„Was findest du eigentlich an den Young Marble Giants so gut??“, fragt mich ein bekannter neue-deutsche-Welle-Musiker, und ich muß drucksen, stockend kommt die Antwort: „Es ist ein alter Hang zu einer bestimmten Art von Melancholie, meine John Cale-Verehrung … es ist…“. „Es ist die erste Rough Trade Platte, die ich gut finde“, meint dagegen Folkie Kröher, während der Avantgarde-Disco-Braunsteiner auch nicht so recht weiß: „Jaja, hübsch, aber deine Euphorie … “
Soweit die klassische Einleitung. Frische der Eindrücke, die Ratlosigkeit. Und Kid P. erinnern die Marble Giants an Pentagle. Und nun kommt die Geschichte. Der Reporter reist nach Berlin, interviewt die Bande und kommt mit einem Slogan zurück. Nun ist alles klar, und wir haben einen Begriff und eine Erwartungshaltung für die zweite LP. Zum Glück sind die Marble Giants aber auf Rough Trade und wollen auch da bleiben, also besteht keine Gefahr, der Slogan könne in einer Anzeige wieder auftauchen. Außerdem gibt es auch keinen Slogan, keine sinnfällige Geschichte, keine eindeutige Aussage und keinen Stilbegriff für die Young Marble Giants. Und wenn mir einer einfiele, würde ich ihn diesmal für mich behalten.
Jemand holt mich vom Bahnhof ab und schiebt – klick! – eine Kassette in den Auto-Recorder: pluckpluckpluckpluck-Gitarre, düüühht-Orgel, pochpochpoch-Rhythmusmaschinen – es sind die Giants. Ich rufe einen Freund an. Im Hintergrund: „Seahhching for Mistuh Right“ – wieder die Giants. Ebenso beim Zensor im Laden und überhaupt überall außer beim Kebabtürken in der Mauerstadt, der beim Träumen hinter Stacheldraht moslem-psychedelische Musik hört, die aber den Giants auch nicht fern ist.
Beim Soundcheck im SO36 improvisieren sie über schweinische, abgedudelte Elmore James-Riffs, aber auch das überrascht mich nicht. Von der Zeilenzahl her gesehen kommen wir nun zu der Phase, in der steht: Die Young Marble Giants sind Allison Statton Gesang, Phil Moxham Baß und Stuart Moxham Gitarre und Orgel. Stuart ist 25, die anderen beiden 20. Stuart und Phil sind Brüder, alle drei sind aus Cardiff, Wales. Von meiner Faszination, die mich beim Anhören ihrer ersten LP packte, habe ich ja schon in meiner Plattenrezension (SOUNDS 5/80) in mir selber seltsam fremden pathetischen Worten geschwelgt.
Und auch zwei Monate später fand ich es noch so kollossal, daß ich den ganzen Soundcheck aufgenommen habe. Denn die Einzelteile der YMG-Musik sind auch für sich genommen faszinierend: die hingehauchte Orgel, die schüchterne Rhythmusmaschine, die präzise Uhrwerkgitarre, der elegante melodische Baß, Allisons unschuldige, aber bestimmte Stimme – das alles fasziniert einen, auch wenn es nicht zu Song-Gebilden zusammengefaßt wird. Was zuerst immer wieder Überraschung war, ist zum beständigen Eindruck geworden: Daß man es nicht glauben kann, wie dieser Sound, diese Musik so plötzlich entstehen konnte, ohne erkennbare Vorbilder. Die Elmore James-Riffs machen wenigstens klar, daß die YMG doch von dieser Welt sind.
Reputation
Bei Wales fallen mir ganz stereotyp immer zwei Assoziationen ein: John Cale, der aus Swansea stammt, und der große Dichter Dylan Thomas. Mit diesen beiden, für mich auch untereinander zusammenhängenden Welten und Geisteshaltungen versuche ich die Young Marble Giants einzuordnen und werde beim ersten Versuch sogar bestätigt. Stuart, der beim Interview die meiste Zeit redet, nennt zuerst Dylan Thomas, nachdem ich ihn vage fragte, ob es irgendwelche Dichter gebe, die seine Songtexte beeinflussen.
