktisch oder strategisch, es kennt keine Erfahrung des Kampfgrundes im Leben (höchstens in der Erinnerung und anderen Verklärungen). In der Regel ist der Rechte aber sowieso ein zufriedener Mensch, der lange lebt wie der Mops im Paletot, weil er sein Denken und sein Handeln restlos entzweit hat. Die linke Gedankennot zeigt sich nicht als Not auf der gedanklichen Ebene, aber sie findet nicht zu Formulierungen, sie ist prozessual, nicht resultativ und zeigt sich nur auf der habituellen Ebene oder in der Zerrissenheit des Stils; deswegen können Linke so selten schön schreiben (Manifeste und heilige Texte sind nur hysterische Antworten auf dasselbe Problem).
Stattdessen nimmt sie zwei Formen an, die ich beschreiben möchte als Dummheit und Angeberei. Objektiv ist der Linke dumm, so wie der Volksmund von jemandem sagt, er sei ja schön blöd, daß er das und das getan hat. Der Volksmund meint damit nicht, daß der Betreffende einen niedrigen Intelligenzquotienten hat, sondern sich unpraktisch verhält. Von außen ist ein Unterschied zwischen einem, der aus moralischen Gründen keine Karriere machen will, und einem, der unfähig ist, Karriere zu machen, nicht zu erkennen. Diese Identität mit dem Versager, gesehen von außen, ist ganz entscheidend für das linke Verhalten, es führt zu einer auch inneren Identifikation mit dem Versagen, zu einer Vertauschung von Symptom und Krankheit, auch innerhalb des linken Zirkels oder innerhalb der Persönlichkeit. Dieses Defizit an Macht, das im Verzicht auf Erfolg seine Ursache hat, strebt aber auch zu jenem anderen auffälligen linken Verhalten, der Angeberei, Besserwisserei, Rechthaberei, das sich auf der argumentativen oder rhetorischen Ebene zurückholen will, was es gesellschaftlich verpaßt hat. Das ist aber beides nicht so unangenehm und aussichtslos wie es klingt; denn es ist strukturell, und Strukturen sind nur gefährlich, wenn sie unerkannt prägen und regulieren. Es muß nur klar werden, daß eine Linke ohne Projekt, eine Linke, deren wenige Kriterien Gedankennot, Reversibilität, Selbstkritik, Praxisbezug und eine gewisse aus Gedankennot entstandene Lebensunklugheit, vorhin „Dummheit“ genannt, sind, wenn sie sich denn wünschenswerterweise wieder organisiert, von diesen strukturellen Kriterien ihres Linksseins weiß.
KRS-One: If your slavemaster would have been a christian, you wouldn’t be a christian. The belief in one God is European. When you’re born in sin, you can’t win, you can’t succeed, achieve. Jesus was a revolutionary, who hung out with criminals. Stop reading from a dead book
Born in sin – you can’t win: Dieser christlichen Bestimmung entgeht der eben strukturell bestimmte, projektlose, neugeboren auf seine strukturellen Eigenschaften zurückgeworfene, von mir entworfene Linke noch nicht. Sein Träumen nutzt nichts, wenn er sich nicht organisiert, sang ihm der erste Subkultur-Professor Deutschlands, Rolf Schwendter, einmal vor. Und wenn er nicht mehr träumt, muß er sich deorganisieren? Das wäre noch nicht das Gegenteil von Organisation, Kirchenbauen auf Felsen aus Offenbarung, vielleicht eine andere, eben eine Organisation, denn strukturiert sind wir notgedrungen mehr als genug: Der Glaube an einen Gott, und sei es eine Vernunft oder Theorie, ist etwas, von dem wir uns gerne verabschieden, wenn wir nicht dafür hilflos in Partikularismen und Nationalismen stürzen, die schlimmer sein könnten als jeder noch so kolonialistische, eurozentrische Universalismus. Wir behelfen uns, indem wir sagen, wir konstruieren unsere Partikularitäten, unsere „Nationalismen“ des Widerstands, als taktische Gebilde, wir glauben nicht essentialistisch an sie, aber wir brauchen sie, um handlungsfähig zu werden. „Strategische Essentialismen“, wie Gayatri Chakravorty Spivak sagt. Handlungsfähig im Hinblick auf was? Der Tribe aus dem Tribalismus hat nur sein eigenes Interesse im Auge, er will in Ruhe gelassen werden, seine einzige universelle Vorstellung heißt meistens Peace oder so. Nach einigen Stammesdefinitionen sind Skinheads auch Tribes, aber der Unterschied ist der, daß sie sich explizit auf etwas beziehen, was sie nichts angeht: Nation zum Beispiel. Gegen die verordnete panische Globalität der unkontrollierbaren, katastrophalen Systemik, die alle öffentlichen Reden durchzieht, könnten die korrespondierenden, selbstbezogenen Tribes ein Modell alternativer Globalität sein: Wenn es tatsächlich so ist, wofür es genügend Anzeichen gibt, daß Rassismus als negative Globalität weltweit die Probleme der Macht lösen soll, wie Verteilung von Gütern, Chancen, Zulassungen, kann man ihn auch nur bekämpfen, wenn man nicht-„rassische“ „Rassen“ zur Gegenmacht zusammenschließt. Mir reicht das noch nicht. Mir fehlt die Klammer, die die Verteilungskämpfe und ihre unterschiedlichen Opfer zusammenbringt, ohne ihnen Gewalt anzutun – was das Werkzeug Klammer so an sich hat –, aber zwischen ihnen vermittelt, wie bisher nur der Groove (also der Groove als Platzhalter von Humanismus und Klassenkampf). Den Groove zum Sprechen bringen. Das wäre die einstweilen leider (oder glücklicherweise) mysteriöse Alternative zu Gott und Theorie, zur Vernunft und ihrem Todestrieb, zum Wert.
