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  • Gespräch mit Roberto Ohrt über dessen Buch Phantom Avantgarde

    Diedrich Diederichsen: Wann und wie haben Du und die Gruppe um den heutigen „nautilus“-Verlag begonnen, sich mit situationistischen Texten zu beschäftigen?

    Roberto Ohrt: Wir sind in den mittleren 70ern in Hamburg durch Pierre Gallissaires mit situationistischen Texten in Berührung gekommen. Die haben wir dann mit großem Interesse gelesen. Es bedurfte dann noch einiger Korrekturen unseres teilweise dogmatischen Anarchismus. Marx und Bakunin in einer Front – das war die erste Formel für eine Annäherung.

    Diederichsen: Gab es denn eine eigene Praxis, die sich aus dieser Lektüre ergab?

    Ohrt: Wir haben damals eine Zeitschrift gemacht, die Revolte, und darin die aktuelle Situation analysiert, mit der Kritik an linker Ideologie, die wir aus der S.I. kannten: es gab da ja ziemlich scharfe Kritik an linker Ideologie. Wir haben uns dann exemplarische Sachen rausgegriffen, beispielsweise Dieter Duhm, Angst im Kapitalismus, wir haben Aktionen gemacht gegen die Tournee von Otto Mühl und seiner AAO-Kommune, wir haben Flugblätter verteilt: Gegen die Funktionalisierung des Orgasmus. Dann haben wir eine schüleraktion gemacht. Da haben wir eine Schülerzeitschrift der CDU gefälscht. Später haben wir denselben Inhalt als „Atlas für Hamburger Schulen“ an anderen Schulen verteilt. Derartige Dinge. Aber Hauptsache war natürlich die Diskussion und die Entwicklung der Kritik.

    Diederichsen: Warum fehlt dieser Teil Deiner Geschichte eigentlich in Deinem Buch?

    Ohrt: Es sollte in dem Buch zunächst um eine meiner Meinung nach fehlgelaufene Geschichte innerhalb der S.I. gehen. Die eben auch eine Frage der Praxis ist. Also, wie verhalten sich theoretische Stringenz, partielle Verwirklichung und bestimmte Kontakte unter Leuten zueinander? Und unsere damalige Gruppe hat ja auch eine Geschichte, die in Ausschlüssen und ähnlichem ihr Ende gefunden hat. Und darum geht es dann auch in dem Buch: Wie trägt sich das? Wie kann eine Praxis, die sich auf derartig radikale theoretische Ansprüche beruft, überhaupt bestehen? Unsere Erfahrung war natürlich insofern enttäuschend, als wir durch unsere Publikation sehr wenig Kontakt gefunden hatten. Es war erstaunlich, wie wenig Leute darauf reagierten, wie wenig Leute sich überhaupt dafür interessiert haben.

    Diederichsen: In der Zwischenzeit hat sich vieles verändert. Mittlerweile ist ein weltweites Interesse für Situationismus entstanden.

    Ohrt: Das hat mich auch überrascht. Als ich 84 anfing, besonders die Frühzeit der Bewegung zu erforschen, war das Interesse immer noch gleich null. Ich mußte sehr viele Dokumente unter großen Schwierigkeiten herbeischaffen, Dokumentensammlungen gab es fast nicht. Die Fertigstellung des Buches hat sich bis Anfang dieses Jahres hingezogen, im letzten Jahr war dann diese Ausstellungstournee durch das Centre Pompidou, ICA London und ICA Boston. Und das hat uns schon gewundert, und das Interesse jetzt ist für uns ein glücklicher Zufall.

    Diederichsen: Nun ist das ganze Interesse an diesem Phänomen begrenzt auf die Kunstwelt, fast alle Aufarbeitungen kommen aus dem Bereich der Bildenden Kunst. Und auch bei Dir gibt es diesen Weg aus Politik in die Kunst, wenn Du aus einer Geschichte einer politischen Künstlerbewegung am Schluß einen Maler als „Sieger“ hervorgehen läßt.

    Ohrt: Wenn ich mit Leuten spreche, die mit der Geschichte vertraut sind, die also auch 74 schon wußten, was die Situs so gedacht haben, dann sind die natürlich auch ganz erstaunt, daß so eine Figur wie der Jorn aus dem Buch hervorgeht. Und nicht etwa Vaneigem, der ja fast nicht erwähnt wird. Raoul Vaneigem war ja immer die interessante Figur, der oft und gerne zitiert wurde und verantwortlich war für gewisse euphorische Formulierungen und Interpretationen.

    Für mich war das aber nicht etwa strategisch, sondern der Jorn hat sich erst während der Forschung als die Figur herauskristallisiert, die mich am meisten interessiert hat.

    Diederichsen: Hattest Du Dir denn von Anfang an vorgenommen, eine Geschichte der Modernen Kunst zu schreiben? Oder ist die auch erst im Laufe der Beschäftigung mit einer politischen Bewegung entstanden?

