Wenn der Nölfunk in die Plattenkiste greift

Okay, hier spricht ein Patriot. Ich lasse auf Hamburg nichts kommen und bin wirklich gut darin, die Scheußlichkeiten von München, Berlin oder Düsseldorf beim Namen zu nennen. Und ich habe mir meinen Patriotismus auch in düsteren Zeiten bewahrt: als Okko, Lonzo und Humptata das kulturelle Gesicht unserer Stadt prägten und der HSV, unter der Regie von Genies wie Klaus Ochs, auf unteren Mittelplätzen dämmerte. Ich blieb treu.

Doch eines, das sage ich in aller Offenheit, vergiftet die Atmosphäre dieser trefflichen Stadt so nachhaltig, daß auch ich schon das Auswandern erwogen habe, und das ist der Rundfunk, das Radio, oder vollständiger der Norddeutsche Rundfunk, jenes von Harvestehude und Lokstedt aus monopolistisch im gesamten norddeutschen Raum bis herunter nach Göttingen und Paderborn schlechte Stimmung verbreitende Institut: der Nölfunk.

Die Alma mater der Carlo von Tiedemann und Lutz Ackermann, die Brutstätte des Schnauzbartes, die Wiege der lockeren Lippe, der schmunzelnden Schnute und der gerunzelten Braue. Ich weiß nicht, ob der Südwestfunk Baden Baden intelligentere Sendungen macht oder eine bessere Atmosphäre verbreitet. In anderen Gegenden der Republik ist es aber wenigstens möglich, auf die Truppensender der uns besetzt haltenden Weltmächte USA und Großbritannien auszuweichen, AFN und BFBS sind aber hier oben nur schlecht zu bekommen (AFN gar nicht und BFBS nur in höheren Stockwerken), und es bleibt uns nichts übrig, als mit der Unausweichlichkeit des die Stadt umfassend beschallenden NDR-II-Programms zu leben.

Wie konnte es dazu kommen? Warum ist es so? War es immer so? Wie ist es eigentlich?

In den frühen Siebzigern war ich ein geradezu begeisterter Radiohörer. Vielleicht war ich einfach dümmer als heute (bestimmt!), vielleicht ließ ich mir mehr gefallen, vielleicht, vielleicht… Aber! Damals war Pop-Musik prinzipiell noch ein Anliegen, das der Durchsetzung bedurfte. Die Moderatoren dieser Zeit waren kontrovers. Wenn damals Wellershaus mit seiner Alexander-Kluge-Stimme zu sprechen begann, hatte man ein fest umrissenes Gegenüber, das für eine ganz bestimmte Haltung stand, und so gestalteten er und seinesgleichen Teile der Jugendsendungen so, daß sie sich erkennbar vom Rest des Programms unterschieden.

Seitdem hat eine wechselseitige Befruchtung zwischen allen Programmteilen stattgefunden, und „Hör mal’n beten to“, die „Morgenandacht“ und der „Club“ unterscheiden sich nur noch unwesentlich. Auf allen Programmen spricht der ewige 30-40jährige Schnauzbart, macht die gleichen Witzchen („‚Lost Again‘ könnt’ das Lied von meinem Kugelschreiber sein: schon wieder weg“) und spielt alte Musik.

Auffälligstes Kennzeichen jeder NDR-II-Musiksendung, bzw. Jugendsendung, denn ich muß vorausschicken, daß ich mich vor allem auf den „Club“ beziehe, weniger auf die im Schnitt immer etwas bessere NDR-I-Nachmittagssendung „Musik für junge Leute“, auffälligstes Kennzeichen also, Garantie dafür, daß man die richtige Welle hört, ist die Häufigkeit der Vokabel „Rock“ im Sprachgebrauch der Moderatoren, wobei man den Zusammenhang, in dem sie erscheint, beim gewohnten Halbhinhören gar nicht so nachdrücklich wahrnimmt, wie einen Fels in der Wortsuppe hört man ständig dieses kernig pronunzierte „Rock“, „rockig“, „Rock’n’Roll“. Natürlich würde es ausgezeichnet zur allgemeinen Gesinnung und Musikauswahl auf NDR II passen, wenn dessen Moderatoren tatsächlich sich als Herolde der traditionellen „Rock-ist-eine-schmutzige, ehrliche, mempfliche-Angelegenheit-alles-andere-sind-Synthi-Roboter-ohne-Feeling“-Ideologie aufführen würden. Aber sie tun nicht einmal das. „Rock“ ist das letzte Ding, die Ultima ratio, das letzte Aussprechbare, das Zentrum einer Religion, die sich genausowenig um Begründung und Rechtfertigung bemüht, wie die Pastoren am Sonntag unentwegt Gottes Existenz zu beweisen sich genötigt sehen. Rock ist Rock. Punkt. Das nächste Stück ist echter Rock, die neue LP endlich wieder rockiger. Spezifiziert wird das allenfalls durch das Adjektiv „dufte“. Ja, dufte sei dieser Rock.

