Zeichen statt Materie

Wird sich der künftige Konsum von den materiellen Gütern auf zeichenhafte, auf Immaterielles verlagern?

Ich werde diese Frage, die mir das Thema stellt, so nicht beantworten, weil ich grundsätzlich nicht zur Zukunft eine Aussage machen kann. Ich kann nur eine Aussage machen zu etwas, was ich kenne.

Aber ich kann um den Brei herumreden, der in diesem Fall ja nicht heiß ist, sondern der eben an der Peripherie heiß ist.

Zur Lage der Welt: Designermix

Ein Freund von mir trägt diese kunstvoll zerrissenen Jeans, also diese mit Absicht zerrissenen Jeans. Zum einen aus sentimentaler Verbundenheit mit der Punk-Bewegung, der er sich immer noch und gerade nachdem er so viele andere Identitäten ausprobiert hatte, wie z. B. Neger, Gigolo, Aristokrat, Intellektueller, Kommunist verbunden fühlt. Zum anderen, weil er immer noch nach Zeichenkombinationen an seinem Körper sucht, die die alte Funktion von Abgrenzungen haben, die sie seit so langer Zeit in der Jugendkultur hatten. Die nach diversen Entwertungen der Zeichen durch Vereinnahmung, Nachahmung, Massenproduktion eben durch die interessante Kombination erzielt werden muß. Er trägt also dazu eine amerikanische Baseball-Jacke mit den Abzeichen eines bestimmten Teams. Nur einige Teams darf man tragen, andere nicht. Und darunter ein Hemd, das wieder aus einem ganz anderen Zusammenhang stammt, den ich vergessen habe, weil ich so genau in diese Materie nicht eingestiegen bin.

In diesem Aufzug, den neu zusammenzustellen und für sich bestimmten Bedeutungen zuzuordnen ihn jeden Tag Mühe kostet, aber auch Spaß macht, betritt er einen Optikerladen, wo er es mit einem arroganten Verkäufer zu tun bekommt. Mittdreißiger, bartlos, irgendwie zeitlos geschniegelt und irgendwie weich. Auf ihn träfe das Lyotardsche Attribut der Geschmeidigkeit zu. Etwas, was Lyotard als postmodernes Verhalten positiv schildert und von guten postmodernen Menschen verlangt: Raschheit, Wandel; und das früher eine ausgesprochene Eigenschaft von Jugendkulturen war bzw. denjenigen, die sie gebildet haben. Schnell, um nicht vereinnahmbar zu sein, während der Jugendkultur heute eine eigentümliche Beharrlichkeit anhaftet, ein seltsames Ignorieren der Geschichte. Daß man etwas macht, das schon einmal dagewesen ist, wird nicht nur nicht mehr als störend empfunden oder als gerade gut im Sinne von bewußtem Operieren mit der Geschichte, mit dem Zitat usw. Es wird einfach gar nicht mehr wahrgenommen als schon einmal dagewesen.

„Was ist das für eine Zeit“, fragte neulich der zur Zeit äußerst beliebte deutsche Pop-Underground-Musiker Philipp Boa, „was ist das für eine Zeit, wo die Kinder dieselbe Musik hören wie ihre Eltern?“

Zurück zu dem geschmeidigen, arroganten Brillenverkäufer. Mein Freund glaubte, in alter Gewohnheit, daß die schnöde Behandlung, die ihm widerfuhr, auf seinen Aufzug zurückzuführen sei, speziell natürlich auf die zerrissenen Hosen, die eigentlich nicht verschlissenen, sondern auf Verschleiß gestylten Jeans.

Da fragte ihn dieser Mann, dieser Geschmeidige, wie er denn diese Hose so interessant hingekriegt hätte. Er hätte sich auch immer mit dem Messer an seinen versucht, aber das hätte immer so doof ausgesehen, und ob das nicht kalt wäre im Winter und ob die nicht bald kaputtgingen, wenn man das so machte?

Einen Tag später treffe ich drei neunzehnjährige Mädchen, die irgendwie eine Popgruppe bilden, aber das ist auch egal, genauso könnten die das auch nicht tun, die sich die Haare struppig gesprayt nach oben geföhnt haben, was man so kennt, ebenfalls zerschlitzte Hosen, ebenfalls kunstvoll, anders als er, der das immer so vertikal macht, so daß da so eine Rippe entsteht, statt dessen kleine Löcher, die sich aber auch komisch musterartig anordnen. Und die erzählen mir, sie seien die einzigen, die ersten, die Originale schlechthin, hätten keine Vorbilder, würden als erste dieses atemberaubend riskante Zeug sich zutrauen. Punk, ja, da hätten sie von gehört, aber da seien sie neun gewesen, davon wüßten sie nichts, bezögen sich auf nichts, verweigerten alles. Und seien unwahrscheinlich kreativ am eigenen Körper. Haßten alles Alte und alle Alten. Auf den Einwand, daß diese von ihnen als alt empfundenen, mittlerweile Alten, die sie hassen, genauso denken oder gedacht haben und genauso aussähen oder ausgesehen haben wie sie jetzt, entgegneten sie wieder: davon wüßten sie nichts, sie seien damals erst neun gewesen bzw. seien heute erst neunzehn. Mürrisch.