Bei den Lieblingsgruppen reden sie durcheinander, die Brüder: „Velvet Underground“, wie aus einem Mund, Allison: „Kraftwerk, Eno, Residents“, Stuart: „Disco, Folk“ – jaja, schon gut, die Zeit der freiwilligen Selbstbeschränkung ist vorbei, aber ich bin ja auf der Suche nach dem spezifischen Marble-Geist und seiner Quelle. Stuart: „Seit drei Jahren spielen wir als Band zusammen, aber Phil und ich sind Brüder, und unsere Musikkonzeption ist schon sehr lange gereift, bevor wir diese Band gegründet haben. Uns ist dieser Sound völlig selbstverständlich.“
Wie ist der Kontakt zu Rough Trade zustande gekommen? „In Cardiff gibt es eigentlich keine Musikszene, und irgendwann hat eine Band diesen Cardiff-Sampler arrangiert, und wir haben auch was beigesteuert. Eigentlich wußten wir bis dahin wenig über die neue Musik, über unabhängige Labels und all das. Und auf den Cardiff-Sampler (IS THE WAR OVER) hin hat uns Rough Trade einen Vertrag angeboten.“
Habt ihr aus ideellen Gründen bei Rough Trade unterzeichnet, oder weil der Vertrag gut war? „Der Vertrag war gut. Wir kriegen fünfzig Prozent des Profits. Die politische Bedeutung von Rough Trade beginnen wir erst jetzt langsam zu begreifen. Wir sind erst so neu in der ganzen Szene. Aber jetzt würden wir uns wohl auch aus solchen Gründen für Rough Trade oder ein anderes unabhängiges Label entscheiden.“
Ist es eigentlich wirklich so, daß bei Rough Trade alle mitanpacken; die Musiker mit im Versand arbeiten, und so? „Ja. Das sind nur fünfzehn Mann, um die Personalkosten niedrig zu halten und so größere Profite für die Musiker zu ermöglichen. Dafür müssen die Musiker auch mitarbeiten. Rough Trade ist ein Kollektiv. Es gibt keine Hierarchien, und alle haben gleiches Stimmrecht.“
Lebt ihr immer noch in Cardiff? Stuart: „Nein, ich bin nach London gezogen. Ich wollte das schon immer , aber ich hatte nie das Geld.“ Ist das nicht schade? Ist nicht viel von den Neuerungen der letzten Zeit dadurch entstanden, daß Gruppen außerhalb der Musikmetropolen den Mut hatten, eigene Sachen zu machen? „Wir sind ja keine Band, sondern drei Individuen, und ich hatte schon immer den Wunsch, in London zu leben, die beiden anderen leben noch immer in Wales.“ Seid ihr in Cardiff von der politischen Dimension der Punk-Bewegung berührt worden? „Das war eben dieser Trivial-Anarchismus. Wir haben uns schon immer vage als links eingeschätzt, ohne mit herkömmlichen politischen Betätigungen was zu tun gehabt zu haben. Wir haben sogar einen politischen Song gemacht: ‚Credit In The Straight World‘.“
Was werdet ihr heute abend spielen? „Nur das Material vom Album und der Single. Niemand hatte Zeit, noch irgendwas anderes zu schreiben. Unser Problem ist, daß wir live klingen wie auf Platte. Aber das liegt wiederum daran, daß wir die LP ganz simpel auf einem Vierspur-Gerät aufgenommen haben. Die LP klingt umgekehrt so, wie wir live klingen; und nun haben wir das Dilemma, daß wir live klingen wie auf Platte.“
Was die Leute fasziniert hat, war wohl das Ganze, die Atmosphäre, der Sound, die Stimmung – das war alles völlig überraschend. Aber wie wollt ihr nun eine zweite Platte machen? Werdet ihr andere Instrumente einsetzen oder sonstwie den Sound verändern? „Nein, wir machen unsere Erfahrungen. Ich habe die Songs für die Single geschrieben, einfach um zu sehen, ob ich noch Songs schreiben kann. Und ich bin zufrieden.“ Also „Final Day“ ist ein Supersong, aber das klingt doch alles genau wie die LP, die gleiche Dichte, der Minimalismus, das leicht resignierte, melancholische Gefühl… „Ja, aber ,Final Day‘ ist doch viel aggressiver, entschiedener. Weißt du, wir verändern uns menschlich sehr stark. Was uns passiert, ist sehr schwierig. Es ist schwierig, damit umzugehen. Wir sind jetzt eine Band mit einer Reputation, eine Band mit einer LP. Diese Situation haben wir noch nicht im Griff.“
Zarte Geschöpfe
Schluß jetzt. Cassetten-Recorder aus. Kapitel: „Was sind das eigentlich für Menschen?“ Seht euch das Foto an. Sehr individuell. Zurückhaltend. Intelligent. Leute, die geübt sind zu kompensieren. Leute, die Schwierigkeiten begegnen, indem sie Innenwelt aufbauen. Und jetzt sind sie plötzlich da angelangt, wo das, was zum Aufbau und zur Verteidigung der Persönlichkeit benötigt wurde, zu einer Ware geworden ist, die verkauft werden muß, auch wenn der Vertrieb noch so alternativ ist. Die Marble Giants haben sich vorgenommen, die nächsten Jahre als Profimusiker zu leben. Im Moment hat jeder von ihnen 25 Pfund Wochenverdienst. „Wir merken, wie wir uns prostituieren, wie wir uns verkaufen, wir haben das noch nicht im Griff, wir haben alles noch nicht im Griff.“
Bands, die irgendwas im Griff haben, sind langweilig. Die Young Marble Giants haben ein Konzert gegeben, das nicht langweilig war, obwohl kein Ton improvisiert oder direkt von der Bühnensituation ausgelöst worden ist. Sie haben alle Titel gespielt, die sie im Repertoire haben, genau wie auf der LP, und dennoch war es ganz anders. Der Versuch, live Songs in den Griff zu bekommen, die in vielen Jahren entstanden sind, um die Welt in den Griff zu bekommen.
Am nächsten Tag spielen Frieder Butzmann, sowie Gudrun und Bettina von Mania D. improvisierte, freie Musik (zwei Saxofone/Schlagzeug) in einer Galerie. Die Giants sind auch da. Ich will wissen, wie sie das finden. „Ja irgendwie gut, aber sehr seltsam.“ Man hat wirklich den Eindruck, als würde es zu viel für sie. Man kann wirklich Angst um sie bekommen, um diese zarten Geschöpfe. Oder eine interessante Entwicklung erwarten, wenn es ihnen gelingt, mit der Sensibilität ihrer Songs auf das zu reagieren, was jetzt um sie herum passiert.

