Dies ist der zweite Teil eines Aufsatzes über Jörg Immendorff, der erste „Geigen der Geschichte“ handelte von den Bildern der Serie „Cafe Deutschland“. Ich schrieb darin über Bilder, die sich die Topographie begrenzter, unterteilter Räume zunutzen machen, um dreidimensionale Schlachtordnungen entstehen zu lassen. Schlachtordnungen für Images, schwere Zeichen, dominierende Stereotypen unserer Medien. Die aber waren aus den sie sicher behütenden Bezugssystemen, aus den gewohnten Diskursen herausgerissen und einander preisgegeben. Aufeinander losgelassen, um sich gegenseitig verpuffen zu lassen. Im „Cafe Deutschland“ tobte eine Symbolwelt, ständig in Bewegung, und das Ziel war das Abtragen eines riesigen, wuselnden, verlogenen Überbaus, auf daß darunter eine große, klare Präzision schimmert, eine Wahrheit. Bis dahin aber würde es drunter und drüber gehen, zeigte uns der Blick ins Cafe eine grell beleuchtete, desparate Krise, die nichts anderes ist, als das auf den ersten Blick so unscheinbare, ungefährdete, BRD-Denken. Die bösen Geister, das Verdrängte der Aspektewelt, des Theatrum Titelthesentemperamente tollten wie tollwütige Hunde durch die Unterwelt der von ihnen veranstalteten Welt.
Das Brandenburger Tor könnte so ein Teil dieses Orkus sein. Es könnte sich in seiner irren Gestrigkeit als Bollwerk gegen ZDF-Gegenwartsgeschwätz monumental uneinehmbar im Cafe aufbauen. Ist es doch eines der typischen Deutschland-Phänomene, die in dieses Cafe gehören, paßt es zu dem Humor, der auch den Stacheldraht als strategisches Hindernis in das Cafe einbrachte, damals einen ratlosen Robert Havemann einzäunend. But then again… Das „Brandenburger Tor“ ist Gegenteil und Komplement zum „Cafe“. War das „Cafe“ ein Szenario, das die geeignete Labor-Situation für das experimentelle Aufeinandertreffen von Überbaufetzen schaffen sollte, so ist Immendorffs „Tor“ bereits Ergebnis, Endpunkt aller Experimente. War beim „Cafe“ die Dreidimensionalität Illusion, aber Voraussetzung für Bewegung, so ist sie hier Realität, aber verkündet nur Stagnation. Handelt das „Cafe“ von einem Deutschland, das wir alle kennen, das uns täglich um die Ohren geblasen wird, zeigt das „Tor“, das verschwiegene Deutschland, das vor dem wir uns fürchten.
Solange Berlin noch eine Trumpfkarte der Rechten war, eine Tränendrüse des Antikommunismus, gab es auch im öffentlichen Gerede einen Platz für das mächtige alte Tor. Doch war der Blick schon immer verstellt, sollte die Aufmerksamkeit auf Vopos und Mauer, auf Schießbefehl und DDR-Gegenwart, nicht auf Preußen und Geschichte gelenkt werden. Inzwischen verschwindet es in dem Maße mehr und mehr aus dem offiziellen Weltbild, in dem eine deutsche Einigung, ja das Nationale schlechthin, grob gesagt, von rechts nach links gewandert ist. Und schon lange vor Peter Brandt und der Friedensbewegung gab es die längst verblichene 70er-Jahre-KPD, eine maoistische, kleine Partei, die die Forderungen nach einem vereinten Deutschland unter sozialistischen Vorzeichen aufstellte. Wie in den 50er Jahren als es Adenauers westlich orientierte Realpolitik war, nicht einmal die SPD, die alle Chancen auf ein geeintes Deutschland verspielte. Immendorff war ein Anhänger der KPD der Siebziger und hält an dieser, ihrer Forderung fest, die als Einziges von ihr übrig geblieben ist und sich bis heute wachsender Verbreitung erfreut. Das „Brandenburger Tor“ ist jedoch alles andere, als ein Zeichen der Zukunft, es steht im Gegenteil für eine Geschichte deren Faden gekappt wurde. Es steht für vollkommene Bewegungslosigkeit und Starre, und zwar auf die gleiche massive, fast triviale Art, wie die meisten von Immendorffs Leitmotiven eine klare, banale, brachiale Sprache sprechen, bis er sie umrüstet, in fremde Zusammenhänge einbaut. Sein „Brandenburger Tor“ nimmt die Konnotationen aus dem realen Tor auf und konfrontiert sie mit den alten Bekannten aus Immendorffs Deutschland-Symbolik. In diesem kleinen, seit Kassel etwas abgewetzten Bronze-Bauwerk sind die Gegensätze hoffnungslose Starrheit und politische Utopie aufgehoben, ebenso wie die historische, symbolische Schwerstlast und die vollkommene Referenzlosigkeit in der Gegenwart.