Soviel zur aktuellen Gedankennot. Oder zum inneren Disput, wie Weiss an anderer Stelle sagt. Der Groove könnte als Modell oder Metapher auch für das Innenleben mit der Gedankennot dienen. Denn es kommt ja darauf an, daß diese sich nicht als Überzeugung verfestigt oder als Versagerneurose marginalisiert. Der Groove ist nicht harmonisch, er zwingt nicht zur Synchronisierung, er ist polyrhythmisch und in der Lage, Dissonanzen aufzunehmen, ohne sie aufzulösen. Wir sind noch in der Metapher, aber der Hinweis sei erlaubt, daß in der populären Musik der Gegenwart, in und an allem, was an ihr neu ist, der Groove die Dissonanz, das Gegenmodell zur christlichen Subjektivität, an der die Linke solange litt, offenbar in Lust umwandeln kann. Und noch eine andere Auslegung. Auf die Rücken seiner beiden letzten Bücher, Die Sorge um sich und Der Gebrauch der Lüste, setzte Foucault jeweils das gleiche Zitat von René Char: „Die Geschichte der Menschen ist die lange Aufeinanderfolge der Synonyme ein und derselben Vokabel. Ihr zu widersprechen, ist eine Pflicht.“ Der schon erwähnte Hollier fragt in einem anderen Aufsatz7: „Werden wir diesem Imperialismus der Synonymie einen homonymischen Imperativ entgegensetzen?“ Eine homonyme Kette, wo die Homonyme immer wieder andere Bedeutungen haben, ist nichts anderes als der Groove.
KRS-One: Rap music is a culture, everyone outside this culture is a vulture
Damit meint er nicht, daß jeder, der draußen ist, ein Geier ist, sondern jeder, der sich von draußen darauf bezieht, Legitimation oder Profit gewinnend, ein Geier ist. Wenn unter uns bleiben zu wollen, unser durch Erfahrungen mit Markt und Institutionen begründetes Ziel ist, brauchen wir nicht mehr andere Leute durch ein Ziel zu belästigen: Die Erhaltung von Communities scheint zur Zeit Ziel in sich genug zu sein; ein Ziel, das Anmaßungen von innen wie außen gegenüber immer resistenter zu werden scheint. Und es ist weniger defensiv als es klingt. Da es die Praxis nicht vertagt, ist es angriffslustiger als die beste utopische We-want-the-world-Theorie (die in die Badewanne führt). Foucaults Kritik des Freudo-Marxismus, also des von Psychoanalyse und Marxismus gemeinsam als europäische Moderne veranstalteten Glaubens an die von der Macht verhängten Verbote als zentrale Unterdrückungsstrategie, gipfelt im Zweifel an dieser Repressionshypothese: Nicht unterdrückt, zum Schweigen gebracht werde der Untertan durch die Macht, sondern zum Reden und Beichten gezwungen. Dem setzt nur der Jive etwas entgegen, das alternative CNN, als das Public Enemy Hip-Hop bezeichnet haben: ein einigermaßen abhörsicheres Kommunikationssystem, das nicht bekennt oder zur Macht spricht, protestierend, beschwerend, betroffen, sondern nur zu seinesgleichen. Wer sich ihm anschließt, braucht nicht mehr anzugeben oder dumm, im eben beschriebenen Sinne, zu sein: Es sei denn, die ganze Angeberei und Dummheit tendierte immer schon dazu, in Jive überzugehen, dann gibt es eine Beziehung zwischen den strukturellen Merkmalen des Linken und der günstigsten Auslegung des neueren Tribalismus. (Günstige Auslegung heißt, den Kriterien entsprechend, die ich hier aufgestellt habe: Selbstbezug, Praxis, die schon einen Teil dessen enthält, was verwirklicht werden soll, hohe Kommunikationsfrequenz, Fähigkeit zu Koalitionen zur Gründung einer Gegenmacht, anti-elitistische Eleganz).
