Der Abend, an dem Klaus Bresser ein total überflüssiges Streitgespräch zwischen Egon Bahr und Franz Josef Strauß nicht moderieren durfte und was vorher und nachher sonst noch so passierte und nicht passierte
Viele Fernsehkanäle einsehen zu können (Kabelanschluß), heißt nicht nur viele neue Menschen kennenzulernen, sondern vor allem gute, alte Bekannte immer häufiger zu treffen. Das spricht aber nicht gegen den Kabelanschluß, als Indiz für Langeweile, im Gegenteil: Es stehen für die im deutschsprachigen Fernsehen denkbaren Funktionen eh immer nur ein paar Typen pro Epoche und Woche zur Verfügung, und je besser man die kennenlernt, je tiefer man ihnen in die Seelen sehen kann, je genauer man Bescheid weiß über ihre Macken und ihr Trachten, desto mehr Spaß macht Fernsehen (wer in diesem Zusammenhang und nach diesen Erfahrungen immer noch glaubt, es mache irgendeinen Unterschied in der politischen Aussage dieses Gesamtfaselmix, wie sich die politischen Meinungen der einzelnen Beteiligten im Spektrum rechte SPD bis Löwenthal zueinander verhalten und welche Gruppierung von ihnen die Mehrheit hat … ja der glaubt halt noch an unsere Demokratie).
Zu den erstaunlichsten Erfahrungen des genauen und gewissenhaften Durchcheckens von 14 deutschsprachigen Programmen gehört die rätselhafte Ballung bestimmter Gesichter für einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen, bevor sie wieder auseinandersprengen und/oder völlig verschwinden. Die naheliegende Erklärung, diese Figuren hätten nun einmal gerade ein neues Buch/Schallplatte/Gesetzentwurf/Goethe-Inszenierung/schön fotografierten Film/gut erzählte Geschichte neu auf dem Markt, verflüchtigt sich anhand der Beispiele, die ich jetzt nenne. Von der Reihe Ute Lemper, Marcel Reich-Ranicki, Bazon Brock, Klaus von Dohnanyi, Hans Werner Henze und Egon Bahr hat gerade mal Ute Lemper eine LP raus, die Ranicki-LP ist schon zur Buchmesse erschienen und schon damals ausführlich gewürdigt worden (Thomas Mann und die Seinen). Bazon hat seit mindestens einem Jahr nichts Neues, Dohnanyi immerhin einmal die Polizei nicht eingesetzt (aber qualifiziert ihn das, über Kunst zu reden: „Dem einen gefällt eben Simmel, dem anderen Arno Schmidt“?), aber warum mußte Egon Bahr Abend für Abend gegen seine Feinde antreten (und warum durfte ihm Klaus Bresser dabei nicht zur Seite stehen)?
Man hat sie alle ein Stück besser kennengelernt in der Woche ihres gehäuften Auftretens, so wie man in den nächsten 10 bis 14 Tagen ein neues Ensemble – dessen Zusammenkommen man nie für möglich gehalten und das man dem Ungeiste eines Talkshow-Verantwortlichen zugetraut hätte, aber nicht einem, die Sendepläne von 14 Anstalten metaphysisch vernetzenden Zeitzufallsystem – liebgewonnen und sich an ihm sattgesehen haben wird. So wußte man zwar, daß Ute Lemper das drittverabscheuungswürdigste Lebewesen ist, das je geboren wurde, dazu reichte seinerzeit die Doppelseite in BamS mit Helen Schneider und Liza Minelli, ja dazu reicht schon die Berufsangabe („deutsches Showtalent“), jetzt aber wissen wir daß sie darüber hinaus zu den seltenen Talk-Show-Gästen gehört, die sich im Milieu so wohl fühlen, daß sie auch dann, wenn sie nicht auf Sendung sind, nicht gefragt sind und nicht bezahlt werden, so voller Showtalentlebensfreude übervoll sind, daß sie jeden anquatschen, der in ihrer Nähe sitzt (was die Kameras mit einem mildewohlwollenden kurzen Seitenschwenk gerührt vermerken. Lehre der letzten Zeit: Nur wer so etwas einfaches wie eine Titte zu verkaufen hat, macht in Talk-Shows keine peinliche Figur, sondern führt stattdessen die Moderatoren vor: Brigitte Nielsen, Samantha Fox, La Ciccolina).