Das Brandenburger Tor steht heute ohne Verbindung zu den es umgebenden Städten an einem exponierten, rundum leergefegten Ort. Wer sich ihm nähert, wird umtost und umweht, wie die bösen, falschen Schatzsucher in Spielbergs „Jäger des verlorenen Schatzes“ beim Versuch die Bundeslade zu öffnen. Zu beiden Seiten hört die Nachkriegswelt in angemessener Distanz rechtzeitig auf, mündet in Sackgassen, prallt auf Blockaden, Zäune, Patrouillen. Besucher wurden früher auf ein wackeliges Holztreppchen geführt, das man schwankend nach oben erklimmen mußte, hoffentlich mit Handschuhen; denn das Geländer bestand aus rissigen, feuchten Holzbrettern. Fröstelnd oben angekommen, von Böen durchgepustet – um das Brandeburger Tor scheint nie die Sonne – konnte man den dicken Riesen betrachten, der die vielbeschworene Mauer, der noch jedes Jahr in den Medien zum Geburtstag gratuliert wird, um viele Meter überragt und der die Vopos wie Liliputaner erscheinen läßt, die einen mühsam festgezurrten Gulliver ängstlich bewachen.
Als in ganz Deutschland der Krieg vorbei war und man bereits friedlich in die Entnazifizierungskurse schlenderte, wurde hier noch verbissen gekämpft. Eine Nazi-Fahne steckte in der Quadriga und selbst noch nachdem sich der Führer selbst gerichtet hatte, fielen in seinem Umfeld noch Schüsse. Das Brandenburger Tor wurde als Stadttor von Berlin erbaut, als die Franzosen ihre Revolution machten, als also dem Absolutismus die Stunde geschlagen hatte und das Bürgertum bereits die Weltgeschichte übernommen hatte. Gleichzeitig steht es am Beginn einer Regeneration eines zerfallenen Deutschlands, die von Preußen ausging. Es sah aus wie ein mächtiges, obwohl noch vages Versprechen auf eine historische Aufgabe. Es hatte Züge von Übertreibung und Humor. Was bitte sollte dieses Monument in dem damals noch nicht besonders großen Berlin.
Berlin mußte größer werden. Da half nichts: größer als Magdeburg, größer als Leipzig und Königsberg. Der französelnde König Friedrich Zwo hatte die Voraussetzungen geschaffen: riesige Alleen, monumentale Quais, prachtvolle Schlösser und Lustgärten; Repräsentationsbauten entstanden in gleichem Maße wie Arbeitersiedlungen. Der Tisch war gedeckt, die Triumphatoren konnten kommen. Doch zuerst kam der falsche. Napoleon trieb erst das geschlagene preußische, dann das siegreiche franösische Corps durch die marmornen Säulen. Doch dann siegten 100 Jahre lang mehr oder weniger die Deutschen, bzw. wurden Preußen und andere siegend zu Deutschen: Freistudenten und linke Patrioten, Befreiungskriege, imperiales Preußentum mit Hegemonie und Zollverein, Norddeutschem Bund und Zündnadelgewehr, mit Gloria über Österreich, Bayern, Dänemark, Frankreich, Königgrätz und 70/71, die Flottenpolitik, die Aufrüstung, die Emser Depesche, die Sozialistengesetze, die allgemeine Wehrpflicht, das Dreiklassenwahlrecht, der eiserne Kanzler, die Begeisterung beim Ausbruch des ersten Weltkrieges: immer unter den Linden hindurch, das Gewehr geschultert, das Liebchen untergehakt, Hurra! Und schließlich wurden die Alleen noch einmal verbreitert. Unter Hitler. Die Sozialisten wurden nun ermordet statt verboten und die Repräsentationsbauten verzehnfacht. Ungestört hallte nun hunderttausendfach ein donnerndes HURRAH! durch die Stadt und kulminierte vor dem Brandenburger Tor, dem Wahrzeichen des deutschen Aufstiegs, dem ewigen Zeichen für das stets übertriebene, leicht oder schwer mißratene, zuweilen eisern durchgeführte, zuweilen zaghafte, immer schräge oder brachiale Lieblingsspiel der Deutschen: Hegemonialmacht, Großmacht – Das können wir auch!