    Ohrt: Das hat auch wieder mit der Geschichte unserer Gruppe zu tun. Die sogenannte Avantgarde-Kunst, die uns Anfang der 70er vorlag, hat uns überhaupt nicht interessiert. Und als wir dann die Schriften der S.I. gelesen haben, haben wir gesehen, was die mit Kunst zu tun hatte. Ich wollte am Anfang meiner Arbeit nur bei der S.I. nachsehen, was für eine Rolle die Kunst dabei gespielt hat. Dann erst habe ich festgestellt, wie das mit Problemen der Modernen Kunst im allgemeinen zusammenhing. Auch das hat sich aber erst als Ergebnis der Forschung herauskristallisiert.

    Diederichsen: Das Interesse an Situationismus und vor allem den Schriften Debords wird ja besonders von Künstlern und Theoretikern formuliert, die das Phantom Avantgarde nochmal beleben wollen, die also u. a. die Malerei, das Tafelbild auch nicht akzeptieren. Diesen Leuten antwortest Du jetzt mit dem Werk eines Malers?

    Ohrt: Ja, das ist meine Antwort. Man macht sich ja nie klar, daß diejenigen Künstler und solche, die es werden wollen, die sich so einer Verweigerungshaltung befleißigen, sich nie darüber bewußt sind, mit welchen ästhetischen Mitteln sie eigentlich operieren. Durch dieses Mimikry an das gesellschaftlich Vorgegebene, verwehren sie eigentlich die direkte Betrachtung ihrer Mittel.

    Und demgegenüber steht die Malerei, bei der der Künstler seinen Mitteln verantwortlich ist und die sich auch aus dieser Verantwortlichkeit gegenüber den Mitteln heraus entwickelt.

    Diederichsen: Aber ist es nicht illegitim, auf das Scheitern der politisch motivierten Bemühungen, die Malerei oder das Tafelbild abzuschaffen oder zu überwinden, mit einer Praxis zu antworten, die schon vor diesen Versuchen herrschte? Es gab ja Jorns Malerei vor allem auch schon vor der S.I.. Und kann das Scheitern der S.I. in etwas aufgehoben sein, das es vor ihr schon gab?

    Ohrt: In dieser Pointiertheit lauert ein Mißverständnis. Ich will ja gar nicht behaupten, daß Ansätze von der S.I., wie das Konstruieren von Situationen oder Umherschweifexperimente, falsch waren, auch nicht im Hinblick darauf, eine andere Kunst zu suchen. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist die Frage der Verwirklichung. Und man kann eben an der Geschichte der S.I. sehen, wie weit solche Projekte überhaupt zur Verwirklichung fähig sind. Das ist auch ein ganz einfaches Vorgehen, zwanzig oder dreißig Jahre danach, zu fragen, was haben sie eigentlich wirklich getan. Und es ist ja wirklich erstaunlich, wie wenig, außer den theoretischen Schriften, wirklich daraus hervorgegangen ist.

    Diederichsen: Ist es aber nicht ein legitimes Ergebnis einer negationistischen Kunst, nichts hinterlassen zu haben?

    Ohrt: Gut, dann müßte man fragen: warum sucht man sich nicht einen Schauplatz, wo diese Enthaltung sichtbar wird.

    Diederichsen: Das wird sie wohl immer erst in Auseinandersetzung mit den vom Schauplatz vorbestimmten Medien.

    Ohrt: Andererseits wäre dann eben noch zu fragen, welcher – im Gegensatz zur Malerei – anderen ästhetischen Mittel sich eine solche Verweigerung bedient.

    Diederichsen: Du hast an einer Stelle sehr schön nachgewiesen, wie diese anderen Konzepte erzästhetische Konzepte sind.

    Ohrt: Welche Stelle meinst Du jetzt?

    Diederichsen: Die Stelle, wo du den Malereibekämpfern ihre Nähe zur Poesie, ihre fast konservative Literaturbejahung nachweist.

    Ohrt: Debords Vorgehen ist ein hochgradig künstlerisches. Er verfährt ja durchaus feinfühlig mit der Sprache. Und es ist merkwürdig, daß er dem optischen Bereich nicht zugesteht, ein Medium zu haben, wie die Malerei, das zu ganz eigenen Ergebnissen kommen kann. Da muß man Debord vielleicht auch vorwerfen, daß er, obwohl er sich mit einer Reihe von pseudomalerischen Projekten umgeben hat, wahrscheinlich einfach nicht verstanden hat, was die Sprache von Jorn war.

    Diederichsen: An einer anderen Stelle machst Du der S.I. den Vorwurf, Bewegungen wie Fluxus dadurch, daß sie eben keine Werke zurückgelassen hat, das Feld überlassen zu haben und daß es Debords einziger Vorteil wäre, wirklich keine Spuren hinterlassen zu haben. Was ich andererseits einen ganz bemerkenswerten Vorteil finde: denn so hat er es geschafft, diskutierfähig zu bleiben, während die meisten Fluxus-Künstler nur noch für nostalgische Betrachtungen taugen.