Aber das zu sagen ist eigentlich überflüssig: denn für die, die dieses eschatologische Gerede über den Rock begonnen haben, ist sowieso klar, daß der Rock dufte ist, dafür ist er ja der Rock. Dabei wird keineswegs nur Rock gespielt, im NDR II, wenn, wofür die Empirie spricht, Rock das ist, wo Feeling vorgebend undeutlich gesungen wird oder verzerrte oder andere elektrische Gitarren vorkommen. Aber Rock ist das einzige, was kommentiert wird, andere Musik bleibt in der Regel unkommentiert. Hin und wieder fällt einem Moderator auf, daß etwas kein Rock ist.

Zweites ständig wiederkehrendes Merkmal ist der Lobgesang auf die Ausdauer alter Stars. Paul Simons 25. Comeback-Konzert mit Art Garfunkel ist allemal wichtiger und berichtenswerter als das Neueste aus England. Cliff Richard wird für seine Noch-Präsenz gelobt. Jeder Idiot wird zum Helden, nur weil er der Altersgruppe des zuständigen Moderators angehört, der gleichen Logik entsprechend wird alles Kurzfristige verteufelt. Das „Here Today – Gone Tomorrow“-Credo des Punk ist nicht nur deswegen den NDR-II-Moderatoren zuwider, weil Sich-darauf-Einlassen sehr viel Arbeit bedeuten würde. Sich auf etwas, das im Augenblick stattfindet und Gemüter bewegt, einzulassen, würde ganz einfach den immens hohen Unverbindlichkeitsgrad der Sendungen stören. Denn natürlich kommen auch neue Stücke zu Gehör, vor allem zwar solche, die Musiker zu verantworten haben, deren Glanzzeit mit der Jugendzeit der Sprecher zusammenfällt, aber auch andere. Bei diesen anderen fällt aber auf, daß sie, selbst wenn sie gut verkaufte, weit verbreitete Hits sind, niemals einer Leidenschaft, einem Engagement verpflichtet sind. Wir hören die Musik der Mehrheit. Einer Mehrheit aber, die es nicht mehr gibt. Die Jugend hat nicht mehr eine Mehrheit, sondern stellt sich als eine Reihe von Minderheiten dar, die Mehrheit des NDR ist in Wahrheit nicht das Abbild von Hörerinteressen, sondern das Erziehungsziel dieses Senders und seines Jugendfunks.

Die vielen Kulte, Kulturen, Sekten und Subsekten, die kleinen radikalen Kämpfe und Überzeugungen – sie kommen nicht vor, sie dürfen nicht vorkommen. Dabei prägen sie tendenziell sogar schon die Hitparade (vor allem die englische). Ein Hit ist nicht mehr der plebiszitäre Ausdruck von Wünschen der schweigenden (Jugend-)Mehrheit. Ein Hit ist in vielen Fällen die Hymne des jeweils stärksten Kults oder Ausdrucks einer Koalition der Kulte. Culture Club wird wohl niemand für eine Band der Mehrheit halten, entsprechend wenig wird „Karma Chameleon“ im „Club“ gespielt. Stattdessen die Eurythmics, eine zwar erfolgreiche, moderne Band, aber eine, die keinen Fan hat, keine Ideologie verkündet. Deren Image so farblos und vernachlässigbar ist, wie es der Jugendfunk braucht, um seinen einschläfernden Minimalkonsens aus Cheap-Disco, Alt-Rock und allgemeinsten Wortbeiträgen zur Friedensbewegung ungestört weiterverbreiten zu können. Flinke, ereignisintensive, neue Musik wirkt in diesem Zusammenhang wie LSD im Bier.

