Selten war ein Wechselbad der Gefühle ein wechselhafteres. Noch am 12.3.1986 gegen 21 Uhr MEZ hätte ich schwören können, das großartigste, bewegendste Live-Ereignis meines Lebens erlebt zu haben; schon eine Stunde später, als die höflich bestimmte Pranke eines italoiden Body-Guard auf meiner Schulter zu liegen gekommen war, keine Anstalten machte, die unverschämte Vertraulichkeit zu beenden, die mir bedeuten sollte, Yoko Ono im Allerheiligsten der Musikhalle Hamburg allein zu lassen, und da wieder zu verschwinden (von meiner Schulter, langsam meinen Cashmere-Mantel mit Handschweiß verschmutzend, während Yoko Ono den Body-Guard und die anderen Body-Guards, die hinter ihm drohend zur Aufstellung gekommen waren, mit exakt dem Blick ansah, den Imperatoren haben, bevor sie mit dem Daumen nach unten zeigen, da spürte ich den gerechten Zorn, der jedem beknackten Show-Biz-Profi dieser Welt gebührt, da haßte ich diesen linken, betrügerischen Dreck: sich nicht an Absprachen halten, aber nicht weil man sturzbesoffen, verpennt, voller Drogen ist, sondern weil man ein mieser Show-Biz-Profi ist, auf den der „Rolling Stone“ wartet (eine Zeitschrift, die in ihrer neuen Nummer darüber nachdenkt, ob Business-Schulen ihr Geld wert sind).
Yoko Ono war mir immer lieb. Weil sie eine fundamentalistische Perserin ist (als Japanerin), weil sie, wie jedermann weiß, ihr und John Lennons Leben zur Kunst erklärte, weil sie, wie Beuys, mit äußerster Zähigkeit und mit ansprechenderen Ergebnissen als jeder andere Überlebende der Fluxus-Bewegung bis in die 80er Jahre den Kunstbegriff erweiterte, weil sie auf Feldern (wie Pop-Musik) mit Massenappeal, wo man dergleichen nicht gewohnt ist, mit Kunstradikalitäten aufwartete (von dem 25-Minuten-Schrei „Cambridge 1969“ bis zur blutverschmierten Lennon-Brille auf dem Cover von „Season Of Glass“), weil sie die berühmteste Japanerin ist und ich Japaner liebe, weil sie gute, schockierend offene Videos gedreht und bis heute immer wieder auch ein paar gute Songs geschrieben hat.
Aber all das berechtigte noch nicht zu der Hoffnung, ihre schlecht besuchten „Starpeace“-Konzerte könnten mehr sein, als eine Reminiszenz, mehr als ein paar Erinnerungsstücke an eine beeindruckende Kunstpraxis. Doch statt dessen war es genau das: Praxis und Fluxus und meinetwegen eine Prise Kabuki-Theater. Im Hintergrund wirkte eine Disco-Band, aber damit hatte Yoko Ono nichts zu tun. In Songs, Schreien und Geschichten ließ sie die Monate und Jahre nach John Lennons Tod passieren. Sie stellte sie nicht dar, erinnerte sich nicht, sie beschwor sie, beschwor – nach einem alten japanischen (oder persischen) Ritual – jeden Dreck und Scheiß, so daß der Schmerz und das Elend präsent waren, nicht, wie man es hätte erwarten können, repräsentiert von der berühmten Witwe, die das bekanntermaßen alles erlebt hat, sondern präsent. Nicht weil sie sich schaffte, glaubhaft war oder blabla, nein, man käme nie auf den Gedanken, daß diese Form der Beschwörung durch Wiederholung ihre Effizienz verlieren könnte. Dies war nicht die eingeübte Spontaneität, Ekstase oder Energie des intensiven Musikers oder Performers – dies war Kirche! Kaddish! Katharsis! Tatsächlich das Bewegendste, was mir ein Performer seit langer, langer Zeit vorgeführt hat.