Immer wieder rätselhaft, daß Brock, Henze, Reich-Ranicki und Dohnanyi keineswegs zu ihren neuen Produkten gehört wurden, sondern zu allem Möglichen, und Egon Bahr zum Frieden. So erklärt Reich-Ranicki auf Hessen drei die wahre Bedeutung einiger Böll-Romane und diskutiert in einer Satelliten-Wiederholung mit Elke Heidenreich, ob Gefängnisse kreativ machen (Sie: „Ja, vielleicht, aber doch mehr auf negative Art.“ Er: „Ich danke!“ Dabei ist die Antwort natürlich, daß alles und immer gleich kreativ macht, wer aber im Gefängnis sitzt, denkt an Fluchttunnel und daher sind seine Gedanken für die, die draußen sind, nicht so wichtig. Wahr ist aber auch, daß sich „Gefängnisse“ eh in die Welt der Metaphern abgesetzt haben und in der wirklichen Welt nur als Anstalten für den Vollzug eines gesprochenen Rechts existieren, was natürlich viel schlimmer ist und wo gegen auch keine Kafka-Romane mehr helfen, sondern Rock’n’Roll).
Nun ist Reich-Ranicki von allen in dieser Geschichte vorkommenden Personen die einzige, die jeden Abend im Fernsehen zu sehen mich nicht stören würde. Seine gegenwärtige Omnipräsenz ist vielleicht auf den Umstand zurückzuführen, daß man im Fernsehen sein Showtalent erkannt hat (und wenn das Fernsehen einmal etwas erkennt, ist es darüber immer so glücklich, daß es gar nicht aufhören kann, sein Glück auszuposaunen, und jedem davon erzählen muß), und vielleicht haben die Verantwortlichen sogar begriffen, daß die hundertprozentige Freude am Ranickigucken sich erst einstellt, wenn man hundertprozentig genau weiß, was er sagen wird, wenn man im Zimmer auf- und abgehend mitsprechen kann …
Aber wie erklären wir dann die anderen, die sich nach ankündigenden Auftritten in anderen Kanälen (Brock im Satellitenfernsehen über das durchgeknallte Atlantisprojekt des durchgeknallten Stuttgarter Kunstmenschen Hans „Jesus“ Müller: „Auf Teneriffa eine Stätte des Blabla und des Humptata schaffen. .. Keine Androhung des jüngsten Gerichts! POSTINDUSTRIELL!!!“ / Henze in einem der vielen Dritten über den traurigen Sommer und dann noch viel traurigeren Herbst nach dem Tode Paul Dessaus, der ihn schließlich dazu inspirierte, ein Musikstück zu schreiben. Also doch ! … Aber der Tod Paul Dessaus ist kein Gefängnis. Naja, stimmt!) plötzlich in diesen bewegten Tagen, die ansonsten ganz den erhebenden historischen Ereignissen gehörten (die aber für meinen Geschmack noch nicht genug durchfanatisiert waren), nach dem Streitgespräch Egon Bahrs mit Franz Josef Strauß, das Klaus Bresser wegen einer kritischen Äußerung über ein paar Kollegen des Bayerischen Rundfunks nicht moderieren durfte, zu einer lockeren Talk-Show über das widerliche Thema „Versteht das Volk eigentlich was von Kunst?“ zusammenfanden, und das unter der knallknüppellockeren Leitung des aus dem Volke nur so herausgewachsenen Franz Xaver Kroetz?