    Ohrt: Das wird dann in fünf Jahren der Fall sein, dann hat man Debord ausdiskutiert, und dann ist er erledigt.

    Diederichsen: Glaube ich nicht, weil Debord damit ein Problem so verschärft hat, wie vorher und nachher niemand, während Fluxus ja wirklich damit erledigt war, daß es geschehen ist.

    Ohrt: Ich habe das auch deswegen bedauert, weil ich z. B. Freunde habe, die von der S.I. nie was gehört haben und die ihren Avantgardekunstbegriff, ihre Aktionen und Happenings dann eben aus Büchern über Leute wie Vostell oder so haben. Und ich glaube auch, daß die ganze Halbherzigkeit der sogenannten Underground-Kunst damit zu tun hat, daß die Leute sich nicht klar machen, wo eine solche Verweigerung endet, weil eben die S.I. dieses Material nicht geliefert hat.

    Diederichsen: Du kritisierst ja auch die Ausschließungspraxis der S.I., zu deren Verteidigung ich zu sagen hätte, daß sie doch immerhin einen Versuch darstellt, die Beliebigkeit und Nivelliertheit der Kunstpraxis mit ernsten Folgen für die Lebenspraxis der Beteiligten zu verbinden, also im wahrsten Sinne Bedeutung zu schaffen, wenn auch mit der Einschränkung, daß in der Praxis dabei vielleicht nur vorhandene Machtstrukturen innerhalb der S.I. sich bestätigt haben.

    Ohrt: Die eine Seite der Ausschlußpraxis stellt die Frage, wie kann ein Künstler sein Leben mit seinen poetischen Ideen in Einklang bringen, die andere: was haben die Mitglieder der S.I. für ein Leben geführt? Es ist doch ziemlich enttäuschend, daß, wenn man die letzte Schrift der S.I. liest, Die wirkliche Spaltung in der Internationalen, nur noch zwei, drei, vier Leute übrig sind: zwei sind noch dabei, zweien wird noch ein wenig Anerkennung ausgesprochen, aber jedem anderen wird eigentlich nachgewiesen, daß sein Leben das einer lächerlichen Figur gewesen sei. Und das nachdem dieser Anspruch hinausposaunt worden war. Da löst sich diese Gruppe auf und hinterläßt 50 Jammerlappen und zwei, drei glorreiche Generäle.

    Diederichsen: Mir ist eigentlich auch erst durch die Lektüre Deines Buches klar geworden, daß es echte Machtkämpfe gegeben hat, bei denen die doch sehr humorvoll gehaltenen Nachrufe und Ausschlußbegründungen eine Funktion hatten, ich hatte von der Lektüre der S.I.-Texte her immer den Eindruck, daß die Ausschließungen nur nachvollzogen, was inhaltlich schon gelaufen war.

    Ohrt: Man muß natürlich auch bei allem, was man über die S.I. sagt, sich eine grundlegende Tatsache klar machen: und das ist das völlige Fehlen einer Kommunikation über Kunst. Das Zurückgehen der Auseinandersetzung mit moderner Kunst, das Zurückgehen auch gesamtgesellschaftlich – des Verständnisses moderner Malerei. Schon die Cobra-Gruppe wurde ja von Jorn gegründet, um eine fehlende Resonanz herzustellen. Die fehlende Wirkung der Künstler auffangen und versuchen zu formulieren, was für Wirkungen überhaupt Künstler mit ihren Werken erzielen können. Und auch die S.I. ist ja eine Organisation, mit der vor allem Kommunikation hergestellt wurde. Man kann sich das heute vielleicht gar nicht mehr vorstellen, aber die sind ja in einem unglaublich kurzen Zeitraum, also etwa 5 Jahre, in Europa herumgereist und haben sich getroffen, um zu reden, zu reden, zu reden. Und haben versucht, erstmals einen größeren Kreis von Leuten überhaupt ernsthaft anzusprechen. Daß das alles scheitert, ist ’ne andere Frage. Aber ich möchte erstmal als grundsätzlichen Mangel feststellen, daß Kommunikation über Kunst zurückgeht. Und dieser Rückgang kann natürlich dazu führen, daß einige Künstler mit ihrem Werk derart stagnieren, daß dann die Bürger daran Interesse finden können. Da kann man dann immer mit derselben Bewegung über die Leinwand wedeln und das verkaufen. Und daran fehlt natürlich eine radikale Kritik. Nur ist das Fehlen einer radikalen Kritik bei schlechter Kunst offensichtlich.

