Viele bunte Ameisen. Die linken Liedermacher: Ein Rückblick auf die Singebewegung der sozialliberalen Epoche

Jetzt, wo es vorbei ist, darf man Rückschau halten. Jetzt, wo wir Kohl haben. Jetzt, wo es die große weiche, weite Friedensbewegung gibt, diese ideologische Heißmangel. Jetzt also, wo unsere Liedermacher, wie einst Vorbild Dylan beim Newport Festival 1965, zur elektrischen Gitarre greifen, um ihre richtigen Anliegen und von niemandem angezweifelten Wahrheiten mit noch mehr Megawatt zu verbreiten.

Dabei wollte dieser Protestgesang am Anfang gar nicht in die großen Arenen. Im Gegenteil: in Kneipen und Kellern wurden die Anliegen der Sechziger mit gutem alten Handwerkszeug, mit Klavier und Klampfe, in die deutsche Gemütlichkeit heimgeführt. Mit den Teufeleien der Kulturindustrie hatte man damals nichts am Hut die Liedermacherei gab sich als linker Entwurf, wobei das Konzept aber tatsächlich reaktionäre Züge hatte, denn es war geschichtslos. Und noch heute kann die „Frankfurter Rundschau“ in einer Liedermacher-Rezension die rhetorische Frage stellen: „Ist denn heute nicht genauso wahr wie 1848, daß … “

Eben nicht.

Jede Gesellschaft kriegt die Kultur, die sie verdient. Die sozialliberale Gesellschaft der Siebziger war eine, die aus allen Löchern eines verkündete: Demokratie. Jeder darf mitmachen. Jeder, der den Mund aufmacht, wird gehört, macht mit, hat Anteil. Wer nicht fragt, bleibt dumm. Wehr dich! Sag deine Meinung! Dabei entstand ein Sprechen, das als vielfältig ausgab, was im Grunde nur eines war: das immergleiche Anti-Repressionslied.1

Und so sangen sie dann über die Akkorde e-moll/C-Dur/D-Dur/G-Dur: „Fünfunddreißig Kinder sind zu viel für eine Klasse“ oder „Wie öde ist eine Hochhausstadt / weil man hier keine Freunde hat“ oder „Gammastrahlen für die Ewigkeit / in den Kassen der Konzerne klingelt das Geld“.

Der Liedermacher ist nämlich in der Regel ein aufmerksamer „Stern“-Leser (sehen wir mal von den Veteranen ab, die ihr Denken noch der klassischen Linken verdanken). In seinen Texten finden wir genau dieselben „Probleme“ der Zeit wieder, die auch als „Probleme“ die „mutigen“ Leitartikel des „Stern“ bewegen. Also das, was wir an der freien Meinungsäußerung in dieser wunderbaren Demokratie so schätzen. Nur, daß diese „Probleme“ im „Stern“ noch von der Aura der Aktualität zehren frisch gefunden, frisch erfunden -, während sie beim Lied erst zur Gesinnung käsen müssen.

Der „Stern“-lesende Liedermacher mahnt und warnt, beschwert sich und klagt an. Er hat die Rhetorik des Kindes, das sich bei seinem Vater über vorenthaltene Spielsachen beschwert. Er singt mit der Stimme dessen, der sein gutes Recht einklagt, herbeinörgelt beim Vater Staat.

Er glaubt, es sei notwendig, das allgemein Bekannte auszusprechen, weil es ja immer noch einige gebe, die auch das allgemein Bekannte noch nicht kennen: „Ein KKW ist großer Scheiß/was schon jeder zweite weiß/Doch wir müssen allen sagen/keiner kann Uran vertragen.“ Und wenn es dann alle hören, werden „Prozesse in Gang gesetzt“, so die optimistischen Herausgeber eines Liedermachersammelbandes. So der Mechanismus des Liedes, wie ihn sich der aufklärende Liedermacher vorstellt.

Unlängst gab es eine Sammelplatte mit dem bezeichnenden Titel „Sinnvoll und tanzbar“ (sinnvoll wollten sie schon immer sein, tanzbar ist das Zugeständnis an die neue Zeit) in Form einer „Atomkraft Nein danke!“-Plakette. Wird Künstlern des sinnvollen „Musikant“-Labels der EMI, wie etwa den sinnvollen bots, die Goldene Schallplatte verliehen, findet die Zeremonie nicht wie sonst üblich in der Chefetage mit Sekt und anderen Accessoires bourgeoisen Lebensstils statt, sondern in der Kantine. Die Verleihung übernimmt der Betriebsrat.