Kann für diese Bewegungsabläufe nur noch die moderne Astronomie herangezogen werden, sind die unerklärlichen Zusammenklumpungen von Henze und Brock und Rühmkorf und Dohnanyi, redend über dieses und jenes, nichts anderes als die von unerklärlichen Schwerkraftquellen zusammengehaltenen Überhaufen, die alle mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit auf eine weitere Schwerkraftquelle jenseits des „Kreuz des Südens“ zurasen, die man den „großen Sauger“ nennt? Und warum hat keiner der Überhaufenteilnehmer über dasselbe geredet wie in den vorangegangenen Auftritten? Wieso rasten sie unter Vorwänden und mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch alle Kanäle, um schließlich das Nachprogramm zu einem vollkommen überflüssigen Gespräch von Egon Bahr mit Franz Josef Strauß zu bilden, das Klaus Bresser wegen einiger sehr mutiger, kritischer Äußerungen, aber das sagte ich ja schon …
Brock also diesmal nicht über das Atlantisprojekt, sondern über die Forschungen seiner Frau Karla Fohrbeck (IST BEWIESEN!!! LESEN SIE NACH! FOHRBECK!!!), Henze darüber, wie deprimierend es ist, für die Kunst betteln zu gehen, was er aber, wie man deutlich merkte, nicht gesagt hätte, wenn ihn sein Münchener Spezi Kroetz nicht dazu gezwungen hätte und Michael Krüger, der andere Moderator, immerzu gerufen hätte: AUSGEGRENZT! Warum? WARUM !!! AUS-GE-GRENZT!!!!! DIE MODERNE MUSIK!!!!IST!!!!AUSGEGRENZT!!!!. Brock hatte einen richtigen Gedanken, nämlich, daß die sogenannte Unverständlichkeit von Kunst/Literatur etc. eine Erfindung der Existenzangst der Vermittlungsberufe (Lehrer, Journalisten, Politiker) sei und nicht des sogenannten Volkes, und hatte damit exakt einen Gedanken mehr als alle anderen Anwesenden. Dietl: „Sie! HEY SIE! HERR PROFESSOR!!! Theorisiern’s net! Sagn’s was Sie meinen! HERR PROFESSOR!!!“ Kroetz: „Also Rezeption, also Rezeption, das ist wieder so ein Fremdwort …“ Köstlich. Dohnanyi: „Also manche mögen Simmel, andere Arno Schmidt.“ Frau: „DAS BAUERNTHEATER!!“ Andere Frau: „DIE PHANTASIE! TAGE SIND PERLEN AUF EINER PERLENKETTE!“ Erste Frau: „DAS BAUERNTHEATER.“ Zweite Frau: „DIE PHANTASIE.“ Brock: „IST ALLES ERWIESEN. Hier bei Fohrbeck!“ Dietl: „Theorisiern’s net, HERR PROFESSOR!“ Krüger: „AUSGEGRENZT.“ Dohnanyi: „Sagen wir 70 Millionen.“ Rühmkorf: „Die Lyriker haben es noch schwerer!“ Krüger: „AUSGEGRENZT!!“
Damit meinte er auch und gerade Klaus Bresser, der mit seiner mutigen Bemerkung mein Weltbild auseinandernehmen wollte, daß der einzige Mensch im deutschen Fernsehen, der eine andere Meinung hat als alle anderen Gerhard Löwenthal ist (aber das nicht geschafft hat) und nun aus der Welt der Egon-Bahr-Streitgespräche brutal ausgegrenzt wurde, wo Egon Bahr Abend für Abend einen Feind nach dem anderen die Lanze rechtschaffener Ostpolitik-Credibility in den Rachen rammte. Hier konnte Bresser nun nicht als treuer Schildknappe sich mit freuen, wie erst Strauß und dann Wörner über die Klinge sprangen. Ich finde: die Union hat allen Grund, sich zu beschweren. Wird Bahr als Gegner aufgefahren, ist ohnehin klar, daß nur um einen moralischen Sieg gespielt wird und da ist der unschlagbar, er wird sich weder dem überfallartig-zynischen Idioten-Gestammel Straußens beugen, das ja aus komplett unerfindlichen Gründen immer noch für intelligent gehalten wird, das ist ja eines der langlebigsten linken Klischees: der Strauß, der ist zwar ein Faschist, aber unheimlich intelligent, noch wird ihn das extrem leichte Spiel, das er mit der ungeschützt offen zur Schau getragenen Arschlöchigkeit Wörners hat, aus der Ruhe bringen, er wird seine Runden ziehen durch sein moralisches Paralleluniversum, unangezogen und unirritiert von geheimnisvollen Schwerkräften, 365 Tage sind bei ihm noch ein Jahr und die Erde dreht sich um die Sonne. Daß aber das ganze System mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit auf den großen Sauger zurast, jenseits vom Kreuz des Südens, das will wieder kein Mensch gewußt haben.