Bezeichnend auch, daß die „neue“ UB-40-Single in Wirklichkeit die alte ist, deren Pfeil längst wieder nach unten zeigt. Und bezeichnend auch, daß man sich aus der großen, wunderbaren britischen Hitparade gerade die Band ausgewählt hat, die im antiquiertesten Schunkel-Reggae-Sound zur Zeit gerade Traditionen aufarbeitet. Schunkel-Reggae ist von Boney M bis Laid Back der bewährteste Tranquilizer der Deutschen und gleichzeitig der, den das Volk vollkommen widerstandslos schluckt. Was definitiv nicht vorkommt im Club und fast nie in „Musik für junge Leute“, ist Punk, harter Funk, harter Rap, Underground-Heavy-Metal, Independent Musik und jener verunsichernde britische Pop, den die kernigen, vierschrötigen, absolut n-a-t-ü-r-l-i-c-h-e-n Moderatoren mit Attributen wie „Modescheiße“ und „künstlich“ belegen. Eindruckvollster Auftritt dieser Ideologie war zweifellos jener legendär schwachsinnige Grace-Jones-Verriß, von, ich glaube, Lutz Ackermann, Ende ’81. Gefragt ist immer der ehrliche Musiker, als am ehrlichsten erweist sich meistens der farbloseste, der, der nichts bewegt, sondern nur tut, was alle von ihm erwarten. Tut er etwas anderes, steckt bestimmt die „Kohle“ dahinter.

Jüngere Moderatoren, die man, wenn überhaupt, bei der Musik für junge Leute findet, setzen diese Haltung auf ihre Weise fort. Gipfel der Radikalität ist das Nachspielen der Independent Charts aus dem englischen „New Musical Express“, so hat man wenigstens die Gewähr, einer guten Sache zu dienen, nämlich der der Independents, und ja nicht den kontroversen Charakter bestimmter Musik zu betonen. So kann dann im Gesamtbild das sattsam bekannte „Blue Monday“ von New Order jeden Ton Southern Death Cult nivellieren, wichtig ist, daß man der guten Sache dient, nicht, daß man etwas ausrichtet. So erfreut sich die überaus seriöse Gruppe U2, die gegen den Krieg ist, aus Irland kommt und an Gott glaubt, großer Beliebtheit, ein genialer Scharlatan wie Malcolm McLaren weniger großer. Auch die jungen Moderatoren sind hoffnungslos unpfiffig, niemand da, der sich für seine Musik schlagen ließe. Nie ist es wirklich ein Punk, der eine der raren Punk-Platten ansagt, nie ein echter Bodypopper, der eine Rap-Single kommentiert. Stattdessen kommt ein vollkommen allgemeiner, viel zu später Wortbeitrag: „Breakdancing, das neue Ding aus der South Bronx.“ Und das nachdem das Thema von „Kultur Aktuell“ im 3. Fernsehprogramm über Joachim Fuchsberger in „Auf los geht’s los“ und dem „Aktuellen Sportstudio“ bis zur Totalübersättigung durchgekaut worden war. Das Maximum an Engagement und Leidenschaft finden wir, wenn ein von der Blässe des Gedankens schwer angeschlagener junger Mensch über Tiefsinn und Tristesse bestimmter britischer Depro-Bands seine eines Herrmann Hesse würdigen Philosopheme ausgießt. Das ist zwar weder unterhaltsam noch erhellend, entspricht aber ziemlich genau der Mentalität der entsprechenden Bands und kommt somit meiner Forderung am nächsten, daß die Musik von Betroffenen vorgestellt werden soll.

Die Betroffenheit erschöpft sich sonst, wie gesagt, darin, daß die neue Dylan, McCartney, Burdon etc. von einem vorgestellt wird, der schon beim Erscheinen der jeweils ersten Platte der genannten Musiker strafmündig war.

Geistig kommen die meisten Moderatoren zum größten Teil aus der alten, Gott sei Dank abgedankten „Hamburger Szene“ mittenmang aus der Logo-Remter-Willem-Rentnerband-Truckstop-Welt, unverrückbar gilt für sie, daß die schwitzige Kneipe, nicht der Neon-Laden der Ort des Aufstandes, des Aufbruchs ist. Unfähig zu erkennen, daß auch sie Produkte einer historischen Epoche sind, werfen sie allen anderen Zeiterscheinungen exakt das vor (daß sie Zeiterscheinungen sind) und verabsolutieren die eigenen Erfahrungen zu eigentlichen Erfahrungen. Prägend für diese Zeit war der Versuch, eine Rockkultur in Deutschland, speziell in Hamburg zu etablieren, indem man amerikanische Rockmusik und -kultur ins Deutsche zu übertragen versuchte. Das Resultat hieß in seiner populärsten Form Lindenberg und lag noch in seiner gelungensten Form noch weit unter noch den hilflosesten Eindeutschungen des Berliner Synchron-Studios Wenzel Lüdecke. Analog dazu strebten plötzlich auch die Radio-Moderatoren den Beruf des DJ im amerikanischen Sinne an, nicht mehr das Bekenntnis zu einer Musik, ihre kämpferische Durchsetzung war mehr das Erkennungszeichen eines Moderators, sondern sein spezielles Geplapper, seine besondere Lockerheit, seine individuell-blöden Witzchen.