Aber auch die Leute, die normalerweise von Sinn, Vernunft und Wahrheit den Kanal nicht vollkriegen können, wollen ab und zu von etwas anderem hören. Dafür wurde in den Siebziger Jahren die Phantasie erfunden. Stifter dieser Religion sind vor allem Österreicher wie André Heller oder Arik Brauer, ihr Tempel ist der Zirkus Roncalli. Mit militanter Freude an Wiederholungen feiern sie das „Anderssein“: „Glaub nicht an das Winkelmaß“, singt der „träumende Romantiker“ und „Surrealist“ (ein Begriff, der im Kulturbetrieb für jeden Scheiß herhalten muß) Arik Brauer. Und: „Mal auf dein Tor den Schmetterling / die Blume und den Mond / und viele wunderliche Dinge … “ (Namensschild und Klingel sind ja auch langweilig).

Die Phantasievollen haben ein ganzes Kinderzimmer voller Metaphern zu bieten, wenn es darum geht, das hohe Lied des Individualismus zu singen, die eigene unangepaßte Persönlichkeit zu feiern und Feuerschluckern oder Zigeunern oder – natürlich! – traurigen Clowns zu huldigen. Wenn ich zum Beispiel André Heller zitiere, komme ich mir vor wie ein Denunziant: „ich bin eifersüchtig auf die sprache. sie ist eine nymphomanin, schläft daher mit jedermann, und ich hätte sie gerne für mich alleine.“ Läßt man sich mal auf das eklige Bild ein, die Sprache sei die Geliebte derer, die sie sprechen, dann muß man sich schon darüber wundern, daß sie sich mit einem einläßt, der sie derart roh behandelt. Denn eifersüchtig ist Heller nicht auf die Sprache, sondern vermutlich auf seine vielen bärtigen Schreiber- und Poetenkollegen.

Irgendwo zwischen dem Lyrik-Schmonzes, wie ihn das österreichische Kulturvolk so gerne pflegt, und aufgeklärter Gesinnung steht Konstantin Wecker, -ein wirklich großer deutschsprachiger Liedermacher, der unangefochtene King der Szene. Einer, der seine Texte ungestraft Elegien nennen darf und dem man sie als Taschenbücher verlegt. Berühmt wurde er durch den „Willy“, eine mit nachdenklichem Gestus vorgetragene Dialekt-Ballade gegen intolerante, gewalttätige faschistoide Spießer. Also wieder das gute alte „Stern“-Feindbild, wieder die Auseinandersetzung mit einem dieser Wunschgegner, die dem 68er-Gemütsmenschen geblieben sind.

Wer ist eigentlich für die mordlüsternen Spießer, die die „Willys“ und „Andis“ dieser Welt erschlagen und erschießen? Warum also soviel davon hermachen, daß man kein mordlüsterner Spießer ist und deren Tun verurteilt? Reduziert man dadurch die Anzahl mordlüsterner Spießer oder erhöht man die Zahl selbstgenügsamer Alternativmenschen, die sich in dem Bewußtsein sonnen, daß sie allesamt keine mordlüsternen Spießer, sondern friedliche Alternativmenschen. sind mit einer Toleranz wie Drahtseile?

Nur an mich denkt niemand. Wenn ich den Wecker mit Triefmiene sein „Meisterwerk“ (so Liedermacherexperte Thomas Rothschild über den „Willy“) in einer TV-Sendung wie, sagen wir mal, „Litera-Tour“ mit Reinhard Hoffmeister vortragen sehe, vor dreieinhalb Millionen ergriffener, zustimmender Alternativmenschen, werde ich zum mordlüsternen Spießer. Soviel billiges Rechthaben kann kein gesunder Mensch ertragen. Da tut man dann mit Absicht das Falsche, nur um nicht auf so einem kleinen gemeinsamen Nenner stehen zu müssen. Aber bevor ich Platten- und Bücherverbrennung spiele, höre ich lieber ein paar Takte Punkrock („duffduffduff“), und alles ist vergessen, und ich habe sogar den Segen von Konstantin Wecker, sagt er doch: „Wenn dir was weh tut, / mußt du schreien.“ Aua!