Die drei waren einfach nur schrill. So zeitlos schrill. Sie waren die Vertreter des zeitlos Schrillen. Die einzige Überlebenschance von Jugendkultur scheint zu sein, nicht mehr auf die eigene Geschichte zu schauen, weil die anderen ja auch keine mehr haben, die, gegen die man sich immer noch abgrenzen will. Und für alle Zeiten eine irgendwie wilde Zerzaustheit, irgendwie hochgeföhnt, irgendwie schräge, irgendwie zeitlos schrill, als Altersuniform für Neunzehnjährige festzulegen. Weder etwas Neues machen zu wollen, weil man schließlich als Jugendlicher ja neu auf der Welt ist. Noch gegen die Erwartung des Neuen, wofür der Jugendliche ja institutionalisiert zuständig geworden ist, die Welt, den Markt mit Innovationen zu versorgen, weil der immer was Neues bringt, gegen diese Erwartung des Neuen bewußt mit etwas Altem zu spielen. Beides geht nicht.

Der Jugendliche ist nicht mehr jung. Er ist von vornherein berechenbar. Und auch dieser Gedanke ist nicht mehr jung oder neu. Er ist schon vor zwei Jahren von Dirk Scheuring, meinem geschätzten Kollegen aus der Spex-Redaktion, gedacht und verbreitet worden. Sieht man sich heute eine Werbung an, die mit Jugendzeichen spielt, also die, die ein junges schrilles Publikum ansprechen oder repräsentieren will, weiß man inzwischen nicht mehr, auf was sie sich eigentlich bezieht. Also die Five-O-One, die berühmte Five-O-One-Jeans-Werbung, die ja wohl jeder kennt, mit den Liedern von Sam Cooke und Marvin Gaye, das ist irgendwie so eine entfernt an die fünfziger Jahre erinnernde, dann mit Sechziger-Jahre-Musik untermalte, zeitlose Mürrischkeit, die da zur Schau getragen wird, die sich nicht mehr auf irgend etwas beziehen läßt.

Oder Cherry Cola. Das könnte New Wave sein, oder soll da diese Fifties-Mode angezapft werden, die es in so seltsamen, zu phantasievollen Spielarten in den späten Siebzigern mal gab? So eine Verspätung ist den Werbeleuten ja immer zuzutrauen.

Es sind Verhältnisse, wie wir sie aus Amerika ja schon länger kennen. Und der Film Straßen in Flammen fiel mir schon vor ein paar Jahren auf, weil er, obwohl als Rock’n’Roll-Film angekündigt und irgendwie auch peripher diesem Anspruch entsprechend, seinen Handlungsspielraum mit irgendwann, irgendwo angab. Was mich damals noch verdutzen konnte, denn das Eigentümliche von Pop-Kultur war ja stets ihre extreme Zeitfixiertheit, wodurch sie der Welt immer ein diskutierbares, historisches Gesicht gab. Und eine Zeitlang konnte sie damit trotz der allgemeinen Geschichtslosigkeit weitermachen. Auf Kredit sozusagen Zeitzeichen produzieren. Ein Kredit, der wohl nicht ewig prolongierbar sein kann.

Nur die englische Pop-Kultur, von der die Deutschen eine Zeitlang eher beeinflußt waren als von der amerikanischen, die ja kaum noch den Namen Jugendkultur verdient, weil bekanntlich alle Amerikaner jung sind, nur die englische Kultur, die konnte sich noch eine Zeitlang der Tatsache erfreuen, daß eben auch die englische Wirklichkeit sich nostalgisch, aber richtigerweise um alte Konflikte organisierte, deren Verschwunden- oder Überwundensein im Rest der Welt man uns ständig einreden will.

