Was so wichtig ist: irgendwo von Neuem zu sprechen beginnen. Nicht ewig weiterpulen an den kranken, verfaulten Extremitäten einer zu Ende gegangenen Schreibweise. Von Neuem sich das Leben, die Welt aneignen, ohne nur zu reproduzieren, was man nicht einmal im Original verstanden hat: Beatnik-Aufgüsse der Dada- und Surrealismus-Revival-Versuche. Und die etablierten Prosa-Hengste verfolgen nur noch das schwach umrissene Gespenst des großen Romans. Die Literatur, ob etabliert oder alternativ, ist nicht erst seit ihrem selbstverkündeten Tod (68) eine reichgeschmückte Leiche. Prätentiös, falsch und nicht mal ein morbider Spaß.
Irgendwo fangen Leute an zu schreiben, die sich nicht um die großen Vorbilder bemühen, die kein Handwerk erlernt haben und nicht von Oberschulen, Universitäten, Feuilleton sich haben versauen lassen. Deren Texte neu aufbauen, sich aus der persönlichen Not die Sprache selbst ordnen. Keine Primanerlyrik und neue deutsche Welle-Peinlichkeit also, die immer im Kampf mit den anerzogenen Schreibhaltungen scheitert, an Deutschlehrer-Ideen wie „Inhalt“ oder „Aussage“. Neu dagegen: Akif Pirincis „Tränen sind immer das Ende“, Kirstin Ruges „Neue italienische Reise“ oder Joachim Lottmanns „Port Stanley ist gefallen“.
Der Suhrkamp-Verlag, normalerweise ein genauso behäbiges Unternehmen, wie alle anderen deutschen Großverlage, muß einen mutigen, klugen neuen Lektor eingestellt haben. Eine Veröffentlichung wie diese wäre sonst nicht möglich. In einer Pralinenschachtel verpackt liegt das goldene Tagebuch eines jungen Mädchens, das beim Beschreiben ihres scheinbar durchschnittlichen Lebens, in immer verstiegenere Leidenschaften und Mikro-Welten vordringt.
Verstreute Aufzeichnungen seit ihrem 12. Lebensjahr legen von einer durchschnittlichen Vita irgendwo in Hamburg Zeugnis ab. Aber Veranda, von deren richtigen Namen wir nur das Initial M. erfahren, nähert sich mit zerstreuter Genauigkeit und scharfem Blick, all dem, was ihr Leben besonders macht. Ihre wahnsinnigen kleinen Systeme, die ihren Alltag durchkreuzen, wachsen unter ihrer Einsamkeit, ihren Verstrickungen in die Sprache und ihrem Tagebuch zu monströser Größe. Veranda ist ein weiteres Beispiel dafür, daß der Wahn, dem wir alle nahe sind, beredt ist und nicht sprachlos-kreischend wie etwa in Schröters „Tag der Idioten“. Der Wahn ist das Schreiben selbst, wenn man sich seiner Dynamik hingibt und nicht wie die professionellen Schriftsteller um Reputation und ein Monatseinkommen kämpft: In „Mein Flirt“ gibt es feste, gesetzte Koordinaten: der Popstar Winny P., der gleichzeitig ein Schuhkarton ist und für den das Tagebuch geschrieben wurde, die Bonbons auf dem Fußboden, das Schiffchen, das sich aus den Buchstaben W und P bildet, das „eigenartige, schwachsinnige Scheinziel“, von dem immer die Rede ist oder der „Grund“ oder die „Schokoladentage“ und „Schokoladenkater“. Im Verlauf des Buches werden die Eintragungen immer genauer, häufiger und gleichzeitig bizarrer und unberechenbar wahnsinnig. Zwanghafte, monotone Erklärungen, die an Becketts Romane erinnern, wechseln ab mit unbekümerten, naiv-genialen Alltagsschilderungen.
Ich habe zwei Probleme (…) Eines der Probleme ist mir peinlich, wundschabend peinlich. Beide Probleme sind erst lösbar, wenn vorher das andere gelöst ist (…) Das eine, welches mir mit Federleichtigkeit nicht peinlich ist, rief das andere, welches mir so wundschabend peinlich ist hervor (…) Scheinbar ist das zweite, mir unpeinliche Problem etwas heikler, sonst hätte ich es schon längst genannt und ausführlich beschrieben, denn es ist mir ja nicht peinlich, und ich beschreibe es sehr gerne. Scheinbar muß noch etwas dran sein an diesem Problem. (…) Oh, es würde mir viel Spaß machen, Dir mein unpeinliches Problem in der einzelsten Ausführlichkeit darzustellen. Auch Dir gefiele mit enormer Sicherheit es still zu lesen. Doch es ist mir verboten mit Dir darüber zu reden.
Sie schreibt super, oder?
Es gibt übrigens noch ein drittes („mein allerschlimmstes“) und ein viertes („mein eigentliches“) Problem, deren Verknüpfungen die Autorin aufs Spannendste über Seiten ausbreitet. Ihr Hobby, noch die kleinsten Alltags-Zwangsneurosen, Gedankenknoten, Spleens zu benennen und zu systematisieren bringt uns die Ähnlichkeit ihrer Systeme mit den großen anerkannten Systemen der Philosophen nahe.
Veranda Spuk hat sich dem Suhrkamp-Verlag entzogen. Sie bestand darauf, ihr Buch als Typoskript mit allen Deutsch- und Tippfehlern zu drucken und machte Entwürfe für die Pralinenschachtel, in der es verpackt worden ist. Sonst hat sie alles verschlüsselt. Ihr Superstar Winny P. könnte ebensogut Leonard Cohen wie David Bowie sein. Sie scheint als Schaufensterdekorateurin oder etwas Ähnliches zu haben. Hoffentlich war ihr Selbstmord am Ende des Buches wirklich nur eine Provokation für Winny P., der das Buch, wenn es übersetzt worden ist, lesen und dann für M. in seine nächste Platte eine Botschaft einbauen soll. Vielleicht meldet sie sich ja mal. Aber das wäre gegen die Spielregeln ihres Buches.
Glauben Schimmelpilze auf Schokolade, sie können sterben oder glauben sie zu wissen, sie müssen sterben? Fast alle Tage, die nicht Sonnabend oder Sonntag sind, gerate ich in den allernächsten Sommer der schimmeligen Schokolade auf Gips. Und es kann sein, daß ich noch immer daran glaube sterben zu können.
Suhrkamp-Verlag, dick, lohnt sich!!!

