Über Musik schreiben

Das theoretische Jahrzehnt der Popmusik hat bewirkt, daß man musikalische Elemente nicht mehr als natürlich einer bestimmten Bedeutung zugehörig empfindet. Das führt zu Freiheit und Beliebigkeit. Der Beliebigkeit entkommt man nur durch Arbeit an und Verankerung in der massivsten Verdichtung von Realitätsmasse, wie Abenteuer, Revolte, Verbrechen, Liebe. Die Rechte aller Menschen auf bedingungsloses Glück anzuerkennen ist Voraussetzung. Aber genauso muß man sich in ihren realen Dreck verstricken können, um Trash und Verbrechen, im richtigen wie im falschen, verstehen und anwenden zu können. Völlig überraschenderweise haben mir plötzlich konzeptlose Langhaarige von der Westküste gezeigt, daß man wieder spielen kann, wenn alle postmodernen Probleme musikalischer Semantik abgearbeitet sind. Die Freiheit wird immer entblößt dargestellt, wunderte sich heute morgen ein Revolutionsforscher im Fernsehen. Ist die Musik korrekt in der Realität verankert, klingt die wieder als Geräusch und Effekt. Wo Realität ins Geräusch gefahren ist, nicht als Abbildung ihrer Geräusche, sondern in Töne, die keine Noten sind, aber dennoch verbindlich codiert, da ist heute Bedeutung. Da wo sie schon war, als Jimi Hendrix, Lee Perry und Albert Ayler arbeiteten. Wo sie wieder ist, seit Public Enemy arbeiten und Flaming Lips und Jesus And Mary Chain und die vielen abstrakten Musiker wie Blind Idiot God. An der Westküste wird gute alter Jazz beschleunigt und vereinfacht, und gleichzeitig stürzen sich die, die ihn so behandeln, in die Erfahrung seiner Komplexität. Und Erfahrungen mit Komplexität in der Musik, mit Dynamik hat es in den theoretischen Jahren nicht gegeben, weil sie semantischen Komplexitäten gewichen waren. Wer interessiert sich denn noch für Musik, schrieb ich damals, Trash Coleman, sage ich heute. Aber hüte dich vor eitler Historistenscheiße, du mußt es schon mit ihm aufnehmen können (d. h. du mußt dich auch in semantischen Komplexitäten auskennen, sonst hast du ihm gegenüber keinen Pop-Vorteil. Das aber war eine Errungenschaft des Universal Congress Of: Coleman spielen, ohne ihn zu verpoppen – à la Lounge Lizards – andrerseits deutlich machen, daß man vom Pop, Sektion Punk-Rock, kommt und damit aus dichter Realitätsmasse.).

Ein Millionenheer praktizierender, sich halbwegs durchschlagender oder einen zeitunaufwendigen Hauptberuf ausübender Musiker und recording artists ist so entstanden, das genauso wenig zu überschauen ist, wie ein Ende des Trends abzusehen ist. Großartige Künstler wie die Membranes, Yo La Tengo, Zoogz Rift oder Eugene Chadbourne spielen vor nie mehr als 75 Leuten in dieser Millionenstadt – das ist zwar ein Fortschritt von einigen Tausend Prozent, wenn man bedenkt, daß es im Jahre 80 in Köln, wie man mir erzählte, nur ein einziges nennenswertes Konzertereignis gegeben haben soll, Joy Division. Von diesen 75 sind also ein Drittel entweder selber Musiker oder Musikjournalisten oder Veranstalter, oder sie dealen mit Instrumenten, betreiben Clubs oder Fanzines. Alte Hierarchien und Qualitätsbegriffe, an denen man sich orientieren könnte, gibt es nur noch in den fest abgegrenzten, wenn auch immer wieder schnell zur Auflösung neigenden Spezialistenzirkeln. Dies hat nicht zur Entwertung der musikalischen Äußerungen geführt, sondern zu einer Blüte, einem Reichtum, wie er in der Geschichte seinesgleichen sucht. Nur die Funktion dieser Subkulturmusiken hat sich geändert: niemand kann mehr dabei zum Übermenschen werden, und niemand kann Exzesse vom Zaune brechen. Zwar gibt es immer wieder maßlose große Künstler, aber auch die mit ihren gleichzeitig richtigen guts und richtigen, uneinnehmbar feinen Ideen der Menschheit werden nicht mehr mit den feuchten Hosen aller Menschenteenager belohnt.