Der Kapitalismus hat ja heute ein Stadium erreicht, das man den Kommunismus des Kapitalismus nennen kann. Man wird sich erinnern an diese Kinderfragen, die es in den Basisgruppen früher gab, als die zu erziehenden Kandidaten dann diese Fragen stellten: Was passiert denn eigentlich, wenn der Kommunismus erreicht ist? Was ist denn am Ende der Diktatur des Proletariats? Sind dann alle glücklich? Gibt es dann noch Kriege und Epochen und Geschichte? Und Kultur? Und wenn ja, warum? Wo doch alle Widersprüche abgeschafft sind? – Ja, das können wir uns heute noch nicht vorstellen. Und da gibt es dann einen ganz anderen Menschen, der ganz anders funktioniert, sich da irgendwie kreativ selbst verwirklicht oder sonstwas.

Heute ist es soweit. Nicht, daß tatsächlich auch nur ein einziger Widerspruch abgeschafft worden wäre. Aber es ist uns offensichtlich und endgültig und widerspruchslos einzureden gewesen, daß das Goldene Zeitalter irgendwie erreicht ist. Wir denken: Es kann nur noch schlimmer werden. Und das Erreichte macht es überflüssig, die Welt noch in Antagonismen wie Klassenverhältnissen zu sehen. Dabei sind die fortschrittlichen Kräfte in eine Mutlosigkeit geraten, die es tatsächlich erschwert, für das Beste sich kämpferisch einzusetzen.

Die SPD verschwindet, die Gewerkschaften verschwinden, und sogar Albanien will seine Grenzen öffnen. Die Parteispitze in Laos ist auf dem Kongreß der Kommunistischen Partei in Vientiane bedeutend verjüngt worden, und der Handel mit Thailand wie auch das traditionelle Bootsrennen zwischen Thailand und Laos auf dem Mekong ist wieder aufgenommen worden.

Und wer wollte so vermessen sein, sich die Epochen zurückzuwünschen? Das hieße ja, sich Kriege oder Krisen zu wünschen, statt stetiger, gleichförmiger, komfortabler Wurstelei in der Ersten Welt, bei leider nicht ganz abschaffbarem Billiglohnelend und Naturkatastrophenverlusten in der Dritten.

Heutzutage ist ja bekanntlich die Natur an allem schuld, im Guten wie im Bösen. Das wichtigste schützenswerte Gut und der Verursacher von Leid und Übel und Hunger. Und die Natur hat es so an sich, keine Geschichte zu haben.

Mit der Geschichte hat sich die Materie davongestohlen. Nicht nur die modernen Physiker haben sie so nach und nach aus der Welt geschafft, indem sie sie in immer teuereren Elektronen-Synchrotronen immer weiter in Einzelteile zerlegten, auch aus der Warenwelt zieht sie sich langsam zurück und wird vom Zeichenhaften ersetzt. Um hier mal das Thema zu streifen, das mir gestellt wurde, das aber eben mit allem möglichen zusammenhängt.

Der Zeichenkonsum. – Das klingt wie der geistige Konsum, die Zunahme von Denken, Reflektieren, Fragen, Sich-an-Kunstwerken-Ergötzen, im Gegensatz zur schnöden Reproduktion der Arbeitskraft durch Bierkonsum. Die billigeren und immer besser werdenden Kulturtechnologien, die immer weiter zunehmende Vernetzung von Möglichkeiten, an Kulturgüter billig heranzukommen, vermindern den Aufwand an Arbeitsstunden, die nötig sind, um in den Besitz eines Kulturgutes zu kommen. Nur, was ist denn das für eine Kultur, die sich scheinbar unabhängig von materiellen Verhältnissen segensreich an uns alle verteilt? Es ist eine Kultur auf Pump.

Die Überflutung des Gegenwartsmenschen mit kulturellen Ereignissen, Einflüssen, Einflüsterungen hat keine Entsprechung oder eine zunehmend geringer werdende Entsprechung in dessen Erfahrungswelt; die viele Kultur – sie lädt ihn auf mit irrealen Lebensvorstellungen, mit geliehenen Zeichen, die er sich in seiner Lebensrealität nur leihen kann, und die die Produzenten solcher Zeichen gestohlen haben von den Rändern der Welt, wo Erfahrungen angeblich noch gemacht werden können.

Dieses Jahr gibt es ja diese Flut von Amour-fou-Filmen: 9½ Wochen, Betty Blue, Paradies – immer die gleiche Geschichte: Irgendwie zwei Menschen in einer seltsamen Welt, wie man nie jemanden gekannt hatte, der so und dort lebte, die einfach einem behaupteten Wahnsinn der Liebe verfallen, völlig irre, ohne eine Spur der Bedingungen dieser seltsamen Amouren mitzuliefern.

Ja, die Sexualität … Man weiß nicht genau warum, warum es gerade denen passiert, warum gerade in so komischen Holzhütten oder in so komischen, interessanten New Yorker Apartments, und wie die finanziert werden. Ist ja alles egal, ist ja Wahnsinn.

