Gestern abend sagte ein Mann, den ich nie dafür gehalten hätte, in Verteidigung eines unhaltbaren Gedankens, er halte sich, wie natürlich jeder, für den Mittelpunkt des Universums und müsse daher nicht näher erklären. Wenn sogar der, dann ich erst recht, dachte ich. Zum Wesen des Mittelpunktlebens gehört, daß sich alle anderen an der Peripherie befinden und auf einen starren, folglich kennen und nicht mit Dingen behelligen, von denen sie aufgrund ihrer Peripherie-Voyeur-Position wissen können, daß man nicht nur nichts mit ihnen zu tun hat, sondern daß sie gar nicht in das Universum gehören, dessen Mittelpunkt man doch augenscheinlich ist. Da man aber je mehr Mittelpunkt, desto mehr behelligt wird, kann die Theorie oder besser diese Metapher des Narzißmus nicht stimmen. Das ist die Geschichte mit dem Design, der Werbung.
Es begann Ende 1982, als man mich bat, unbedingt einen Katalogtext für eine Ausstellung neuer Möbel zu verfassen. Man verstehe mich richtig: neue Möbel, das hieß natürlich andere Möbel, schrille, abartige, einfallsreiche, phantasievolle Möbel. Ich hatte mich schließlich breitschlagen lassen und nach Vorbesichtigung der Ausstellung, in Begleitung eines kundigen Freundes, die These niedergelegt, das neue schräge, schiefe, das Schallplattendesign von Malcolm Garret und Assorted Images ins Dreidimensionale verlängernde Möbeldesign sei nichts anderes als die Übertragung der Strohhut-Flohmarkt-Individualisten-Mentalität, die sich gerne mit schönen alten Dingen umgibt, auf die Wave-Epoche. Beiden gemeinsam sei die Idee der schönen Dinge, deren Schönheit sich danach bemißt, wie sehr sie in ein abzulehnendes Weltbild passen (Hippie-Verehrung des Alten, Authentischen bzw. Waver-Verehrung der eigenen Orientierungslosigkeit, Geschichtslosigkeit etc.).
Ein Interesse an sogenannten schönen Dingen billigte ich nur denjenigen zu, die durch frühkindlich erfahrene Lieblosigkeit zum lebenslangen Fetischismus verdammt seien. Deren Fetische lassen sich aber nicht von Designern gestalten. Der Fetischcharakter eines Fetisch hatte bei den von mir beobachteten Fällen stets literarische Wurzeln. Und so forderte ich von den Normalen ebenso, sich ihre Zimmer so einzurichten, wie es die sowieso immer literarischen Zufälle und Wechselfälle des wirklichen Lebens einrichten.
Schließlich sind wir Autoren unserer Werke und Taten, unsere Umgebung aber sei Natur, der wir ja unsere zivilisatorischen Operationen immer wieder abringen müssen. Sieht aber unsere nächste Umgebung aus, wie von uns gestaltet, also von einem Autor beseelt, der nicht Gott und die Gesetze der Natur ist, müssen wir notwendig erschlaffen, denn die Motivation zu denken und zu schaffen (die Natur zurückzudrängen) wäre aus unserem Lebensraum eliminiert.
Man sieht, ich war für die Absichten der neuen Möbeldesigner gänzlich unnütz, was sie und ihresgleichen jedoch nicht hinderte, mich weiterhin nicht mit allerlei Einladungen und Angeboten in Ruhe zu lassen. Heute habe ich dafür Erklärungen, aber ich will nicht vorgreifen. Man sollte vielleicht wissen, was ich sonst noch machte: Ich schrieb viel, seit 1980, aber hängengeblieben sind bei denen, um die es hier geht, meistens ein paar verstreut veröffentlichte Ansätze zu einer Theorie der Popkultur, deren Leitgedanken unter anderem hießen: Es gibt keinen authentischen Ausdruck (wider den Blues-Gedanken in der Popmusik), Popmusik ist nicht Musik, sondern nur unter anderem auch Musik, statt dessen ist sie ein Komplex, den zeichentheoretischer Jargon erklären bzw. aus den falschen in die richtigen Hände legen helfen könnte; Popmusik handelt von Aktualitäten, und zwar als einzige Kunst relativ unzensiert; der natürliche Feind der Popmusik und der sie umgebenden Kultur seien das Feuilleton und die Soziologie; Mode und kurzfristige Trends, Oberflächlichkeiten etc., also alles, was normalerweise als Indiz dafür angesehen wird, daß die Popkultur, besonders ihre den Charts zugewandte Seite, von der Kulturindustrie lanciert wird, um die Massen von der Beschäftigung mit wesentlicheren Dingen abzulenken, seien im Gegenteil, gerade die Waffen dieser Kultur; weiterhin daß auch schneller Wechsel und Kurzfristigkeit keineswegs den Interessen der Industrie dienen, sondern für diese viel kostspieliger sind als der zähe Dauererfolg von Karajan und Pink Floyd; daß es letztlich darum gehe, ein Kommunikationssystem zu schaffen, das zweierlei leistet: extreme Verständlichkeit und Intensität für die Angehörigen und größtmögliche Unverständlichkeit für die andere Seite (Feuilleton, Soziologie) – dies alles, der dritte Weltkrieg und ein paar Arbeitshypothesen mehr wurden im Laufe der Jahre 83 bis 85 mit für mich unerklärlichem Interesse besonders von Design-Theoretikern, gehobenen Werbeleuten, Innenarchitekten und Art Directoren mit roten Wim Wenders-Brillen rezipiert, was mich zunächst zum befremdeten, interessierten oder auch verängstigten Mitmachen, inzwischen aber auch zu Klarstellungen nötigte.