    Bei guter Kunst ist es nicht so offensichtlich; da fehlt einfach eine Auseinandersetzung und ein Verständnis. Und da erscheint mir eben die stalinistische Ausschlußpraxis von Debord, Ausschließungen, Androhungen von Ausschluß etc., fragwürdig. Ich finde das eigentlich eher eine Hilflosigkeit, wenn ein sozialer Zusammenhang kreativer Menschen gefährdet ist, so zu reagieren.

    Diederichsen: Nun gut, wenn man das nur liest, das habe ich ja eben schon gesagt, dann ordnet sich das ein in ein Panorama radikaler Gesten, die den Sinn zu haben scheinen, Lächerlichkeiten zu denunzieren und überhaupt die Lächerlichkeit kreativer Tätigkeiten aufzudecken. Meine daran anschließende Frage wäre: Sind Praktiken wie die der S.I. und ihrer Satelliten für Dich heute erledigt und die von Jorn die auch heute noch gangbare? Oder wie würdest Du die Geschichte der S.I. auf die Gegenwart beziehen?

    Ohrt: Nein, die Programme der S.I. sind nicht erledigt und sind ja zu einem großen Teil auch ein Teil eben der Praxis von Jorn gewesen. Jorn hat sich ja als Künstler nicht auf die Malerei beschränkt und immer versucht, sein künstlerisches Betätigungsfeld zu erweitern. Meine Frage lautete ja: was kann man verwirklichen und was sind die Bedingungen dafür? Und es ist zwar so, daß Jorn aus dem Buch hervorgeht, aber ich wollte nicht sagen, daß man alles andere vergessen kann. Aber wir haben hier einen Maler, der theoretische Bücher geschrieben hat und der zeigt, wie man mit den Mitteln der Kunst beständig vorankommt, ohne die Rolle des Höhlenmenschen zu spielen, der dann später mal von der Gesellschaft bewundert wird

    Diederichsen: Wo siehst Du denn in der Gegenwart Ansatzpunkte für eine zeitgemäße Praxis, die nach dieser Geschichte spielt, ohne dahinter zurückgegangen zu sein.

    Ohrt: Du fragst nach Künstlern, Gruppen oder Aktivitäten?

    Diederichsen: Oder auch Theoretikern?

    Ohrt: Also im Moment fällt mir dazu nichts ein. Die Situation ist ja die, daß man alles machen kann, also auch wieder malen, alles veröffentlichen kann. Aber ich kann weder Maler oder Gruppen nennen.

    Diederichsen: Die Malerei ist ja unter jungen Künstlern im Moment wieder ziemlich verboten.

    Ohrt: Ich bin da nicht so informiert. Was schlagen die Betreffenden denn stattdessen vor?

    Diederichsen: (beschreibt die Arbeit von Mark Dion, Andrea Fraser und Peter Fend)

    Ohrt: Na, das hört sich ja ganz lustig an. Aber die Frage der Malerei läßt sich ja nicht als Entweder/Oder stellen.

    Diederichsen: Es wird aber immer so diskutiert. Es wird halt immer wieder das Tafelbild abgeschafft. Und wenn es sich dann auf der postmodernen Ebene wieder einführt, wird es danach auf der postmodernen Ebene wieder abgeschafft und das Theater geht von neuem los. Das ist aber nicht ganz so lächerlich, wie das jetzt klingt. Die darin investierten theoretischen Energien sind schon ganz beträchtlich.

    Ohrt: Das Problem des postmodernen Tafelbildes: Malen kann jeder, wenn er will. Es kommt aber darauf an, was auf den Bildern drauf ist. Und da zeigt sich eben erst die Verantwortlichkeit des Künstlers. Man kann sicherlich alles oder irgendetwas verkaufen. Aber gerade in dieser Situation kann man doch auch näherrücken, was auf den Bildern wirklich drauf ist.

    Diederichsen: Aber welche Kontrolle hat man, welche Mittel hat man, um darüber, jenseits der Freiheit der Kunst, wie sie im Gesetz steht, verbindliche Kommunikation herzustellen?

    Ohrt: Es ist eben so dermaßen zur Gewohnheit geworden, daß über Bilder nicht geredet wird. Daß Bilder in Galerien hängen, man sie sich ansieht und zum nächsten geht. Aber das hat nicht verhindern können, daß Leute sich für das interessieren, was auf den Bildern drauf ist und darüber eine Kommunikation herstellen. Und alle bedeutenden Fortschritte innerhalb der modernen Malerei gehen auf kollektive Prozesse zurück. Da waren immer soziale Zusammenhänge unter Kreativen, die sich ausgetauscht und diskutiert haben. Schlechte Bilder sind eben auch das Zeichen der fehlenden Kommunikation. Mit Kontrolle kann man da wenig ausrichten.

    Diederichsen: Nun hat die Kommunikation über Kunst in den letzten zehn Jahren aber doch erheblich zugenommen, jedenfalls das Geräusch ist lauter geworden.

    Ohrt: Das Geräusch ist lauter geworden. Aber es kommt äußerst selten vor, daß ich, wenn ich Zeitschriften oder Abhandlungen über Kunst lese, finde, daß sich jemand wirklich auseinandergesetzt hat, mit Malerei.