Die angedeuteten Erfahrungswerte, die irgendwie noch vorkommen, um die Geschichte erzählen zu können, sind nur pittoresk, eben vom Rande der Welt. Wir nennen diesen Sex, der da vorkommt: Designer-Sex.

Es gab dieses Jahr die Gruppe Sigue Sigue Sputnik. Und die bekannten sich zur Gewalt. Das hat zwar Rock’n’Roll immer getan, mehr oder weniger, wenn auch nie so ausgesprochen. Rock’n’Roll war eben gewalttätig, und die bösen Spießer taten dem Rock’n’Roll den Gefallen, provoziert zu sein. Sigue Sigue Sputnik dagegen schwärmen davon und nennen es auch: Designer-Violence. Von ihnen stammt dieser Begriff, und sie wollen gar nicht mehr auf reale Lebenswelten Einfluß nehmen, irgend jemanden wirklich provozieren, sondern das Spiel spielen, sich von vornherein freiwillig der totalen Absorbierbarkeit all ihrer Posen und der alle Uneinverstandenen aufsaugenden und zur Wirkungslosigkeit verdammenden pluralistischen Kultur ausliefern. Aufgesogen konnten diese Posen immer werden. Nur hat sich früher der Aufzusaugende mit Händen und Füßen dagegen gewehrt oder Modelle erfunden und zusammengelogen vom Nur-zum-Schein-Daraufeingehen. Heute, im Zeitalter der Geschmeidigkeit, ist es kein Problem, diese Art von Unverstandensein oder Designeruneinverstandensein von vornherein nur zum Schein zu produzieren.

Um jetzt Mißverständnissen vorzubeugen: Ich habe nichts gegen Sigue Sigue Sputnik. Sie waren wenigstens die Ersten. Sie haben Begriffe geschaffen. Im Grunde genommen waren sie ganz altmodisch Pop-Kultur im guten Sinne, indem sie Zeit erfahrbar und diskutierbar gemacht und auf den Punkt gebracht haben.

Das Tolle ist ja, daß alles, worüber ich hier rede – vielleicht außer den Konkretisierungen an den Beispielen, die halt die Welt wieder liefert – offenbar haufenweise alte Hüte sind. Ob man es nun in den Begriffen des einen oder anderen französischen Theoretikers wiederkäut, ist egal. Es hat bereits mindestens einen Durchlauf hinter sich, ohne daß eine zweite Phase zu erkennen wäre, wie früher, wenn etwas einen Durchlauf hinter sich hatte. Was ja auch nicht so tragisch ist, denn der erste Durchlauf hatte ja schlechterdings keine anderen Handlungsmöglichkeiten offengelassen als die, die er analysiert hatte in dem Sinne, daß, weil wir eine Postmoderne vorgefunden oder behauptet haben, wir uns auch postmodern zu benehmen haben. Und plötzlich hat Paris eine komische, ungeschmeidige Studentenrevolte, die kein Mensch mehr versteht.

Noch einmal etwas zum Wesen dieses Konsums von immateriellen Gütern. Daß im Verschwinden, im gerade noch Sichtbaren, höchste Eleganz liegt, ist ja ein altes wahres Klischee. Es nimmt zur Zeit Gestalt an in vielerlei Luxus- und Modeartikeln. Die achtziger Jahre stehen z. B. im Zeichen des neuen Schmuckmetalls Titan. Dieses Metall zeichnet sich durch eine enorm hohe Spannkraft aus, die es möglich macht, einen Edelstein an einem Titanring oder Ohrring, oder was auch immer, fast ohne Fassung zu befestigen. So daß es so aussieht, als würde der Stein auf dem Ring schweben. Junge Mädchen geben zur Zeit ihr ganzes Geld für kleine Hermès-Tücher aus, nicht Hemden, Röcke, Blusen, Hosen sind wichtig: Tücher. Der modebewußte Hooligan trägt bekanntlich nur noch Freizeitkleidung bestimmter Marken wie Tacchini und Fila, die aber häufig wechseln und Expertentum verlangen.