„Ich brings uns wieder“ steht auf dem neuhinzugefügten Sockel von Immendorffs Tor. Er holt das abwesend und referenzlos gewordene Monument und stellt es in seiner ganzen beleidigten Riesenhaftigkeit unter Mensch und Welt, unter Kulturbetrieb, Überbau und Geschwätzigkeit, unter die Leute, die es nicht mehr sehen wollten, weil sie sich nicht ablenken lassen wollten von ihrem fieberhaften Tun, das keine Geschichte gebrauchen konnte: Da mußte eine Wirtschaft wachsen, ein Kapitalismus aufgebaut werden, ein musterhafter obendrein. Und auch die anderen, drüben, wollten es in ihrem System zu Musterhaftigkeit bringen, auf daß die jeweilige Großmacht recht stolz sein kann auf ihre deutschen Verbündeten. Und die Modellstaaten wurden tatsächlich zu den jeweils erfolgreichsten Europas in Ihren Disziplinen, der 1 in Sozialismus a la russe, die sich die DDR erwerben konnte, steht die 1 in Kapitalismus, Bündnistreue und Berechenbarkeit entgegen, die sich unser Staat immer wieder in Washington bescheinigen läßt.
In dieser Situation ist die NATION, dieses eigentlich reaktionäre ungeheuer kräftige Phantasma, von dem man sich nur abwenden konnte, weil nur Blut an den Händen, Dreck am Stecken und Skelette im Panzerschrank zu sehen waren, verrückt. Das Zeichen NATION steht leer, ungenutzt und ängstlich bewacht herum. Immendorff will es uns zurückbringen, er will die Bombe hochgehen lassen.
Der Klassenkampf ist verschwunden, die sozialen Fragen trotz objektiver Bedeutung in einem heillosen Wirrwar relativistischer Überlegung langsam vertrocknet. Gleichzeitig kann aber auch das System nichts mehr anbieten. Die Wirtschaft wächst nicht mehr, das Weltwährungssystem steht vor dem Zusammenbruch, analog zu den Währungssytemen aller Werte, die das System ideell stützen. Doch trotz Millionen Arbeitsloser, trotz der Unmöglichkeit die erste Welt zu sanieren ohne, entweder Kriege zu führen, die vermutlich die Welt auslöschen, oder sämtliche natürliche Resourcen zu vernichten, riecht es nirgendwo nach Revolte, die Widersprüche sind eingezwängt in die monumentale Starrheit der Blöcke, wie ihre Vertreter in der Immendorff-Welt in die Architektur des Brandenburger Tors.
Aber auch in der anderen Welt glaubt kein Mensch mehr an die optimistischen Versprechungen Chrustschovs („Wir werden den Westen ein- und überholen“). Die ewig-graue, trostlos-verregnete Wirtschaftskrise des Ostens, vom imperialistischen Welthandel und eigenen Irrtümern verursacht, erhöht die Staatlichen Repressionen. Auch hier: nichts geschieht, außer daß ein anachronistischer Arbeiterführer seine Leute zum Beten schickt und dafür vom Westen 300 000 DM erhält. Die Blöcke verwalten stumm und grimmig ihre Krisen. Ihre depressive Stagnation ist in die brummige Starre des, die Blöcke trennende Mauer überragenden, Tores eingeschrieben.
Beides ist richtig. Die Ideen irrlichtern irre in ihrer Überbau-Welt und sind von der Architektur der Ausweglosigkeit geknechtet. Die beiden Modelle, Tor und Cafe, unterliegen einer Idee von Schein und Sein, nach der beweglich zu sein scheint, was starr ist, aber auch wirkungslos und ausweglos zu sein scheint, was Sprengsatz und Bombe ist. Auch diese Dialektik hat den Humor, der typisch für die Immendorffschen Festlegungen, Eindeutigkeiten ist, der Humor der mutwilligen Vereinfachung aus strategischen Gründen. Das Tor und seine Geschichte, seine Widersprüche und die Widersprüche seiner Repräsentation sind zusammen eine politische Perspektive (und auch deren resignierende Verneinung), die das Irrationale und Deutsche, hofft instrumentalisieren zu können, weil sie um die Kraft eines Zeichens weiß, das genau an der verwundbaren Stelle befindlich, der offenliegende Nerv unserer toten, kalten Weltordnung ist. Der Sonderfall, die Ausnahme, die noch immer der Stoff war, aus dem man Utopien gemacht hat.