    Diederichsen: Kann das aber nicht auch an der technologischen Überholtheit der Malerei liegen? Daran, daß es so viele andere, leichter zugänglichere, weniger hierarchisch vermittelte Formen der Bilderherstellung gibt, daß die Kommunikation daher von der Malerei abgezogen wird?

    Ohrt: Es ist sicher so, daß – um es einmal ganz technologisch zu formulieren – das Verhältnis von gemalter Farbe zu reproduzierter Farbe in der Welt sich in einem enormen Maße zugunsten der reproduzierten Farbe verschoben hat. Das war natürlich zu Zeiten des Impressionismus ganz anders. Ich glaube aber, daß ein selbst hergestelltes Verteilen von Farbe in einem Rahmen grundsätzlich andere Ergebnisse hervorbringen kann, als die Arbeit mit reproduzierter Farbe. Und das ist auch der Grund, warum ich Malerei als Mittel der Erkenntnis nach wie vor für unverzichtbar halte.

    Diederichsen: Nochmal was Anderes: Du schreibst an einer Stelle, daß Debord ganz richtig handelte, als er schon in den 50ern seine „Memoires“ veröffentlichte, weil das „Moineau“ und das Leben, das die Lettristen damals führten, für ihn das Wichtigste blieb. Ist das nicht ein Ergebnis, zu dem man immer dann kommt, wenn man individuelle oder kollektive Lebensläufe schreibt, daß nämlich die Urzelle, das Urerlebnis das Eigentliche war und alles spätere trauriges Scheitern. Und käme man nicht zu anderen Ergebnissen, wenn man die Parallelität, das Immerwiederauftauchen solcher Orte zum Gegenstand von Geschichtsschreibung machte?

    Ohrt: Das ist ja zunächst mal ein Problem von Debord. Debord hat ja unwahrscheinlich oft eine Geschichte von sich geschrieben. Ob das nun das Buch Panegyrique war oder der Film In girum imus nocte et consumimur igni. Und er hat immer wieder so geschrieben, daß er nie was anderes gelten ließ, als das Leben damals im „Moineau“, spätere Erfahrungen oder Ergebnisse konnten ihn nicht mehr berühren. Etwa die deutsche Gruppe SPUR. Das hat ihm dann auch die Aura eines traurigen Menschen gegeben. Es gibt kaum einen, der ihn nicht als einen unglaublich traurigen Menschen beschreibt. Insofern ist also so eine Betrachtungsweise schon in seinem Leben angelegt. Ich habe aber auch nicht verstanden, wie Deine Alternative zu so einer Betrachtungsweise aussehen könnte.

    Diederichsen: Wenn Du bestimmte Bedingungen des „Moineau“ beschreibst, an anderer Stelle bestimmte isolierbare Techniken, die die Situationisten entwickelt haben oder derer sie sich bedient haben, die zu anderen Zeiten in anderen Situationen wieder aufgetaucht sind, ob nicht, wenn Du diese Anwendungen oder dieses Wiederauftauchen einbezogen hättest in Deine Geschichte, nicht noch eine zusätzliche Dimension entstanden wäre, die des Wiederauftauchens von Formen des Einspruchs, so wie in einigen in Deiner Bibliographie erwähnten Texten oder in dem von Dir erwähnten Buch Punks und Lettristen. Es sind ja auch situationistische Praktiken massenkulturelle Praktiken geworden, ohne daß es darüber bei den Beteiligten Informationen gegeben hätte, beim Hip-Hop etwa.

    Ohrt: Ja, sicher. Das wäre aber ein anderes Projekt. Das Buch ist ja auch der Versuch, diese ganze Geschichte als Grundlage zugänglich zu machen. Dann endlich mal über Dinge zu reden, die nicht ständig wieder erklärt werden müssen. Es fehlte einfach so etwas. Und es fehlte eine Darstellung gegen den Strich, gegen die Richtung, die die S.I. immer selbst eingeschlagen hat. Es gibt ja höchstens zwei, drei Abhandlungen, die nicht diese Apologie reproduzieren, die Debord und seine Freunde sich immer selber geschrieben haben. Ich habe auch nicht gewollt, daß das „Moineau“ selber wieder zu einem Mythos wird. Ich habe beschrieben, wie es da war. Und dann ja gerade gezeigt, wie die Mythisierung dieses Orts bei Debord verhindert hat, sich anderen Situationen zu stellen, andere Bedingungen zu verstehen. Zum Beispiel ist mir völlig unverständlich, warum Debord sich gegenüber der Gruppe SPUR dermaßen einigelte. Natürlich war die Situation in Westdeutschland eine völlig andere als in Frankreich. Hätte er sich doch klarmachen können, daß ein Staat, der 25 Jahre unter dem Schatten der Nazis steht, während der Nazizeit, und auch noch danach, keine vergleichbaren Erfahrungen hervorbringt wie Frankreich. Das Problem der deutschen Nachkriegskunst wird ja oft nicht gesehen: die Gruppe SPUR waren ja wirklich die ersten, die moderne Erfahrungen moderner Menschen verarbeitet haben, Erfahrungen, die in den 20er Jahren ganz selbstverständlich waren. Auch Baselitz und alles in Berlin war ja erst drei Jahre später. Die haben sich da ganz mühsam erst aus ihrer Zwangspause freistrampeln müssen.