Hierzu habe ich erst vor kurzem einen interessanten Leserbrief im Spiegel gefunden, und zwar einen Leserbrief auf diese interessante und verlogene Geschichte, daß die Deutschen im Luxus schwimmen. Andreas Quetsch aus Schmiden in Baden-Württemberg schreibt:

Dieses blinde Luxus-Denken habe ich auch anhand der Kleiderwahl dieser unserer Jugend entdeckt. „Je Lacoste, desto Boss“ ist das Motto, wer nicht die Marken trägt, ist ein Außenseiter. Früher konnte man sich durch das Tragen bestimmter Kleidungsstücke gegen die Erwachsenenwelt auflehnen, oder es gab die für die „Flower Power“-Bewegung typische Kleidung, die eine Aussage hatte. Die von der heutigen Jugend bevorzugte Markenkleidung hat auch eine Aussage: Da das Geld nicht vom Himmel fällt, kann sich nicht jede/jeder, vor allem eben nicht auf Dauer, diesem blinden Markenwahn unterwerfen, um „in“ zu sein. Dieses Streben nach Luxus fördert also schon früh das Entstehen einer Klassengesellschaft.1

Richtig, aber falsch! Es ist genau umgekehrt. An einem Lacoste-Hemd erkennt man ja nicht einen sozial hohen Status, sondern einen Proll. Die Firma Boss, von der hier auch die Rede war in diesem Brief, geht bezeichnenderweise so vor: Es gibt eine teure Product-Line, bei der das Boss-Zeichen unsichtbar ist, irgendwo eingenäht hinten im Kragen. Und es gibt die Billig-Line, T-Shirts, Sweat-Shirts für die Masse, bei denen das Zeichen stolz auf der Brust getragen wird.

Vor ein paar Jahren gab es die Mode, mit amerikanischen Universitätspullovern herumzulaufen. In der Regel konnte man gerade daran den Hauptschulabsolventen erkennen.

Der Konsum des Immateriellen, also des Zeichens am Produkt, folgt hier einem doppelten Betrug. Das heute immer weiter verbreitete, billige Statuszeichen, das Status-Accessoire, das in eleganter Unaufdringlichkeit, billig zu erwerben, Wohlstand anzeigen soll, funktioniert erstens nicht als Zeichen: es zeigt das Gegenteil von dem an, was es anzeigen soll oder anzuzeigen vorgibt.

Zweitens: Selbst wenn es kurzfristig das anzeigen sollte, was es vorgibt anzuzeigen, kraft der Geschmeidigkeit, mit der sein Träger stets das Neueste findet, weil der eben Lacoste nur dann getragen hat, als es auch tatsächlich noch was hieß, ist es ein Zeichen auf Pump. Es wird nicht getragen von dem, was ein Modezeichen traditionellerweise tragen muß, damit es funktionieren kann: entweder einer Haltung – man bekennt sich zu einer Gruppe zugehörig – oder Reichtum – man kauft sich etwas, weil es wirklich teuer ist. Oder daß man ohnehin Angehöriger einer Minderheit ist, einer alten, da gibt es die verschiedensten Modelle. Also: entweder eine ideelle oder eine materielle Basis. Beides fehlt. Nun ist Pump zwar der Motor unserer Wirtschaft, aber bei der inflationären Zeichenproduktion und -konsumtion unserer Gegenwart ahnen wir, daß man es übertreiben kann. Wie man es ja auch in der Wirtschaft tut.

Drittens: Das einzige funktionierende Status-Zeichen ist das abwesende, das im Anzug versteckt ist.

Und viertens, wie wir bereits am Anfang gesehen haben: Zeichen funktionieren eh nicht mehr. Spiegel-Leser Andreas Quetsch hat es ja gesagt: Man kann keine Aussage mehr damit machen.

Warum ist das so?

Zum einen verlieren Modezeichen aller Art nicht deswegen ihre Bedeutung, weil die einzelnen Zeichen selber gestohlen werden – denn wenn ein Zeichen verbraucht ist, holt man eben ein neues –, sondern weil der Gebrauch von Modezeichen als Abgrenzung insgesamt als Unverständlichkeitsstrategie dadurch auf den Hund gekommen, dadurch degeneriert ist, daß heute jeder alles behaupten kann. Es wird eh nichts mehr geglaubt.

Die Subkulturen, die durch Modezeichen eine Haltung zum Ausdruck bringen wollten: Ich bin ein Hippie, werden, nachdem ihr Medium – das Modezeichen – Bestandteil der Mehrheit geworden ist, abgelöst von Individuen, die nur noch eine negative Aussage machen können: Ich bin wenigstens kein Penner. – Und die das bitter nötig haben in einer Gesellschaft, wo sich die Solidarität der Arbeithabenden gegen die pauperisierten Minderheiten mehr und mehr zuspitzt.

Was also ist das Wesen des immateriellen Konsums? Wie ist der geschmeidige Konsument? Was ist die archaische Stätte immateriellen Konsums? – Das Bordell! Das ist der einzige Ort, der traditionelle, einzige Ort, wo man mit Geld hinkommt und ohne Geld wieder rausgeht und kein Produkt in der Hand hat. Aber eben dieses: We are all prostitutes – das wissen wir ja.