Als sie beim Durchlauf der Jahre bei 1984 angekommen war, erzählte sie, daß die Tatsache, daß im Jahre Orwells immer noch die Blumen sprießen und die Bäume wachsen, ihr soviel Hoffnung gegeben hätte, daß sie beschlossen hätte „Goodbye to Sadness“ zu sagen (der gleichnamige Song ist von 1981). Das hat einen dann zwar für Yoko Ono ehrlich gefreut, änderte aber den nun folgenden Teil der Show. Von nun an sah man ein mit erbaulichen Anekdoten und der einen oder anderen Wahrheit, die der Kindermund von Sean Ono Lennon kundgetan hat, durchwirkten Showblock mit Mitsingen und schmachtenden Saxophonen. Nun waren da plötzlich Musiker, mehr Licht und Songs, Songs, Songs, wenn man Glück hatte, waren es gute Songs. Nur in wenigen Momenten, wenn etwa Yoko Ono einen Handscheinwerfer ergriff und das Publikum persönlich ausleuchtete, sah man noch die Avantgarde-Fundamental-Humanistin aufleuchten, der Rest ging in Vorträgen über die grundsätzliche Gleichartigkeit der Menschen unter, die, weil nie entfernter verwandt als Vettern sechzigsten Grades (und im Prinzip alle Wasser, wie wir seit 1972 wissen) keinen Grund hätten, sich nicht zu lieben. – Aber lieben? Man liebt einen Menschen doch wegen seiner Unterschiedlichkeit, wegen seiner Differenz zu dem anderen Geschmeiß. Wiederholungen, Gleichheitszeichen dagegen töten eine Liebe.
„Ja, wir sind alle einzigartig. Ich sage dieses I Love You im Konzert als Kommunikationsmittel. Es ist wichtig Kommunikation herzustellen.“
Sie sitzt in dem kleinen Allerheiligsten der Musikhalle, und eine Daniel-Düsentrieb-Erfindung auf dem Fußboden, eine unförmige Plastikskulptur mit Schlitz, spendet gesunde Dämpfe. Nein, sie sitzt nicht, sie ist auf eine mit rotem Samt bespannte Chaiselongue drapiert, und sie ignoriert die heilsamen Dämpfe, die ihr ihren blöden „Cold“ lindern helfen sollen, völlig, denn sie schmaucht ein Zigarillo (exzentrisch!). Sie ignoriert das zugesagte, versprochene „Spex“-Interview und dessen voraussehbar heilsame Kräfte und gibt statt dessen dem „Rolling Stone“ eines (diesem Lungenkrebs verursachenden Zigarillo von einer Zeitschrift). Sie kennt ihre Freunde nicht und gibt blöde Antworten und hat keine Lust. Sie ist zum Kotzen!
Ihre Porsche-Design-Brille, die sie bei ihrer Kölner Pressekonferenz noch als Witwenschleier ausgegeben hat, den sie nie, nie absetzt, hat sie abgenommen:
„Ja, intensiv war es, nicht wahr?“
Ja, mein Gott, das war es ja zufällig wirklich, aber nicht nur weil „Walking On Thin Ice“ wirklich ein Supersong ist, sondern, weil alles so stimmte, weil sie als Witwe des berühmtesten Mannes der Welt eben an der Spitze einer Bewegung von Menschen steht, die mit ihr mitgelitten haben, ein Fundus von gemeinsamen Emotionen, die Gegenstand einer Religion sind, deren oberster Priester sie ist. Und sie spielt es aus. Der Corazon-Aquino-Effekt, der Isabel-Peron-Effekt.
Aber in ihren besten Momenten ist sie Tschiang Tscheng; denn eigentlich ist sie ja nicht die intimste Kennerin an der Spitze einer Schule von John-Lennon-Kennern, nein sie ist die einzige, und zu 50 % war er ihr Geschöpf. Und das waren keineswegs die schlechteren 50 %. Sie steht für den Mut zu dem ungemein schwierigen Unterfangen, das Leben zur öffentlichen, künstlerisch gestalteten Sache zu erklären, was Lennon bestens bekam. Sogar auf „Walls And Bridges“, aus der kurzen Trennungsphase, hat er nicht aufgehört, Privatangelegenheiten wie politische zu diskutieren.
Und das war ja kein Akt des Narzißmus, im Gegenteil: der Narziß verrätselt sich, hockt in Spiegelkabinetten. Dies hier war vorbildliche Pflichterfüllung, exakt das, wovor sich Dylan immer gedrückt hat: die Verantwortungen des Idols. Nur eine Konzept-Künstlerin (Fundamentalistin, Japanerin) hätte ihm dies einpauken können und damit den Beweis erbringen, was ein Idol, das Mega-Individuum aus sich machen kann, wenn es seine Funktion ernst nimmt.
Und damit meine ich nicht die karitativen Aktionen – die sind sozusagen Putativ-Notwehr gegen das ewige Gerede vom Bei-sich-selbst-Anfangen-wenn-man-die-Welt-verändern-will –, sondern die durch die peinlich genaue Publizierung des Privaten hergestellte Diskutierbarkeit – nicht nur des Werkes von Lennon/Ono, sondern der Leistungen eines Pop-Idols. Das Leben Lennon/Ono war eine bemalte Leinwand, die im Museum hing, und Tag für Tag kamen Studenten, Schulklassen und einsame Connaisseure und diskutierten Stil, Absicht, Inhalt, Genre, Wahl der Farbe. Bis – wie das bei Bildern eben immer wieder passiert – der Attentäter kam.