    Diederichsen: Es wird natürlich verständlich, gerade vom ästhetischen Aspekt her: gerade die Eleganz von Debords Manifesten fehlt ihm dann bei SPUR.

    Ohrt: Natürlich, aber das ist dann auch eine Frage der Geduld. Oder der Verbindung mit etwas, das eine ganz andere Geschichte hat. Jorn war dagegen eine überschwengliche, euphorische Natur, der die Menschen mit seiner Aktivität angesteckt hat. Eben eine gesellschaftliche Figur, was sich auch in seinem Verhalten gegenüber der Gruppe SPUR gezeigt hat. Und die war damals natürlich noch sehr unerfahren.

    Diederichsen: In der Beziehung ist Jorn sicher auch eine viel politischere Figur als der ästhetizistische oder dandystische Debord. Andererseits ist dieser marxistische Dandysmus doch auch gerade Debords Projekt. Wenn z. B. auf der Einladungskarte zu den Lettristen eine „herausragende Intelligenz“ verlangt wird.

    Ohrt: Und Genie. Ja, diese Unverfrorenheit von Debord kommt sicher aus der Tradition des französischen Dandysmus.

    Diederichsen: Aber ist das nicht auch eine Leistung, den Dandysmus politisch zu denken, aus ihm die höchsten Ansprüche abzuleiten und die zur politischen Forderung zu erheben?

    Ohrt: Ja und dabei entsteht dann ein Generalstab, eine kleine Gruppe von Schlachtenlenkern und nicht mehr der Versuch, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten.

    Diederichsen: Also der Versuch, die Leninsche Avantgarde als Geschmacksavantgarde.

    Ohrt: Ja, wobei selbst Lenin noch mehr auf Organisation geachtet hat.

  • Legitimität und Illegalität – Avantgarde und Menschenopfer

    Ich weiß es nicht, er weiß es nicht, niemand weiß es; das ist unklar und wird vielleicht auch immer unklar bleiben: Es bleibt, daß es so ist. Die Einheit stellt sich durch Ausschluß her. Und der Ausgeschlossene ist er.

    Michel Serres

    Die Elite und der Kandidat

    Mit den Opferungen im Namen der Kunst, um die es hier geht, sind weniger die Mechanismen, von denen Theweleit im Buch der Könige spricht, also Opferungen (Damenopfer, Selbstopfer) bei der Stimulanzproduktion in der privaten Organisation einzelner Künstlerleben gemeint. Sondern eher ein Mechanismus aus dem Leben der Künstlergruppen, der auftaucht, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Eine Künstlergruppe befindet sich im Entstehen oder erlebt einen Moment des Erfolgs und der Konsolidierung. Diese Gruppe hat einen politisch oder ästhetisch begründeten Avantgarde-Anspruch, sie empfindet sich in „subversiver“ Gegnerschaft zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren (sittlichen) Gesetzen oder zu deren Politik und damit zur Legalität, in einem engen oder weiteren Sinne. Es scheint, daß, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, einer oder mehrere vonnöten sind, die durch eine gruppeninterne Ausgrenzung ausgeschlossen werden, um sich intern auf diese Grenze zu vereidigen. Das Ziel ist die Legitimierung der Gruppe.

    Die Beschaffenheit des Kandidaten für diese Opferung ist oft die eines Sympathisanten oder Nahestehenden, einer mittleren Charge, die bzw. den man eines Verrats oder eines ästhetischen Versagens überführt haben will. Die Ähnlichkeit zu alltäglichen Intrigen geht genau so weit, bis im Alltag auf immer schon bestehende, als natürlich empfundene Sitte oder Gesetz, auf common sense schließlich zurückgegriffen wird, um Machtverhältnisse zu stabilisieren. In unseren Fällen werden Sitte und Gesetz aber nicht nur nicht anerkannt, eine ihnen entgegengesetzte Handlungsweise bestimmt die Identität der Gruppe, egal ob es sich um apolitisch-elitistische oder politische, aber versteckt elitistische Gruppierungen handelt. Das Element des Elitären ist entscheidend, weil die Idee der Avantgarde-Gruppe selber zwischen der alten elitären Identität des Künstlers und seiner neueren Situiertheit im Sozialen siedelt: Elite ist genau das Problem seiner neuen Lage: indem er in mancher Hinsicht von der Entwicklung z. B. der technischen Bilder seiner für jedermann erkennbaren besonderen Fähigkeiten beraubt ist – und in anderen Künsten durch entsprechende Technologien – , definiert er sich einerseits über gesellschaftliche und soziale Projekte, andrerseits durch einen übersteigerten Genie- und Elite-Begriff, der ja gegen die offensichtlichen Indizien behauptet werden muß, die in der Volksweisheit gipfeln: meine kleine Tochter kann das auch. Die ideale Verbindung der elitären und der sozialen Orientierung war die Künstlergruppe, sie mußte daher geheimgesellschaftlich-elitäre mit politisch-radikalen, am liebsten antisozialen Forderungen in Übereinstimmung bringen. Sie hat oft genug auch in beide Richtungen als Durchgangsstadium zwischen sozial-politischer und einsam-elitärer Arbeit gedient.