Nur, was eignet sich besser zum Aufziehen eines florierenden Eros-Centers als die Materie Kultur, wenn diese nicht mehr gekoppelt sein soll, angeblich an Diskutierbarkeit und Geschichte, wenn sie keine Aussagen mehr machen will, sondern Designer-Aussagen, geschmeidige, perspektivlose Versatzstücke, die jeden Zusammenhang unterwandern, weil sie auf der Grundannahme fußen, daß es keinen Zusammenhang mehr gibt, und auf der materiellen Lage, daß, einen Zusammenhang zu sehen, seit Menschengedenken den Interessen der Herrschenden zuwidergelaufen ist.

Was ist also geeigneter für die postindustrielle Vision von nicht arbeitenden, anspruchsvoll vor sich hin konsumierenden, freien Zombies, für das postindustrielle Sinnbordell, als diese schleimige, hurenhafte Substanz des Geistes, die sich noch immer als das ideale Bindemittel erwiesen hat?

Die Bedingungen der Aussagen, die er macht, kann er besser verschleiern als jedes andere Produkt. Er selbst liefert die Bedeutung seiner Zeichen, und viel weniger wird ihm das Mißtrauen entgegengebracht, das man den jugendlichen Fila- oder Adidas-Trägern entgegenbringt, Design-Status nur erschwindelt zu haben.

Natürlich ist der Geist, jenes immateriellste aller immateriellen Güter, der ideale Komplize eines Eros-Centers für experimentelle, partikulare Sinnstiftung an Home-Computer und Video-Recorder.

Es gibt bereits heute Leute, die so funktionieren. Es gibt bereits Leute, die so leben, daß sie alle Tatsachen von äußerem Leben, von Erfahrungen ausgeschlossen haben und nur noch Kulturspezialisten sind. Merkwürdige, wirklich merkwürdige Geschöpfe, die man noch nicht genau verstehen kann, vor denen man mit Erstaunen stehenbleibt.

An diesem Punkt muß ich auf etwas anderes kommen: Ich habe, als ich an diesem Vortrag arbeitete, irgendwie mal in der Berliner Stadtzeitschrift Zitty geblättert und gelesen, daß ein Vortrag über Lyotard erwartet werde. Da hatte jemand jetzt den Titel, diese Frage, die an mich gestellt wurde, interpretiert und gesagt: Immateriell, ja, Lyotard und die Ausstellung „Les Immatériaux“. Und da fiel mir ein: klar, gut … hier …, das hat auch damit zu tun.

Lyotard ist der Designer-Philosoph. Er hängt ja mehr drin als irgendein anderer. Und ich muß auch über ihn sagen, daß ich nichts gegen ihn habe deswegen, denn er ist für die Philosophie, was Sigue Sigue Sputnik für die Pop-Musik ist. Er gibt der Abschaffung und Verdunkelung von Geschichte, diesem komischen, zeitlosen, dumpfen Zustand, in dem wir da zur Zeit floaten, einen Namen, macht ihn diskutierbar und entreißt ihn so wieder der A-Historie oder der Post-Historie. Das Interessante an ihm ist, daß er dieses „Interessant, so kann man es auch sehen“, diesen Aspekt, dieses Das-Beste-aus-Reader’s-Digest-mäßige an seiner Philosophie, an seinen Gedanken, die ja getreu der von ihm konstatierten verlorenen Totalität durch alle möglichen Dinge vagabundistisch herummarginalisieren, daß er das alles so zentral unter Postmoderne zusammengefaßt hat, so auf einen Punkt gebracht, was ihn dann auch so erfolgreich gemacht hat, daß er dem Zustand hin- und herwuchernder Gedankenwildnis eine Überschrift gegeben hat, die diese Wildnis nach ihrer eigenen Logik gar nicht haben kann, denn natürlich kann diese Wildnis kein Mensch aushalten. Auch wenn das natürlich jetzt wieder gerade gut wäre, wenn einer das wirklich aushält und zusammenhält. So einen nennt man einen Künstler, mit vollem Recht.

So kriegt die Wildnis einen ganz traditionell zusammenfassenden, periodisierenden Namen, der sich auch noch durch seine Unausweichlichkeit inthronisiert wie jeder klassische, philosophische Ismus. Dem aber wollte man eigentlich gerade den Garaus machen.

