Am 14. Juni 1984 wird der deutsche Maler, Künstler und Aktivist Jörg Immendorff die von ihm erworbene St.Pauli-Kneipe „La Paloma“ in ihrer neuen Funktion als „Kapelle am Wegesrand“ der Öffentlichkeit vorstellen.
St. Pauli ist aus Hamburg, auch ich bin aus Hamburg. Ich weiß wovon ich rede.
Die Kneipe „La Paloma“ wird unter Immendorffs Ägide zunächst einmal das bleiben, was sie ohnehin immer war: Eine Kneipe am Hans-Albers-Platz, eine der geradlinigsten, offensichtlichsten Ecken der ganzen Stadt. Die Ecke, an der dem einsamen St. Pauli Bummler von out-of-town mit einem Mal klar wird „Was das alles zu bedeuten hat“. Der Ort, wo das unschlüssige, aber erhitzte Aufund Abschwellen der strömenden, angesogenen und ausgestoßenen Menschengruppen zum Stillstand kommt. Ein jeder, der sich nachts, wenn in der Bundesrepublik nur noch zwei Kinos Filme zeigen (nämlich die „Oase“ und das „Alladin“ in Hamburg-St. Pauli), einen Film im Kino ansehen möchte und vorher einen Parkplatz sucht, kommt an diesem Hans-Albers-Platz vorbei und jubiliert über die stille Klarheit dieser eindeutigsten aller Ecken des Kiez. Das „La Paloma!“ wird eine Kiez-Kneipe bleiben und so hofft der Künstler von der angestammten Klientel be völkert.
Das Werk von Immendorff hatte immer zu tun mit in Teilung gipfelnder deutscher Geschichte und deren unbenutzten, aber kräftigen, in der kulturellen Landschaft herumstehden Zeichen. Der deutschen Geschichte ist es eigen, analog zu der Geschichte des technischen Fortschritts im Kapitalismus, riesige, gigantomane, viel zu kräftige Fehlentwicklungen hervorzubringen, die eine an Kosten-Nutzen-Rechnung ausgerichtete moderne Industriegesellschaft nicht zu nutzen vermag. Es sind Symbole, Zeichen und Bilder, die sich vergleichen lassen mit V 16-Motoren. Mit dem Schienenzeppelin, der auf der Strecke Hamburg-Berlin verkehren sollte, mit dem AEG-Gleichstrombetriebswagen, der bereits 1903 über 200 Stundenkilometer schnell war, mit der Idee des Individualhubschraubers oder mit dem Überschallverkehrsflugzeug. Symbole, Zeichen und Bilder, die einer übermütigen, nicht länger an akuten, realen Bedürfnissen und Absatzchancen orientierten Zeichenproduktion entschlüpft waren.
Es gibt diese interessanten und nützlichen Fehlentwicklungen übrigens nur in der deutschen Geschichte, mit ihren charakteristischen fehlerhaften Antworten auf nationale Fragen. Eine dieser Fehlentwicklungen ist das Symbol „Brandenburger Tor“, ein anderes der Stadtteil Hamburgs St. Pauli und die ihn umgebenden Assoziationshöfe.
Ein ähnliches Verhältnis wie zur nationalen Frage, symbolisiert durch das von schaurigen, kalten Stürmen umwehte, steinerne Monument zwischen den Welten „Brandenburger Tor“, hat das deutsche Volk zur Frage seiner Unterhaltung. Zu Amüsement, Glamour, vulgären Ausschweifungen und deren industrieller Produktion und Distribution. Das hierfür zuständige, ebenfalls seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kaum noch genutzte und seit den mittleren 60-ern, dem eigentlichen Ende der Nazizeit, komplett von der Welt abgeschnittene Brandenburger Tor, ist St. Pauli.
Dabei ist St. Pauli genauso gefährlich, genauso immer noch scharf, voller prickelnder symbolischer Schwere, aber ohne Bindung zum alltäglichen Austausch der Symbole, den wir in unserer BRD-Kultur so mitansehen müssen.
Zunächst sah es nach einem Märchen aus. Künstler kommt in fremde Stadt. Populist, der er ist, knüpft er Freundschaft mit dem, was die Stadt an Salz der Erde zu bieten hat. Er schenkt der Kneipe, in der er das Salz gefunden hat, eines seiner Bilder und beginnt damit Kunst, einer Kolonie nicht irdischer Bakterien vergleichbar, einem ihr fremden Milieu auszusetzen. Der Effekt begeistert sowohl ihn, wie auch das Milieu und die Kunst selber, als Motor derartiger Vorgänge, SO sehr, daß er die Kneipe kauft und Künstler, die ihm nahestehen, aus aller Welt dazu ermuntert, Beiträge für die nun zur „Kapelle am Wegesrand“ erklärten Kneipe abzuliefern. Es beteiligen sich vorläufig: Beuys, Baselitz, Büttner, Kirkeby, Kiecol, Koberling, Knoebel, Lüppertz, Oehlen Albert, Oehlen Marcus, Penck, Rainer, Richter, Salle, Walther.
In der Zukunft soll das „La Paloma“ zugepflastert werden mit Kunst und sich zum internationalen künstlerischen Treffpunkt in der Hansestadt entwickeln, einem, der in Deutschland seinesgleiches sucht.
Dabei wird ein Verhältnis Kunst St. Pauli Deutschland entstehen, das den spezifisch quasi-religiösen Charakter der Kunstausübung und des Kunstkonsums angemessen berücksichtigt, ohne ihn zu glorifizieren. Vielmehr scheint es zunächst mal darum zu gehen, diesen Charakter erstmals zu definieren, indem die internationale Hochkunst der Gegenwart einer einzigartigen signalhaften Karrikatur von Welt gegenübergestellt wird, die die Kunst zwingt, ihre Weltlichkeit und ihre Nichtweltlichkeit deutlich darzulegen. Ist der Branntwein eines der Sakramente des Bohemien, wie in allen klassischen Fallgeschichten des 19. Jahrhunderts oder ist nach all der Zeit, in der Künstler in bürgerlichen Gesellschaften Narrenfreiheiten genossen, etwas Neues entstanden? Dies nur als Scherzfrage; Denn wir alle kennen ja die Antwort.
Nur soviel. Will man empirisch das Verhältnis der Besten im Lande – was die Kunst betrifft – zur Welt erforschen, dann empfiehlt sich eine Versuchsanordnung, die mit dem Krassesten arbeitet. (Viele Bilder Immendorffs sind Versuchsanordungen, die mit dem Krassesten arbeiten.) Da wo Welt am weltlichsten ist, auf St. Pauli, da stellen wir eine Kapelle hin, die eine Kneipe ist und somit sozial wie ökonomisch mit dieser weltlichsten aller Welten aufs engste vernetzt, eine Kapelle, wo die Kunst sich nicht mit der selbstbewußten Grandezza aufführt, mit der sie der Bourgeoisie gegenüberzutreten pflegt, sondern bescheiden und zurückhaltend, wie das in der Tradition der Kapelle vorgezeichnet ist, ihre Dienste anbietet, ihr vermeintliches Wirken zur Verfügung stellt.
So sieht es im Kleinen aus. So sieht es aus, wenn man es von innen, von St. Pauli aus sieht.
Von oben aber ist es die deutsche Kunst, die sich einmal mehr einer deutschen Zeichenruine bedient, sich in ihr niederläßt und anstiftet, was man noch sehen wird. Das „La Paloma“ bleibt rund um die Uhr geöffnet.