Anders die ganz alten Sänger, die Kommunisten. Die wissen, was sie wollen, müssen nicht auf Deubel-komm-raus Übereinstimmung produzieren, wo keine ist. Also die Kommunisten mag ich. Degenhardt und so. Auch wenn sie inzwischen völlig anachronistisch sind, sind sie doch wenigstens Zeichen besserer Zeiten. Und je starrköpfiger sie sich geben, je weniger sie sich revisionistisch mit der allgemeinen Friedens- und Kirchentagsgesinnung arrangieren, desto lieber habe ich sie. Leider leiden etliche von ihnen unter dem eigenen Anachronismus und der dazugehörigen galoppierenden Wirkungslosigkeit und versuchen Ausweichmanöver. Das heißt, sie suchen sich Schauplätze, wo die Widersprüche noch die alten zu sein scheinen. Vor ein paar Jahren war das zum Beispiel Chile.

Darüber hat ja eigentlich ein jeder dasselbe zu sagen. Ich meine, es liegt auf der Hand: ein faschistischer Putsch gegen eine sozialistische Regierung, unterstützt vom US-Imperialismus, der seine Kapital-Interessen in Gefahr sieht. Echt traurig, wirklich böse, voll Scheiße! Ich, mein Nachbar, meine Frau, meine Katzen, meine Kücheneinrichtung wir alle denken vollkommen zu Recht: „Voll Scheiße!“ Aber dann kommen nach halbjähriger Gärungszeit dreieinhalbtausend linke Liedermacher daher und singen nochmal: „Voll Scheiße!“ Da gähnt der Kühlschrank und der Brotkasten schläft ein. Das ist das Problem mit den linken Liedermachern; ansonsten ist mir nichts lieber als ein Kommunist. Vorausgesetzt, er redet hochdeutsch und nicht so platt (im doppelten Sinn) wie Hannes Wader.

Zum Beispiel der Film „Missing“ von Costa-Gavras zeigt, wie die Chile-Geschichte bewältigt werden kann. Er verteilt sie auf mehrere Charaktere, von denen einer, Jack Lemmon als biederer New Yorker, der seinen Sohn sucht, bislang dachte: „Voll gut“, daß die Roten weg sind. Auch „Missing“ ist kein Meisterwerk, aber der Unterschied zu unseren Liedermachern ist doch bedeutend: Während die alle so tun, als hätten sie – lauter kleine Victor Jaras – persönlich im Stadion gesessen, holt sich dieser Film seine Wirkung, seine Intensität und Subjektivität aus einer guten, routinierten und einigermaßen distanziert ausgedachten Geschichte.

Der gefallene Engel unter den Kommunisten ist Wolf Biermann, der einzige Liedermacher deutscher Sprache, der jemals mehr war als einer, der den Konvertierten predigt. Wie nämlich Dylan war Biermann, mag er sich bei dieser Bezeichnung auch hoch so sehr winden, ein Pop-Star. Und Pop-Stars sind ja die letzten Instanzen der Kunst, die noch etwas bewegen, verrücken. Wie Dylan vereinte Biermann nämlich mehrere bis dahin unvereinbare Kulturen und Systeme in einem System, knallten in seinem Image andere Images zusammen: Erstens Vollprolet, Hamburger, Populist, Sexist, Draufgänger; zweitens: Kommunist, Sohn eines Kommunisten und bis obenhin voll revolutionären Pathos, wie es ihn hierzulande nirgendwo gab; drittens: Er lebte in der DDR und griff sie von links an, Kronzeuge für heranwachsende Linke, die sich gegen den Eltern-Satz „Geh doch nach drüben“ zu wehren hatten; viertens hatte er neben Brecht und Arbeiterkultur mit DDRler-Neugier noch den Blues, Bob Dylan und US-Kultur gefressen, und das war unschlagbar.