Lyotard hat nur, wie andere und größere französische Philosophen – auch zum Teil mit guten Texten, gegen die ich gar nichts habe -, die Lage der Philosophie innerhalb ihres eigenen, marginalen Philosophieundergrounds festgestellt. Aber dann hat er dazu beigetragen, aus diesem wilden Sammelsurium von Ansätzen eine französische Staatsphilosophie zu basteln. Besser: die Wildheiten kurzerhand zu einer Weil-nicht-anders-können-Haltung des business-as-usual erklärt, wo alles geht. Damit hat er in der Tat demonstriert, wie die von ihm geforderte Geschmeidigkeit funktioniert. In Her Majesty’s Secret Service nämlich, als ein prima Auskommen mit allem.

In einem Text hat er gesagt, daß Adorno vieles von dem, was seiner Definition nach die Postmoderne sei, schon vorweggenommen hätte, nur politisch anders bewertet habe. Das sei aber nicht so wichtig. Politisch irgendwie anders. Aber so ist es. Denn Adorno hat noch die Frage gestellt, wem welches Denken nützt. – Ende der Lyotard-Geschichte.

Ich weiß auch, daß wir uns romantischere soziale Zustände nicht herbeireden können. Aber: this is still capitalism. Und es gilt nach wie vor, was Grundsätzliches über diesen gesagt werden konnte. Zum Beispiel: Auf jede Hochkonjunktur folgt eine Flaute. Auf äußerst ungesund angeheizte schon mal eine Weltwirtschaftskrise. Was uns bevorsteht, ist aber auch die Weltbedeutungskrise in dem Sinne, daß die Folgenlosigkeit und Beliebigkeit von Designer-Kultur, die Verschuldung der Zeichen dazu führt, daß Bedeutung überhaupt nicht mehr hergestellt werden kann. Religiöser Wahnsinn wird sich ausbreiten. Astrologie und Schamanismus werden die Irrenhäuser füllen, und seltsame Designer-Drogen wie Crack und Ecstasy – erstere fürs Proletariat, sozusagen Lacoste-Heroin, und letztere für die Bourgeoisie, sozusagen New-Age-LSD – die letzten funktionsfähigen Individuen dahinraffen.

Die eine Hälfte der Menschheit wird zu Hause Designer-Kultur als Designer-Culture, als Designer-Reality bis zum Überdruß konsumieren und nicht mehr verarbeiten können. Die andere Sorte wird in hochverschuldeten sinn- und beziehungslosen Modezeichensystemen durch eine Welt laufen, die endlich ausgezahlt werden will.

An diesem Punkt muß natürlich der Designer-Roosevelt kommen und einen New Deal verordnen. Etwas, was – glaube ich – schon langsam zu geschehen beginnt.

Noch vor einem Jahr z. B. war es mir zuzutrauen, daß ich mir Anzüge aller Epochen und Stilrichtungen anzog, um irgendwie – was weiß ich – Selbstverwirklichung, Spaß, kreativ, in, Zeichen zu spielen. Also machte es mir z. B. immer große Freude, dieses Ritual des, wenn man sich hinsetzt, Aufknöpfens, wenn man aufsteht, Zuknöpfens der Jacke dieses eigenartige Tun der Männer in Anzügen. Heute kann ich keinen Spaß mehr daran haben. Ich sehe im Fernsehen Minister Zimmermann genau das tun und bin meiner Jeans froh. Vor einem Jahr hätte ich noch gedacht: Wie widerwärtig, ein ewiger Jeansträger, als so etwas soll ich alt und grau werden? Vor einem Jahr hätte mich Minister Zimmermann als derangiertes Zeichen für derangierte Politik, als Karikatur der Karikatur der Karikatur des Klerikalfaschisten auch noch amüsiert. Und das hat sich verändert.

Die Perspektive, daß die Welt nichts ist als ein Witz über sich selbst, ist einem neuen Ernst gewichen. Der Ästhetizismus, mit dem Intellektuelle und ihresgleichen, bürgerliche Schöngeister, sich über einen als häßlich korrekt repräsentierten häßlichen Staat freuen können, also das Gelingen der Repräsentation, verwandelt sich früher oder später hoffentlich in Entsetzen über das Gelingen dieser häßlichen Politik. Und das wären Anzeichen eines New Deal. Und hier wird das Bild falsch. Denn New Deal ist systemimmanente Reparatur des Systems. Was wir brauchen, ist seine Zerschlagung.