Daß die Gesellschaft, die zu kritisieren und korrigieren sich der Linke früher – teilweise zu Recht, und da begann ja auch meist seine negative Verstrickung, ob via Sozialdemokratie oder Stalinismus sei erst mal egal – einbildete, heute nicht mehr auf ihn hört, ist seine eigentliche Chance. Das gibt ihm nicht nur die positive Seite der Nutzlosigkeit, die Armut als Freiheit, das befreit ihn vor allem von seiner größten sekundären Not, nämlich den Praxisbezug des Gegners, der Macht mitdenken zu müssen, die ihn daran hinderte, seine eigene Gedankennot als in der Schwebe befindliches dynamisches System zu nutzen und zu genießen. Aus einem Schachspieler ist in den Achtzigern ein Entdeckungsreisender geworden. Wer nicht für alle sprechen und denken muß (inkl. seine Gegner), wie Sozialdemokratie und Stalinismus, und für wen Praxis unaufschiebbar ist (wie das Leben selbst), hat keine Wahl. Die ihm bestenfalls noch angebotene „Chance“ (auf Karriere, Entwicklung, Selbstverwirklichung etc.) ist keine, da sie Aufschub und Verzicht verlangt, ohne noch ein anderes Gut anzubieten als das, was schon die Eltern in den Fünfzigern haben konnten.
Eine Woche später notiert Peter Weiss8:
Es ist verständlich, wenn die schwarzen Bewohner der Gettos, die Rebellen Lateinamerikas, die internationale Jugend, spontane Aktionen begehen, ohne Massenstrategie, nur weil der Druck des Gegners so unerhört ist, weil keine Partei in Sicht ist, die zu revolutionären Aufgaben bereit wäre, undsoweiter. Doch auch dem Einwand muß zugestimmt werden, daß solche Handlungen, ohne sorgfältige Planung, ohne Basis in der Bevölkerung, mit nur mangelhafter Bewaffnung, oder ohne Waffen, in Kürze eliminiert werden durch die überlegenen Schutztruppen der Ordnung. (…) Unabweisbar die Tatsache, daß nach jedem solchen Aufflammen Erschlagene auf der Strecke bleiben, daß die Besten in die Gefängnisse geraten, ohne Möglichkeit zur Verteidigung, von vornherein verurteilt von der Klassenjustiz, daß monatelange, jahrelange Haft auf sie wartet, daß sich dann Stille über sie senkt, eine Stille, in der die Eingekerkerten sühnen müssen für ihr unrealisierbares Freiheitsbedürfnis, für ihren Aufschrei gegen die Prasserei, den Wucher, die Tyrannei, sei es in Mexico City, Los Angeles, New York oder Tokio, in Rio de Janeiro, Valparaiso, Bogotá, Madrid, Athen oder Lissabon, in Rom, Milano oder Paris, wo auch immer, in jeder schönen, dem Tourismus anempfohlenen Stadt.