    Meist gibt es eine klare Ähnlichkeit zwischen Opfernden und Geopfertem, die ausgeräumt werden mußte (etwa das Streben des Betroffenen nach persönlichem Ruhm oder sein Versuch, sich mit den Meistern der Gruppe zu messen). Meistens wird in dem Geopferten ein frisch überwundener eigener Zustand wiedererkannt, an den man nicht erinnert werden will. Der Unterschied zu entsprechenden Vorgängen in rein politischen oder religiösen Sekten besteht darin, daß diese sich immer auf ein außerhalb der Gruppe „schon immer“ bestehendes Gesetz, einen großen Anderen berufen, das/die prinzipiell für alle erreichbar und zugänglich ist. Während die Gesetze und Umgangsformen in der subversiven oder avantgardistischen Künstlergruppe (die auf dem Selbstverständnis aufgebaut ist, nicht nur außerhalb des Gesetzes zu stehen, sondern vor allem neuer zu sein, und daher von den bestehenden Gesetzen gar nicht erfaßbar) erst entstehen, indem es zu einer Handlung im oben erwähnten Sinne kommt. Was nicht heißt, daß die Künstlergruppe ohne objektiven Außenbezug zustande kommt.

    Hitchcock

    In Hitchcocks Film Rope, im deutschen Sprachraum als Cocktail für eine Leiche bekannt, begehen zwei elitistische, schwule Studenten einen Mord an einem Kommilitonen, aus zwei Gründen: der Betreffende ist als minderwertig erkannt. Und: der Mord ist nichts als die Umsetzung einer Theorie ihres Professors über „the Superman’s right to kill.“1 Dieses Recht und damit die Bestätigung, zu den Supermen zu gehören, erhält aber, wie jedes neue Gesetz, nur eine praktische Bedeutung, wenn es wahrgenommen wird. Das Recht des Übermenschen zu töten stellt sich als seine Pflicht heraus, wenn er in den Kreis der Übermenschen aufgenommen werden will. Der Wunsch, sich über oder außerhalb des (alten) Gesetzes zu stellen, wird zum Zwang, einem Gesetz zu folgen. Oder einen gesetzmäßigen Ablauf auszulösen, der das neue Gesetz als Testlauf, Pilotfilm in Kraft setzt. In Rope hat der sich als mißverstanden herausstellende Professor, dargestellt von Jimmy Stewart, noch die Chance, in einem Moralappell nicht nur klarzustellen, daß er mißverstanden worden sei, sondern auch allgemeine Gleichheit aller Menschen und Verabscheuungswürdigkeit des gezeigten Verbrechens zu verkünden. Die Zuschauer der späten 40er ließen sich von dieser angeklebten und wenig überzeugenden Distanzierung nicht bluffen oder beruhigen: in den USA, vor allem aber in Europa, am heftigsten in der Schweiz2, kam es zu empörten Protesten. Kinobesitzer verlangten von der Vertriebsfirma unentgeltlich einen Ersatzfilm.

