„Verzeihung, das ist schon der Ausgleich“. Über die neue Unübersichtlichkeit im deutschen Fußball

Das Denken über Fußball läßt sich in drei Epochen gliedern. Für die Frühphase, den Enthusiasmus, die Vom-Ghetto-zur-Lotto-Annahmestelle-Philosophie, die fast knielangen Hosen, steht Sammy Drechsels Roman „Elf Freunde müßt ihr sein“. In dieser Welt ist Fußball Ausdruck von etwas. Eine Art Volkskunst, die unmittelbar und unbeholfen, aber reizend authentisch artikuliert, was das Volk aufrührt und umrührt, im Guten wie im Bösen. Das Personal dieser Zeit sind Sepp Herberger und Fritz Walter; denn nicht nur Filmleute, Richter und Wirtschaftskapitäne wurden nach dem Kriege nicht ausgewechselt, auch der Fußball hatte seine Kontinuität. Am Ende dieser Ära spaltet sich das Bewußtsein des Balles. Das stürmische, schnoddrig-kameradschaftliche, kryptoschwul-kryptofaschistisch, SA-hafte des deutschen Fußballs verschwindet, aber der Diskurs, den es produziert hatte, bleibt erhalten.

Für die Ära Schön steht das Buch „Der Ball ist rund“ von Ror Wolf. Die hierin aufgenommenen Zitate, Sonette, Reportagen etc. machen klar, daß Sätze wie „Der Bessere soll gewinnen“, „Die Mannschaft starb in Schönheit“, „Der Uwe hat wunderbar gekämpft“ etc., die weiterhin das moralische Gerüst der Spielreportage abgeben, nicht mehr geglaubt werden, außer von Rudi Michel. Was wirklich geglaubt wird, sind die verklärten spät-buddhistischen Herberger-Weisheiten, die dieser formulierte, bevor er ins Nirvana einging. Ich will sie nicht wiederholen, jeder kennt sie und sie stehen hinter all den Pseudo-SA-Kampfparolen sozusagen als kollektiver Seufzer, als barocker Weltzweifel, als resignierter Fatalismus, der natürlich gerade in einer Zeit aufkommen mußte, als alles so wunderbar klappte im deutschen Fußball, als die deutschen Spieler mit Kampf und Technik Erfolge erzielten. So eine Euphorie hat ja immer ihre Dialektik, ihren Schatten, der, hier die Nichtigkeit menschlichen Strebens, Vanitas und dergleichen, natürlich gerade im Moment vollendet sinnvollen Erfolges, gerade im Moment des Sieges der Gerechtigkeit aufkommen mußte. Denn, der gerechte Erfolg (72, 74) ist nicht erlaubt im Fußball, nicht wirklich erlaubt, er war der Ausgangspunkt des archaischen SA-Fußball-Denkens. Aber mit den Jahren wurden natürlich jedem klar, daß die sittlich-moralische Botschaft des Fußballs die ist, zu erklären, daß es in der Welt prinzipiell ungerecht, zufällig und falsch zugeht und daß jedes Menschenleben nach 90 Minuten zuende ist. Fußball ist eine Erfindung von Albert Camus, der Mythos von Sisyphos ist der Regelfall: „90 Minuten überlegen gespielt und dann dieses dumme Tor!“

Und als es dann für die Deutschen gerecht zuging, spürte das Volksempfinden im Reportermund, daß etwas nicht mit rechten Dingen zuging und verfiel der bei Deutschen schon immer populären Mischung aus Buddhismus und Existenzialismus. Es ist ja kein Wunder, daß als die wahre Glanzzeit des deutschen Fußballs der Schön-Ära nicht die Jahre der ungeteilten, gerecht erspielten Erfolge gelten, also EM 72, WM 74, EM 76, sondern die Ära der Schiedsrichterschweinereien, dummen Tore, italienischen Fouls, also die WM 66 und WM 70 und als das eherne Mahnmal für die Gefährlichkeit des kleinen Gegners das 0:0 gegen Albanien anno 68, nicht die folgenden Blamagen gegen Marokko, Algerien and the likes.

Heute sind wir an einem Punkt angekommen, wo die Graumäusigkeit und Durchschnittlichkeit des deutschen Fußballs alles, was darüber gesprochen wird, zur völligen Referenzlosigkeit verurteilt. Da es aller Welt egal ist, wie die Mannschaft spielt, kann man weder wegen ihrer Erfolge an die Vergänglichkeit fußballerischer Schönheit weltschmerzlich erinnert werden, noch kriegt man die Katharsis ab, weil sie von Schiedsrichtern, Ausländern oder blöden Zufällen betrogen werden könnten, noch kann man auf irgendeinen sauer sein, weil sie seit entsetzlich vielen Jahren unsäglichen Leids zu allem Überfluß immer noch „gute Ansätze“ zeigen. Da aber dennoch aus leicht einsehbaren Notwendigkeiten über Fußball gesprochen werden muß, gibt es seit ein paar Jahren dieses Sprechen über Fußball, das so vollkommen verlogen, nein eben noch viel mehr als verlogen ist: Weder verweist es auf eine Realität (etwa die des vor allen Augen ablaufenden Spiels), noch auf einen zwar ungültig gewordenen, aber immerhin als Erinnerung an vergangene Zeiten verständlichen anderen Diskurs (also man kann auch nicht mehr sagen: der Reporter redet ja gar nicht von diesem Spiel, der redet ja von einem anderen Spiel. Nein, er redet von überhaupt keinem Spiel, er redet, weil ihn seine Hämorrhoiden zwicken, also redet er auch davon, oder?) noch verweist es auf irgendeinen Grund, warum gelogen wird, denn es wird ja nicht aus Interesse gelogen, um etwas zu verheimlichen oder etwas manipulativ durchzusetzen.

Wer es nicht glaubt, braucht nur einmal statistisch zu ermitteln, wie oft Reporter heutzutage einfach aus geistiger Absenz noch das Allerfaktischste dessen, worüber sie vorgeben zu berichten, durcheinander kriegen. Wie oft sie nicht einmal wissen, wie das Spiel steht: „Das ist der psychologisch wichtige Anschlußtreffer zu 1:2.“ Zweite Stimme (leise). „2:2“ Erste Stimme: „Verzeihung, das ist sogar schon der Ausgleich, der verdiente Ausgleich möchte man sagen, wenn man berücksichtigt …“

Dies passiert ständig, und im gleichen Zug verlangt die offizielle Sportreporterkritik immer lauter nach enthusiastischen Reportern, als wäre die Leere des Diskurs durch die Lautstärke und Emotionalität eines Dieter Kürten aufzufüllen. Über nichts kann sich niemand aufregen. Horror vacui, kann ich da nur sagen, aber was Mexiko betrifft, verläßt man sich auf den Genius loci. Schließlich ist die deutsche Mannschaft hier schon einmal ganz fantastisch betrogen worden.