Und NDR-II-Daueragitation hatte die Leute im flachen, weiten norddeutschen Land bald so hinreichend verdorben, daß tatsächlich einige „DeeJays“ wie von Tiedemann, Ackermann und Günther Fink in diesem Fach zu regelrechten Stars heranwuchsen und die Pest der erzwungenen Leichtigkeit, die jedem, der echtes US-Radio als Vergleich kennt, konvulsivische Schmerzen bereitet, auf viele Nachahmer übertrugen. So kann man heute von einer genormten NDR II-Sprache sprechen, deren Charakteristika nur bei wenigen Moderatoren nicht vorkommen.

Der Sprecher ist unsicher, eigentlich hat man beständig Angst um ihn. Seine Unsicherheit kompensiert er durch ein unnatürlich hohes Maß an Melodisierung, Intonation und Akzentuierung der kargen Sätze, die er verbindend zwischen zwei Songs aufzusagen hat. Diese Unsicherheit legt sich meistens in zwei Situationen: Entweder, wenn, was meist auch das erlösende Ende der Zwischenmoderation markiert, der englischsprachige Songtitel ausgesprochen wird. Dann wird die Stimme lauter, der Kehlkopf kriegt Vollgas und die Stimmritze vibriert. Das englische Wort wird wie eine beschwörende Formel emphatisiert, und der ganze Geist des Rock wohnt ihm inne. Oder aber die Unsicherheit verflüchtigt sich, wenn plötzlich Meinung und Gesinnung verbreitet werden dürfen, wenn man sich für die Schaffung atomwaffenfreier Schulhöfe ins Zeug legt, für die Erhaltung des Würzburger Nachwuchsfestivals ausspricht oder für eine bundesweite Schülervertretung; wenn man also den ungefährlichen Grundkanon halblinker Allgemeinwahrheiten um eine selten neue Facette bereichert. Dann klappt das Sprechen, weil die Scham schwindet. Man kann sich nie des Eindrucks erwehren, daß sich die Moderatoren eigentlich schämen, nur Platten anzusagen, obwohl eben dies so unterhaltsam und provokant wie möglich zu tun die angestammte Aufgabe des Radio-DJs ist. So sind sie gespalten zwischen Murray The K und Murray The Sozialarbeiter, spielen unverbindliche Musik, garniert von unverbindlichen Wortbeiträgen aus der sogenannten Jugendpolitik, so wie Parteien, Verbände etc. sie verstehen.

So werde ich das Radio dann in Zukunft, wenn diese Recherchen abgeschlossen sein werden, wieder weniger einschalten, hin und wieder auf NDR III, sehr hin und wieder. Und das liegt nicht allein am Jugendfunk. Es liegt an der allgemeinen Atmosphäre. Der Club spielt abgehangene, unverbindliche Altmusik. Und was tut die Funkwerbung? Sie strahlt einen Werbespot der Firma „Küppersbusch“ aus. „Küppersbusch“-Geräte habe ich zum letzten Mal bei meiner längst verstorbenen Urgroßomi im Einsatz gesehen. Als ich Eszet-Schokolade aß und draußen ein Borgward Isabella vorbeifuhr.

Und was machen die Nachrichten? Sie strahlen an einem Tag, wo im Nahen Osten die Hölle los ist, Reagan in Japan und anderswo den Krieg vorbereitet, als erste Nachricht die ungemein sensationelle Meldung aus, Heiner Geißler habe vor einem Austritt aus der Nato gewarnt. Wenn sich das nicht harmonisch mit der neuen Dylan, der Bundesschülervertretung und dem Wiener Liedermacher Peter Cornelius zu einem Akkord des Gestrigen, der Ablenkung und Einschläferung vereint, wenn das nicht akustisches Soma ist, dann will ich Lonnie Donegan heißen.