Auch dieser Zustand der Unübersichtlichkeit gefällt uns gut, entspricht unseren Wünschen: wir vermissen nur die Verbindlichkeit des Einzelereignisses für den Rest der Welt, das uns doch eben gerade so unmittelbar angerührt hat, aber dafür haben eben immer mehr Einzelne ihr eigenes Erlebnis, das sie (besonders) stärkt und (besonders) schön macht. Die mangelnde Verständigung über gemeinsame Erlebnisse kompensiert die Stärkung des aus einem unglaublichen Reichtum seine Konsumgüter zusammenstellenden Einzelnen. Aber wird er je (wieder?) die Beschränktheit der Konsumhaltung durchbrechen können, wie sind politische Effekte möglich? Gar nicht, wenn es nach einem staatengründenden Konsens-Begriff von politischer Mobilisierung geht. Aus den Platten, die ich bespreche, spricht das gleiche ohne Grand Central Strategy zustande gekommene, Unterschiede affirmierende Bewußtsein, das mikropolitisch an einzelnen Punkten ansetzt, den kleinen Kampf in verschieden abgestufter Gewalttätigkeit befürwortet und sich ästhetisch moralisch im günstigsten Fall mit den Opfern des Zustandekommens seines eigenen relativ freien Bewußtseins kurzschließt, in einem weiteren Sinne, als es der Begriff der Solidarität beschreibt. Die von einem Lehrer für den Spiegel mit Entsetzen beschriebene Haltung der heutigen Jugend, die zwar alle Mißstände der Erde mit größter Schärfe wahrnehme und geißele, andrerseits nicht mehr bei sich selbst mit dem Abschaffen anfange, ist in Wahrheit der größte Triumph über den Voluntarismus, der noch die Hippies reihenweise in die Psycho-Krise trieb (Widersprüche bei sich selbst abschaffen, bevor die gesellschaftlich-materiellen Voraussetzungen geschaffen sind). Gleichzeitig gibt es eine Fülle von diskontinuierlichen, nicht miteinander vernetzten Aktivitäten von hoher moralischer Rigidität, wie z. B. bei fast allen Ami-Bands (Straight Edge). Und das alles trifft natürlich nur auf den, von 0,1 auf 1,5 % angewachsenen Anteil der Jugendlichen zu, die die Chance und die Ermutigung bekommen haben, keine Arschlöcher zu werden (diese Zahl, behaupte ich, und das wird das Hauptproblem sein, mit dem sich diese Generation philosophisch-ethisch herumschlagen müssen wird, steigt im gleichen Maße wie die Anzahl der chancenlos zu Tod, Hunger und Auszehrung Geborenen in anderen Gegenden der Welt und an den Rändern dieser). Keine Generation hat so viel und so detailreich geformte Kunst in Form von Popmusik über sich herstellen können, ist in so vielen Facetten des Weltjugendtums von Public Enemy bis Sylvia Juncosa in ungekannter Intensität und Reichtum zu Worte gekommen, hat ein größeres Maß an dezidierter Formung und Verbindlichkeit jeweils für sich zustande bringen können. Solange der Zugang zur Macht von Besitz an Produktionsmitteln abhängt, ist keine wirkliche Demokratie möglich, aber sollte es je eine geben, wird ihr wichtigstes Kennzeichen sein, daß sich auf nichts mehr als ein Prozent der Bevölkerung einigen können.

Nie ist mehr Feinheit von mehr Menschen produziert worden als in der Ersten Welt von heute, aber diese Feinheiten werden sich verteilen wie die Menschen in den Massengräbern der Dritten, unbeachtet und tendenziell entropisch, wenn sich diese relative Massenverfeinerung nicht auflädt und kurzschließt mit der Massenvernichtung an den Rändern ihrer Welt (denn es gibt ja noch keine Demokratie, nur die Tendenz dazu in den zur Abspaltung neigenden Reservaten gelungener, kleinbürgerlicher Schöngeistigkeit). Daher kommen einerseits die harten Grooves der Hopper, aber da wird auch die Musik der Ersten Welt anders aufgenommen und weiterverarbeitet. Und die Ränder sind nicht nur die geographischen: sie sind die Ränder von extremer Zivilisation zu Nicht-Zivilisation, wo Bauern an den Kosmos stoßen und die Army an Cajun-Todeskulte. Das Dynamo für unseren Fortschritt sind die Gemeinsamkeiten der Dispositive Peripherie und Jugend: von außen anklopfen, mit dem Recht einzutreten und zu ändern, was dann erkämpft werden muß. Der ideale Zustand des Rock’n’Roll.

Kulturpolitik muß multipler und vielgestaltiger werden, noch vorurteilsfreier und im gleichen Maße härter, als je nötig war, der Tatsache Rechnung tragen, daß es gleichzeitig in nicht allzu weiter Ferne gibt: 1.) Neue Chancen für mehr Menschen denn je zuvor. 2.) Dieselbe alte Scheiße. 3.) Ungekannte Verbrechen, Völkermorde, Kulturvernichtung, Umweltvernichtung in ungekanntem Ausmaß. 4.) Progressivität, die sich nicht nur, wie inzwischen schon breit reflektiert, in einer Sekunde mit einem Türken gegen einen rechtsradikalen Deutschen verbünden muß, um in der nächsten Sekunde die Tochter desselben Türken gegen seine patriarchale Scheiße zu schützen, sondern vor allem mit gegen Imperialismus und Kolonialismus kämpfenden Völkern der Dritten Welt, um im nächsten Moment die reaktionären unter den Eigenheiten ihrer Kultur gegen Frauen, Schwule und ethnische Minderheiten zu bekämpfen, die dann zum Tragen kommen, wenn das eben noch kämpfende Volk zum Staatsvolk wird. Man muß an komischen Stellen die sympathischsten Dinge kritisieren und mit den abwegigsten Dingen seinen Frieden machen: Tippa Irie von Kopf bis zur Kralle lieben, selbst noch den Sound, in dem er seine Verwünschungen des Lesbian Business oder des Homosexual Business ausspricht, um diese Verwünschungen im nächsten Moment als genau die Spießigkeit, die die naturgemäß immer erst kleinkriminelle Revolte als Spuren des eben überwundenen Kretinismus immer eben auch mitschleppt, zu bekämpfen.