1970, als Weiss das schrieb, braucht er schon den Weltmaßstab, um sich die Metanot zu machen, über die Folgen nachzudenken, und wählt das verräterisch objektivistische Wort „unrealisierbar“. Heute kann man den Pessimismus wie den Optimismus nur maßlos steigern. Bei aller Gültigkeit vieler dieser Beobachtungen noch auf die heutige Lage bezogen, gilt, daß die Linken immer weiter in Ruhe gelassen werden, von Macht und Massenbasis desinteressiert mißachtet. Sie können also wieder zur eigentlichen Gedankennot kommen, die schon in der Aktion selbst enthalten ist, ohne die Erwägung, was sie im Weltmaßstab bedeuten. In einer Nummer9 der Zeitschrift Widerspruch schreibt Robert Kurz, daß für die Wissenschaft und die Intellektuellen längst gelte, was für die Kunst seit Warhol und Beuys gilt, wenn jeder ein Künstler ist, ist keiner einer, so sind heute im Westen alle Wissenschaftler, tendenziell alle Intellektuelle und alle Linksintellektuelle. Deswegen ist keine Massenbasis in Sicht, weil die Linksintellektuellen in der ersten Welt selbst wie die Massen geworden sind. Sie wissen es nur noch nicht. Sie müssen als erstes lernen, mit ihrer inneren Not zu leben, ohne sich die Gedanken des großen Bruders, seiner Maschinen und seiner Netzwerke zu machen. Ihre innere Not, die zu Ausbrüchen führt, kann sich als Widerspruch, Widerstand erfahren, ohne an ein großes Ganzes denken zu müssen. Sie kann sich die kognitive Dissonanz leisten im Modell des Grooves: Sie nimmt nicht mehr ernst, was eh warenförmig oder endlos synonym ist, sie muß nicht einmal zur Tat schreiten, weil ihr die Dimension der Zukunft, die Linke von je an die Macht verkauft hat, abhanden gekommen ist. So spricht sie mit sich selbst, gestaltet das komplexe, sekundaristische Innenleben der Menschen der Achtziger, genießt sich in ihrer Differenz, aber bleibt natürlich wirkungslos, wenn es darum geht, institutionalisierte und Medienmacht wirksam und strukturell zu brechen, Definitionsmacht zurückzugewinnen. Das war die Lage am Ende der 80er.
Die vielgeschmähte amerikanische p. c.-Bewegung kann durchaus helfen, ein paar der Widersprüche zu formulieren, die auf Linke und ihre Theorie zukommen. Sie ist einerseits auf einer symbolischen Ebene fast unsinnig verbohrt und unnachgiebig und hat damit, oft gegen das Eleganz-Verständnis gerade derer, die sie tragen, tatsächlich Definitionsmacht errungen. Sie muß extreme, sinnlose Partikularismen ertragen, um halbwegs universell auftreten zu können. Anders ist der Kontakt zwischen Weltghetto, Weltoberschülerhysterie und Weltwiderstand nicht zu haben. Sie ist extrem symbolisch (also scheinbar unmaterialistisch, unpolitisch), findet darin aber die Form einer Radikalität, die es erlaubt, fast alles diskutierbar, anwendbar, genießbar zu finden, indem man es ausspricht, austrägt, darlegt. Das, was aber jenseits dieser Grenze liegt, gewaltsam anzugreifen: den „unantastbaren“ Teil der Macht.
Dieselbe Lage ließe sich auch im schwärzesten Pessimismus beschreiben. Und zwar nicht unbedingt falsch. Beschreibt man ihre verzweifelt fröhliche Perspektive, erzählt man nur von dem, was die Leute, bewußt oder unbewußt, sowieso schon am Leben hält. Dieser Stoff löst nicht die Probleme, aber er ist zu wertvoll, um ihn den Zufällen individueller Produktion jenseits von Diskussionen zu überlassen. Gute Laune ist progressiver als Kulturpessimismus.
- Peter Weiss, Rekonvaleszenz, Frankfurt am Main 1991, S. 20. ↩︎
- Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands, Band 1, Frankfurt am Main 1975, S. 123: „Wehren müssen wir uns dagegen, fertige Ansichten zu übernehmen und weiterzugeben, die dümmste Reaktion ist besser als ein pflichtbewußtes Nachbeten respekteinflößender Litaneien. (…) Denn was haben wir andres, fragte er, als unsre Gedankennot, soll doch unsre Unwissenheit beschimpft werden, was ist denn unser Radebrechen andres als ein Zeichen für das Aufbegehren gegen die Lüge.“ ↩︎
- Alle KRS-One-Zitate aus: Boogie Down Productions, Sex & Violence, 1992. ↩︎
- Mark Lilla, „Das Ende der Philosophie“, in: Merkur, 514/92, S. 25f. ↩︎
- kurz für Revisionist. ↩︎
- Denis Hollier, „On Equivocation (Between Literature and Politics)“, in: October, 55/90, vgl. auch: „Spirituelle Reaktionäre und völkische Vernunftkritiker“, Freiheit macht arm. ↩︎
- Denis Hollier, „Gottes Wort ‚Ich bin tot‘“, in: Ewald / Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit – Michel Foucaults Denken, Frankfurt am Main 1991, S. 106. ↩︎
- Weiss, Rekonvaleszenz, a.a.O., S. 48. ↩︎
- Robert Kurz, „Intelligenz nach dem Klassenkampf“, in: Widerspruch, 22/92, S. 11–26. ↩︎