Im übrigen möchte ich mich entschuldigen: Ich hasse die Zukunft. Wie auch immer sie aussehen wird, sie wird mir nicht gefallen. Weder Weltwirtschaftskrise noch Weltkrieg – logischerweise – sind schöne Aussichten. Aber die sieben Szenarios in dieser Ausstellung sind es beileibe auch nicht. Weder Ökotopia noch die New-Age-Kommunen. Wieso fehlt eigentlich der Sozialismus? Was ist aus dem geworden? Gibt es nur den real existierenden mit all seinen Hilflosigkeiten und Grausamkeiten, und steht ihm nur gegenüber die Realpolitik des Imperialismus? Beide unbeweglich. Ist Gorbatschow Designer-Kommunist oder ist er der wahre Leninist? Er ist Leninist, aber egal wie es ist, richtige Gedanken bleiben richtig.

Wir werden eine neue Weltzeichenordnung brauchen. Aber wem wird sie nützen? – Doch am Ende nur der Designer-Sozialdemokratie. Wir erkennen, daß die postmoderne Pluralität nichts ist als eine Monokultur der irrelevanten Beliebigkeiten. Wir untersuchen die Bedingungen unseres Zeichenkonsums und stellen uns dem seltsamen Ergebnis, daß es sich mit ihm verhält wie mit dem Alkoholismus. Kontrolliert zuviel trinken ist nicht nur nicht schädlich, sondern äußerst fruchtbar. Unkontrolliert zuviel zu trinken ist das Ende.

Ich hatte vor ein paar Jahren einen Kabelanschluß, noch nicht sehr lange, zwei Jahre, glaube ich, weil ich immer vertreten habe, daß es ein Zuviel nicht geben kann. Alles, was man aufnimmt, ist nützlich. Jetzt weiß ich, daß sieben oder acht Programme die exakt ermittelbare Grenze sind, mit der man gut leben kann, die einem die netten Zufälligkeiten des Fernsehkonsums und seiner schönen Unordnung, die so viel über andere Unordnungen sagt, ermöglicht.

Sechzehn Programme sind zuviel. Das hält kein Mensch aus. Man schaltet unausgesetzt hin und her. Nicht einmal der Pop-Videokanal aus England kann einen aufheitern, nicht die Schrulligkeiten von Holland 1, die Schüler-Aufführung des ZDF auf Sat 1. Die Augen wandern hin und her, man wird irgendwie blöde und bittet die Firma Telerent am nächsten Tag, das Ding wieder abzuholen. Das ist auch ein New Deal. – Jetzt ist das Ding weg, und ich vermisse die acht Programme. Was mache ich nun?

Die Unordnung ist ja schön, solange sie nicht in reaktionäre Beliebigkeit umwandelbar ist, weil ihr einer einen Namen gibt und diesen dann an den französischen Staat verkauft.

Wie geht kontrolliert trinken, ohne dem Suff zu verfallen? Wie geht es, sich an der überall hinwuchernden Wildnis zu freuen, davon zu lernen und gleichzeitig Marxist zu bleiben?

Es geht nicht, wie auch New Deal nicht geht. – Wie aber auch Moderne nicht ging. Aber was macht das? Ist es nicht die einzige Möglichkeit, das zu fordern, was man als richtig erkannt hat? – Und wenn man daran scheitert, scheitert man eben und versucht es noch einmal.

Es gilt, das seltsame Kunststück zu schaffen, wieder wirksame Verschiedenheiten herzustellen, Differenzen, die nicht mehr absorbierbar sind, nicht mehr benennbar durch Postmoderne.

Ich glaubte einmal, daß es in gewissem Sinne eine Befreiung wäre, wenn die Menschen den Terror von Big Sinn abschütteln könnten. Tatsächlich ist Big Sinn geschlagen, aber ich hatte nicht dialektisch gedacht, jetzt regiert sein Komplize Big Unsinn. Es ist die gleiche Scheiße, die gleiche Lüge. Man kann die Welt nicht durch Kultur ändern. Man kann nur an ihr schaben. Und das muß man ein ganzes Leben tun, ohne große Hoffnungen. Aber mit dem gebotenen Enthusiasmus.

Also müssen wir Bedingungen schaffen für Inhaltlichkeit. Den guten Ton finden. Den Sound der Inhalte. Das ist das Entscheidende. Und das ist beim Stand der Dinge ein unmögliches Projekt. Aber unmögliche Projekte, das ist eben Kunst, und das ist ja sowieso die Lage. Jeder Mensch ist ein Künstler. Früher war das eine Behauptung, jetzt ist es Wirklichkeit. Er muß nur anfangen, endlich seinen Beruf auszuüben. Und dabei können ihm ja les immatériaux vielleicht in einer Weise helfen, die wir uns nicht vorstellen können.

Wahrscheinlicher aber ist, daß sie ihn daran hindern, daß sie ihn ablenken, denn schließlich gibt es ja noch – trotz allem – les matériaux.

  1. in: Der Spiegel, Nr. 50/1986, S. 7 ↩︎