Als er dann in den Westen kam, verließ er das Podest, kam, wie in der Liedermacher-Kultur immer wieder gefordert, von seinem Sockel herunter, und das war sein Fehler. Star sein, verunsichern, Gehirne bewegen und dergleichen kann man nämlich nur unter Ausnutzung strategischer Vorteile. Für die BRD-Medien-Kultur gab Biermann diese Vorteile auf und gehorchte dem Imperativ der sozialliberalen Drög-Kultur, sich mit „Kumpel“ und „Du“ anreden zu lassen. Er wurde wie Franz Beckenbauer „einer von uns“, lobte Lindenberg und dessen Einfluß auf die Jugend, und seine Virilität und sein Pathos schmeckten in „Talk-Shows“ wie „Autor-Scooter“ nur noch schal.

Schal wie jodelnde Volkstanztrupps mit sozialkritischen Texten („Das nächste Stück haben wir den ‚Anti-Startbahn-Schuhplattler‘ genannt. Wir wollten damit zeigen, daß der Widerstand gegen die da oben und ihre Startbahn hier in Unterbayern schon eine Tradition hat seit den Bauernkriegen, als der Luther …“). Aber bei aller Kumpelei feiern sie dann ständig das Anderssein, das Unangepaßte, das angeblich für diesen Staat so schwer zu verknusen ist. Wie können wir denn alle Kumpel sein, wenn wir alle anders sind?

Ganz einfach! Dafür wurde schließlich die PHANTASIE erfunden und an die Macht geholt. Die PHANTASIE sorgt für ein tolpatschiges, ungefährliches Anderssein, das keinen Kumpel verstört. Die vielen andersartigen Kumpel haben einfach ein Volk von bunten Ameisen gegründet. Jeder so anders, daß alle gleich aussehen und ein Gang durch das Uni-Viertel weniger unterscheidbare äußere Merkmale ans Licht fördert als ein Besuch der Hamburger Börse. Die Konvention des Unkonventionellen hat da eine Kultur geschaffen, deren Liedermacher-Halfzware-Welt genauso rigide von Gesetzen durchzogen ist wie das Leben in Nordkorea.

Doch sind auch diese Zeiten bald vorbei. Noch größere, unverbindlichere Allgemeinüberzeugungen prägen die Menschen: der Frieden als Generalanliegen ist nicht mehr zurückzudrängen. Nicole will ihn, Vicky will ihn, und Angi Domdey will ihn. Die Musikerin aus dem Ensemble Schneewittchen, bis dahin durch possierlich-unverbindliche Frauenkunst hervorgetreten, singt jetzt: „Pazifistin bin ich“. Wenn sie sänge „Ich bin Pazifistin“, wäre das keine Lyrik, die kleine Umstellung befriedigt den literarischen Minimalanspruch. Georg Danzer kann seine 1978 für eine Kampagne des BKA geäußerte Überzeugung „Gewalt ist Shit“ sicher auch gut in die Nachrüstungsdebatte einbringen, und über all dem thronen BAP und bots, deren Liedermacher-Rock in einer Weise die Hitparaden als Großkampfarenen der Gesinnungssingerei erobert hat, wie es keiner der Original-Siebziger-Liedermacher sich je erträumen konnte. Nicht einmal die ganz großen wie Wolf Biermann oder der verträumte holländische Charmeur Hermann van Veen, auch nicht die kinderliebe Bettina Wegner, die mich neulich im TV begeisterte, als sie die ungemein originelle Vision vortrug, daß der Herr Jesus, käme er heute zur Erde, von intoleranten, faschistoiden Schweinspießern undsoweiter, undsofort… Nein, sie alle haben nur den Boden bereitet, waren harmlos gegen die massive Aufrüstung an Plattheiten, die uns jetzt bevorsteht.

Wäre es nicht das Vernünftigste, man machte einen Abrüstungsvorschlag? Wir stellen keine neuen Mittelstrecken-bots auf, wenn ihr euren Kohl verschrottet. Wäre das nicht vernünftige, sozialdemokratische Politik, wenn es schon sozialdemokratische Politik sein soll?

  1. „Solange man nur ad infinitum das immergleiche Anti-Repressionslied singt, bleiben die Dinge unverrückt, und es ist ganz gleich, wer den Gesang anstimmt, es hört ihm doch keiner zu.“
    (Michel Foucault) ↩︎