Lennons Tod war der einzige Popstar-Tod, der mir je etwas bedeutet hat, ich konnte monatelang seine Platten nicht mehr hören, ohne mit den Tränen zu kämpfen, aber auch hier konnten wir etwas im Leben-ist-Kunst-Komplex lernen; daß nämlich, wo Gewalt herrscht, nur Gewalt hilft, daß der gutwilligste Anzettler von Diskussionen eines Tages Opfer der Gewalt wird, die Bestehendes aufrechthält. Und nicht wer Gewalt sät, erntet sie.
Yoko Ono hat, wie sie auf der Pressekonferenz, die sie als Show-Biz-Profi sehr viel leutseliger gestaltete, als unser Zehn-Minuten-Interview, erklärt, daß sie Johns Ermordung auch als Zusammenbruch der gemeinsamen Friedensinitiativen angesehen hat. Zu Recht. Sean Ono war es dann (Lieblingsbands: Depeche Mode und Violent Femmes), der wieder einmal seinen Kindermund nicht halten konnte und der Mutter, als sie eines Abends in einem New Yorker Restaurant Zigarillos rauchend mit anderen Erwachsenen die Gräßlichkeiten der Weltlage und der jüngsten Pläne der Regierung Reagan diskutierte, die Frage stellte, ob die Welt tatsächlich schlecht und das Leben nicht lebenswert sei. Sie habe ihn daraufhin wortreich beruhigt und das Gegenteil behauptet. Dabei sei sie sich verlogen vorgekommen.
Die Welt sei ja wirklich schlecht. Was macht also so ein Mensch, der auf die Frage, was aus seiner großartigen Karriere als bildender Künstler geworden sei, antwortet: „Was soll ich auf Leinwänden und mit Farbe malen, ich male doch mein Leben“, was soll so einer machen angesichts des Paradox, daß sie ihrem Sohn weder eine schlechte Welt noch eine Lüge über den Zustand der Welt anbieten will?
Nun, er geht an sein Konto, rüstet eine Band aus, geht auf Tour, um die Welt mal wieder etwas zu verbessern. Dann ist die Welt gut, und Sean Ono wird von seiner Mutter nicht mehr angelogen.
Hier haben wir Qualitäten und Begrenztheiten der Yoko Ono auf einen Blick. Das Leben malen, die Welt gestalten – der alte Irrglaube, der einem verwöhnten Bürgerkind nicht auszutreiben ist: daß alle Probleme lösbar sind, wenn es das ungezogene Kind nur will, dem der Satz „Kinder mit ’nem Willen kriegen was auf die (Porsche-)Brillen“ nie gesagt wurde. Andererseits sind derartige verzogene Pflänzchen absolut notwendig, um weiterhin den Glauben an die Machbarkeit der Dinge zu verbreiten, der die Voraussetzung jeden Denkens und jeder linker Politik ist, und wenn es keine andere Klasse macht, müssen diese Kinder eben als Abfallprodukte der Bourgeoisie entstehen.
Nur wer den Ehrgeiz hat, sein Leben zu malen, malt auch gute Bilder (er macht nicht notwendig gute Politik: Yoko Ono glaubt, daß man nur die friedlichen Industrien ordentlich anzukurbeln bräuchte, um die Rüstungsindustrie überflüssig zu machen. Autos bauen, Straßen bauen, Platten pressen …). Yoko Ono ist die gute Künstlerin, seit mehr als 20 Jahren, dies Kompliment bleibt bestehen, auch jetzt in dieser Sekunde, wo eine ekelerregende Patschhand auf meiner Schulter ruht, uns die Stühle unter dem Hintern weggezogen werden, die Kaiserin von Byzanz ihre Todesurteile zu unterschreiben scheint und eine bekloppte Fan-Restmenge durch die sich leerende Musikhalle gröhlt: All we are sayin’, is: Give peace a chance!
… ein paar tausend Kilometer weiter, über dem großen Wasser, ist es erst früher Nachmittag, und Sean Ono Lennon, schönstes Kind der Welt, kommt behütet aus der Schule getrottet, vermutlich eigensinnig, frech wie Oskar und hochkarätig wie Amina Handke, und entwickelt ein paar weitere hochinteressante Neurosen, die seine Mutter noch eine Weile, mindestens bis zu den Flegeljahren, inspirieren werden, dann aber wird er selber ganz bestimmt zu einem ähnlichen Tier und vielleicht zu einem guten Künstler.