Als massenwirksame Methode, sich der Kulturflut zu stellen, ihre Dynamik auszunutzen, funktioniert ein nur mittelbar mit dem der Subkultur zusammenhängendes, heutzutage ganz selbstverständliches und weit verbreitetes Trashbewußtsein. Es hat jedermann erreicht und noch hat keiner ein Antidot entwickelt. Wer nimmt noch irgend etwas so wahr, genießt irgendein(e) vom Fernsehen oder anderen zentralen Sinnstiftungsorganen lancierte(s) Sendung/Mitteilung/Produkt, so wie sie/es gemeint waren? Wer läßt intentionale Inhaltlichkeit noch anderswo als in einem selbst mitbestimmten oder kontrollierten Feld zu? Die Leute sind für direkte Demokratie und dezentralisierten Anarchismus so überreif wie chinesische Studenten. In den USA, dem Mutterland des Trash, gehen seit Jahrzehnten nur noch Christen und Volltrottel wählen.

Uns interessiert z. B. in unserem kleinen Feld, wie und daß Trash die kleinbürgerliche Neigung zu ständiger Selbstreproduktion, Todesangst-Produktivität und der Neurose, Spuren hinterlassen zu müssen, die Welt mit Produkten und Gegenständen zuzuscheißen, kritisiert, ohne Verzicht und Schweigen in ihrem tödlich grauenhaften Gegenteil dagegen zu predigen. Daß Trash die Harmonisierungs- und Synchronisierungszwänge angreift, die das Schlimmste sind, was das kleinbürgerliche Bewußtsein über die Welt legt: daß alles zusammenpassen muß wie die Familie, und Muttitheorem und Pappitheorem sich nicht scheiden lassen dürfen und sich nicht streiten dürfen; Trash ist Produktion im Fadenkreuz von Paradoxa und Widersprüchen. Trash kritisiert die Scheußlichkeit der Eitelkeit und lebt von ihrer Berechtigung: und welche Verstrickungen und Scheußlichkeiten in jedem Satz eingeschlossen sind, für den man Geld nimmt.

Die wachsende Tendenz des Überbaus, Basis zu sein, bietet auch neue Möglichkeiten der Wirkung und Verbindlichkeit – man hat nur in allgemeiner Resignation über die Macht der Bedeutung die Möglichkeit der Wirkung aus den Augen verloren, nachdem sie das letzte Mal unter ganz anderen Bedingungen analysiert worden war, darauf bezogen nämlich, inwieweit Kunst und Kultur einer die Gesamtlage ohnehin falsch einschätzenden politischen Gesamt-Bewegung bei der Durchsetzung ihrer Ziele helfen könne: Beliebigkeit ist so gesehen vor allem das Problem einer totalitären Zentralperspektive, eine mikropolitische Theorie der Wirkung gibt es nicht, aber wie ich meinen Fanzines so entnehme, kein Grund zu allzugroßem Pessimismus. Was Restidealismus enthält, so zu reden, aber was kann man tun, als Kritiken der Produktion des eigenen Idealismus zu produzieren: Ich warne davor, zu glauben, daß dies alles irgend etwas ändern würde. Ich weise nur darauf hin, daß man ein paar Chancen vor dem Absturz in die völlige Barbarei nicht durch pessimistische Reflexe lahmlegen sollte. Hier sollen auch meine Versuche, nachvollziehbare Ordnung in solche kulturgeschichtliche Knäuel zu bringen, die ihre Kraft auch daraus beziehen, daß man sie nicht entwirren können soll, eine Grenze finden. Man kann sich mit einem kleinbürgerlichen Hirn immer nur – in seiner eigenen Produktion und bei der Wahl von deren materiellen Grundlagen – versuchen, in eine Verstricktheit zu begeben, die einen nicht mit unterschlagenden Harmonisierungen davonkommen läßt, sich vor Instituten ebenso in Acht nehmen wie vor Eremiten. Am Ende sollte gelten, daß Popmusik die einzige Welt ist, in der direkt oder über die Produktionsform gegen das Funktionieren der spätkapitalistischen Welt Einspruch immer noch wirklich wahrnehmbar erhoben werden kann, die letzte Bühne existiert, in der die Opfer des Weltausbeutungszusammenhangs einigermaßen authentisch zu Stimme/Sound kommen – was auch immer mit dem geschieht, das die Membrane zum Vibrieren bringt. Ayler sagt, daß Music, die selbstbewußt ihre antiimperialistischen Kurven durch das Weltall so zieht, daß man Gebet und Anekdote weder unterscheiden können kann noch will, the Healing Force Of The Universe ist. Mudhoney: Touch me, I am sick!