Es blieb gerade noch Zeit, den Koffer ins Hotel zu bringen und die obligatorischen Formulare an der Rezeption au unterzeichnen. Denn auf der Fahrt vom Flughafen nach Manhattan hatte ich in der „Village Voice“ gelesen, das heute abend Gun Club in der „Peppermint Lounge“ spielen, und das war und ist eine meiner fünf liebsten Gruppen. Mit qualmenden Reifen hielt das gelbe Checker-Cab vor einem dampfenden Gully und ich stürzte, dem schwarzen Fahrer noch ein paar krumpelige Dollarnoten in die Hand drückend, in den riesigen Club.
Doch wieder einmal war die Zeitangabe unzutreffend. Jetzt (Mitternacht) sollte erst einmal die Vorgruppe spielen. Gun Club dann um zwei. „Verdammt heiß“ sollte diese Vorgruppe sein, meinte einer, „das neue Ding“ ein anderer. Nach und nach fand ich heraus, das niemand wegen Gun Club hier war. Ein John Cale und Frau, in Sonnenbrille und schwarzer Abendgarderobe (allerdings barfuß in Lackschuhen), und andere Prominente bewaffneten sich mit Operngläsern und starrten neugierig auf die Bühne. Dann kamen die Violent Femmes.
Ich verstand zunächst nichts. Da waren drei ständig ihre Instrumente wechselnde, unscheinbare Jungs, die fast ausschließlich akustische Instrumente verwandten. Ihre Songs begannen wie alle Velvet-Underground- oder Jonathan Richman-Balladen, um nach ein paar Takten in atonale Free-Orgien zu zerstieben, und fanden sich nach einer Weile wieder zusammen, um mit ordentlich aufgereihten Tönen als richtige Lieder enden. Immer wieder kletterten Freunde aus dem Publikum auf die Bühne, bis zu sieben Mann versammelten sich, und einige trugen Hüte und Ponchos, und es sah aus wie bolivianische Folklore oder Formentera-Hippies von 1971.
Ein halbes Jahr später, Herbst ’83, kam die LP der Violent Femmes – und entpuppte sich als hinreißend. Purer amerikanischer Untergrund, wie er seit Jahrzehnten ungebrochen verschroben und originell in den Hinterwäldern entsteht und die Metropolen elektrisiert. Die Femmes sind aus Milwaukee, einer unbedeutenden Großstadt. Ihre Musik ist auf humane, verspielt-sehnsüchtige Art dekadent, und es ist eine Dekadenz der x-ten Generation, ein Zitat des Zitats des Zitats von Warhol, Velvet, Eddie, aber auch Beatniks und Zimmermann. Dazu haben sie musikalisch einiges Neues entwickelt, kurze Free-Einlagen, exzessiver Einsatz exotischer, akustischer Instrumente wie Xylophon und einfach hervorragende Liebeslieder, die sie so gut, wenn nicht besser, singen wie ihre großen Vorbilder Jonathan Richman und Lou Reed. „Good Feeling“ ist die beste Beschreibung des „Gefühls danach“ seit Lou Reed in „Pale Blue Eyes“ sang: „It good what we did yesterday / and I’m sure we do it again“, und „Stay With Me“ bettelt so rührend wie kein Mensch seit Richmans „Hospital“ („Please let me back into your Life“).
Wie man hört, wollen die Femmes am Tage ihres Konzerts morgens eine akustische Matinee veranstalten, entweder im oder vorm Rough-Trade-Laden in der Feldstraße.