Heute kam der Frühling; noch unsicher, aber entschlossen taperten die Menschen in die Grünanlagen der Stadt. Die meisten trugen noch ihre dick gefütterten Plastikanoraks – man kann ja nie wissen – was ihre Unsicherheit beim Flanieren noch unterstrich und ihnen ein häßliches, menschenunähnliches Äußeres gab. Alle interessieren sich für Stil, eine ganze neue Medienindustrie ist erahnbar, die sich dem Dechiffrieren von Stil widmet. Barthes’ „Sprache der Mode“ gibt’s endlich auf deutsch und Umberto Ecos Jugendtorheiten über subversive Möglichkeiten nicht-angepaßter Kleidung erscheinen (als Buch zum Film von Eichinger) gesammelt in deutscher Sprache. Alle Mißverständnisse, alle Irrtümer und Lebenslügen der von Oberschülerpunks zu Life-Style-Redakteuren aufgestiegenen Meister des neuen deutschen Journalismus kreisen um diesen Begriff. Bazon Brock kann ganze Tage in Kongreßzentren über „Stilwandel“ abproben, Kongresse geben fünfstellige Beträge aus, um rund um diesen Begriff postmoderne Befindlichkeiten aufzudröseln, und die Werber, Art Directoren und Designer wittern ihre gekommene Stunde: Endlich sind sie nicht mehr die Aasgeier der Kultur, die Ablenker und Verschleierer – sie sind ihr Gegenstand.
Leichtfertige Übertragung von Wirkungszusammenhängen der Popmusik auf andere Kommunikationen? Teilweise. Die Designer und Art Directoren hatten gesehen, daß Popmusik, die nicht nur aus Musik besteht, zum anderen Teil eben aus den Dingen bestand, die sie herstellten: Designtes, Images. So waren sie plötzlich zu virtuellen Co-Autoren der womöglich auch noch gefährlich subversiven Poprevolte geworden, und selbst die Tatsache, daß Popkultur Designtes nie im Sinne der Erfinder einsetzte, konnte den Designern nicht die Freude darüber nehmen, daß ihre Produkte in einen neuen Sinn-Zusammenhang befördert worden sind: Stil.
Wir hörten auf Schallplatte Hitler-Reden, Spandau Ballet und Adenauers Lebenserinnerungen, Ende 82, als ich einen Beitrag für ein Buch schrieb, das später „Stile und Moden der Subkultur“ untertitelt wurde. Dieses Buch, mein darin enthaltener Text und das Ende des Jahres 82 markieren den Beginn des großen Mißverständnisses. Stil, wie ihn Werbung, Architektur und Design prägen, als Hintergrundgeräusch unseres Lebens, ist ohne Autor und ohne Absicht im künstlerischen Sinne, er will nichts, was über seine Aufgaben hinausgeht, die Definition seiner Aufgaben und die Ansichten über die besten Lösungsmöglichkeiten seiner Probleme sind hier und da theoretisch formuliert worden, ja sollen sogar Ideologien formiert haben, wie mir oft und gerne versichert worden ist, aber im Gegensatz zur Popmusik kümmert sich dieser Stil nur um die Hintergrundgeräusche, nicht um die großen Dinge des Lebens, ist nicht Arbeit, sondern Natur. Die Mitwirkenden (Designer, Art Directoren) sind Ameisen. Oder Spielwürmer. Ich empfinde alles, das sich nicht mit einer Aussage an mich wendet, als Natur.
Nicht Levis Jeans haben eine Aussage, sondern die Aussage hat Levis Jeans (unter Umständen) an. Es gab in der Popmusik eine Epoche (1982), wo es besonders angebracht war, die Elemente, die nicht musikalisch waren (auch diese sind naturgemäß immer bereits vorbehandelte, gefundene, selten innovatorische Versatzstücke) zu betonen, wo es nötig war, anhand von Videos, offensichtlich kurzfristigen Modeideen, besonders perfiden Patchworkideen neue Unverständlichkeiten zu konstituieren.
Von diesen war die Rede, wenn eine Pop-Person von „Stil“ sprach, „Stil“ war Style, war die Entscheidung zum offensiven Umgang mit dem, was an Popmusik durch außermusikalische Elemente stilisierbar war. Für einen strategischen Moment.
1983 dann konnte man sehen, mit ansehen, wie die Designer, die Art Directoren, die Werber, deren Hervorbringungen von der Popwelt gegen ihre ursprünglichen Intentionen (oder gar nicht mal so pathetisch „gegen“, sondern ganz einfach als ehemals neutrale funktionale Elemente einer Mode oder eines Image von den Popkünstlern mit Inhalten, ihren Inhalten, aufgeladen) eingesetzt wurden, ihrerseits Objekte, Moden etc. zu lancieren anfingen, von denen sie meinten, daß sie im gleichen Sinne Pop waren. Eigentlich kein ungewohnter Vorgang, „Stern“, ARD und Werbung reagierten seit Menschengedenken nach einer von den indischen Veden festgelegten Verzögerung auf alle Popkultur-Erzeugnisse mit plumper Nachbildung (natürlich haben diese Dinge nunmehr ihre Funktion verloren). Das Neue an diesem Vorgang war nur, daß sich diesmal auch die Jugendkultur öffnete und ihrerseits ganz verrückt wurde auf Design, Werbung und Zeitschriftengestaltung. Heute rennen die jungen Leute in ihre Programmkinos, um sich prämierte Werbefilme anzusehen („Die Cannes-Rolle“), Zeitschriften wie „The Face“ und „Blitz“ und ihre kontinentaleuropäischen Epigonen sind voll von Uhren, Kaffeekannen, schönen Dingen und anderen Scheußlichkeiten. Kein Tag ohne neues Möbeldesign.
Die Tatsache, daß der Akzent der letzten großen Unverständlichkeit (zu Recht) auf außermusikalischen Oberflächlichkeiten lag, hat dazu geführt, daß nun auch die Nachhut dieser Unverständlichkeit in diesem Bereich extrem sensibilisiert ist. Die glorreiche Hippie-Bewegung mit ihrem feinen eklektizistischen Polit-Religions-Wust produzierte neun Jahre unsäglichen Indien- und Öko-Leidens, die Glam-Video-Rebellion von 82 wird für weitere elf Jahre grausigen Leidens durch eine nachgewachsene Brut mit entsetzlich gutem Geschmack verantwortlich zu machen sein. So auch ich.
Denn auch ich hatte meinen Teil geleistet, zum Teil sehr gegen meine Natur, die Aufmerksamkeit auf die Gestaltung, das Design des Lebens zu lenken, freilich in der Absicht, der Idee des Tiefen und Echten, das sich hinter einer vermeintlichen Oberfläche verschanze, entgegenzutreten und zu erklären, daß die intelligente Kombination frei gewählter Oberflächen, von der Absicht geleitet, eine Aussage in der Welt plazieren zu wollen, die für meine Brüder und Schwestern geeignete Methode sei. Womit ich auch recht hatte.
Heute aber sind die jungen Leute, die nachgewachsenen Stylies, nicht nur nicht meine Brüder und Schwestern, sondern schlicht bekämpfenswert, da sie wie einst die Designer, als sie noch keine großen Rosinen im Kopf hatten, glauben, guter Geschmack sei sich selbst genug. Die Dandys und die Gunslinger sind tot bzw. wieder da, wo sie vorher waren, in einem Underground mit teilweise befreiten Distributionsmitteln, der bei allem Elend, das er hervorbringt, auch die Heimat einer Gruppe wie „The Fall“ ist, die nach nunmehr zehn Jahren immer noch nur von denen verstanden wird, von denen sie auch verstanden werden will: den anderen Künstlern.
Im Moment arbeiten alle guten Leute nur noch für die anderen Künstler, sie dürfen dies, weil die Schreiber, Designer und Zeitschriftenmacher auch nur noch für sich selbst arbeiten und im Moment sich Abend für Abend einreden, die Welt bzw. Deutschland brauche eine neue Jugendzeitschrift. Die Designer sind in ihrem rührenden Glauben, ihre Arbeit sei durch die Swatch-Uhr mit Keith Haring-Motiv der Kunst, dem Zeitgeist und den wichtigen mikropolitischen Aussagen der Gegenwart ein Stück näher gerückt, heute sympathischer als ihre Klientel, die mit Swatch-Uhr und Eurythmics-Platte von dem Managerarschloch mit Sade-Album und Salome-Motiv auf Rosenthal-Design nicht mehr zu unterscheiden ist. Ihre Aufgabe ist naturgemäß eine andere: sie sind verantwortlich für das optische Hintergrundgeräusch der Zeit.
Ich sehe Architektur nicht einmal, so sehr ist sie für mich Natur, man kann von ihren naturgegebenen Formen ja auch genauso auf die Wirtlichkeit oder Unwirtlichkeit eines Lebensraumes schließen, wie die Tiere in der freien Natur, aber ich interessiere mich für Autos. Das Auto hat in seiner Geschichte drei Phasen durchlaufen: Oldtimer – Auto – fieser, japanischer Kasten. Der Oldtimer war so etwas wie ein Elektronengehirn, ein Challenger, ein Atomkraftwerk, ein Schienenzeppelin: vorausgeeilte Technologie. Das Auto, etwa ab Mitte bis Ende der dreißiger Jahre bis Anfang der siebziger, war die einzige erfolgreiche Konstruktion eines neuen Tiers, das der Natur in diesem Jahrhundert gelungen ist. Ein Tier, das eine Frau war. Männer haben es geliebt und sind dadurch verändert worden. Heute haben wir den fiesen japanischen Kasten, er ist ein Mann, ein künstlicher Mann. Männer kaufen aus Gewohnheit weiter „Auto-Motor-Sport“ und sind homosexuell geworden. Hier bin ich unschuldig. Ich habe einmal in einer Werbung gearbeitet, die fast für Porsche gearbeitet hätte, und ich bin auf dem Werksgelände von Porsche herumgelaufen und habe den Autodesignern gesagt, was ich zu sagen habe. Sie haben mich nicht anhören wollen.
In letzter Zeit habe ich mit Andreas Gram, Lucius Burckhardt und Michael Dreyer an einem von Dreyer ersonnenen Ausstellungsprojekt über Jugendkultur und Design gearbeitet. Es war dies die Apotheose der Mißverständnisse, obwohl keiner von uns irgend etwas mißverstanden hatte. Wir kamen nur während der Arbeit zu dem Schluß, daß diese Zusammenhänge nicht darstellbar sind und vielleicht deswegen herbeigeschafft, konstruiert werden müssen. Alles, was mir in all den Jahren unklar blieb, bleibt mir weiterhin unklar (was meine ewige Angst, schuld zu sein, betrifft), aber dank der drei Spezialisten, mit denen ich zu tun hatte, existieren jetzt, wenn die Ausstellung steht, ein paar Zusammenhänge, die mir per Dekret erklären, warum ich Katalogbeiträge für Möbelausstellungen geschrieben habe und bestimmt nie wieder an einer Diskussion über Stilwandel mit Bazon Brock und Jim Rakete teilnehmen werde, jedenfalls solange kein anderer Generalist so wenig Ahnung von Popmusik hat wie Brock (er sollte statt dessen dringend zum Fernsehen gehen und all das auf seine Art machen, was Biolek heute macht, er wäre großartig).
Draußen sind derweil finstere Zeiten: Autos, die aussehen wie Mathematiklehrer, Galeristen, die aussehen wie Tischlerfrauen: ich weiß nicht, wo das alles angefangen hat (und wie), ich weiß nicht, was die mit ihrem Leben machen.
Abgrenzung und Unverständlichkeitsfindung werden nicht länger der Idee des Stils gehorchen, auch wenn sie es logisch nicht schaffen können, einem erweiterten Stilbegriff zu entgehen. Schmutz und Patina. Schichten, Schichten, Geschichte und Signaturen statt Design.