    Die „wahre Botschaft“ der Gesetzlosigkeit

    Das Unbehagen am Auftritt des routinierten Sympathieträgers James Stewart als Vertreter einer scheinbar von außen und vom Gesetz aus urteilenden, konventionellen Moral verweist darauf, daß uns die Gesetze der Moral genau da nicht weiterhelfen, wo uns unser Gefühl ja zunächst überhaupt nur aufmerksam gemacht hat, weil es einen Bruch unserer Moral ausgemacht hat. Wir erinnern uns instinktiv, daß die Gesetze der Moral immer schon auf das Einplanen ihres Bruchs aufgebaut waren, ja daß sie uns in einem gewissen Sinne immer schon aufgefordert haben, sie zu brechen. Wir erkennen, daß James Stewart unrecht hat, weil er, indem er theoretisch ein Gesetz aussprach, die Botschaft formulierte, niemals eine Theorie blind umzusetzen (er konnte das nur, indem er sozusagen den Grenzfall ausprobierte, eine Theorie, die sagt: Töte!). Und wie jedes Gesetz, das der Vater verhängt, mußten die Studenten es brechen, indem sie den Inhalt seiner Theorie als Gesetz auffaßten und umsetzten. Der Zuschauer versteht das, weil er weiß, daß Jimmy Stewart unmöglich so was meinen kann. Denn dieser ist das Gesetz in beiden Varianten: erst als dessen neues Gesetz schaffender Bruch, um am Schluß in die Form des konventionellen Gesetzes zurückzuschlüpfen, als Verkünder eines Gesetzes und damit gleichzeitig Figur, die zum Bruch auffordert. Die dabei gewahrte Einheit der Person könnte zum Schlüssel unseres Problems werden, der Einheit der Differenz von Gesetz und Gesetzlosigkeit. Die Opferung im Kreis derer, die das allgemeine Gesetz nicht anerkennen, konstituiert nicht nur ein neues Gesetz. Das neue Gesetz entpuppt sich als Inversion des alten. „Tue, was du willst, sei das ganze Gesetz“, spricht Aleister Crowley, zu Recht der Ablehnung der Gesetze den Namen „Gesetz“ gebend.

    Dazu Slavoj Žižek

    Slavoj Žižek schreibt: „The Big Other [also zum Beispiel das moralische Gesetz] does not exist as subject of history; it is not given in advance and does not regulate our activity in a teleological way. Teleology is always a retroactive illusion and ‚states that are essentially by-products‘ are radically contingent. It is also against this background that we should approach the classic Lacanian definition of communication, by which the speaker receives from the other his own message in its true, inverted form. It is in the ‚essential by-products‘ of his activity, in its unintended results, that this message’s true, effective meaning is returned to the subject. The problem with this is that, as a rule, the subject is not prepared to recognize in the mess that results from his actions their true meaning. This brings us back to Hitchcock: in the first two films of the ‚transference of guilt‘ trilogy, the addressee of the murder (Professor Cadell in Rope, Guy in Strangers On A Train) is not prepared to assume the guilt transferred to him by the murder accomplished by his partner an act of communication. By realizing the desire of the addressee, the murder returns him his own message in its true form (witness the shock felt by Professor Cadell and the end of Rope when the two murderers remind him that all they did was to take him at his word and act out his conviction about the Superman’s right to kill).3 Oder einfacher und auf Deutsch: Ich muß einen Gesetzesbruch begehen oder anstiften, um mir durch dessen Konsequenzen erst klar zu machen, was ich eigentlich gemeint habe.

    Dazu Bob Dylan

    Die in diesem Sinne „wahre“ Botschaft der Gesetzesgegnerschaft in Avantgarde-Zirkeln wäre aber auch – und ein Blick auf die Geschichte solcher Gruppen erweist das als Binsenweisheit: unbedingter Gehorsam gegenüber den neuen, den eigenen Gesetzen. Diese Gesetze des Gesetzesbruches sind nicht nur Antithese oder Komplement zum alten Gesetz, sie verstärken es noch oder stellen es in einer neuen, nunmehr unantastbaren Form wieder her, als Big Other. Den Gehorsam müssen dabei nicht notwendig dominierende Figuren weniger dominierenden auferlegen. Ebenso oft haben wir den Fall, wo sich Personen selbst das Gesetz der Gesetzgegner als inneres auferlegen. „To live outside the law you must be honest“, sagt Bob Dylan 1967.4 Was ist „Honesty“ aber wieder für ein Terror? Diese Frage haben die 70er Jahre beantwortet. Ihnen ging voraus, was sich mit dem Boom der Künstlergruppen in der Moderne ankündigte: ein kollektives Prinzip ersetzt das alte individuelle. Ästhetische und soziale Techniken überlagern einander, zum populären Mythos wie auch zu einer Revolution in der Produktionsweise von Pop-Musik geworden in der nicht totzukriegenden Idee der Band. Dylan, der sich damals von einer Band begleiten ließ, die „The Band“ hieß, trauert an verschiedenen Stellen den verschwindenden Möglichkeiten des guten, alten amerikanischen Individualanarchismus nach. Als die Dominanz des Sozialen über das Ästhetische – ein inzwischen in den Gegensatz elektronische Einsamkeit versus Tribalismus transformierter Prozeß – in den 70ern komplett war, hat auch die Honesty terroristisch jede Denkbarkeit von Gesetzlosigkeit in der Praxis besiegt. Vor diesem Hintergrund kann man die Opferungen und Diskriminierungen der alten Künstlergruppen auch als präventive Maßnahme gegen die Nivellierung durch gute Absichten sehen – denn parallel zum Sieg der „Honesty“ fingen in den 70ern Einzelne und neue Stämme wieder an zu sagen „I’m Bad“. Dem grundsätzlich bürgerlicher „Gutheit“ innewohnenden Herrschaftsanspruch entgegenzutreten, indem man ihn entkleidet und exekutiert, eben durch unser Beispiel der Opferung, folgt freilich der Logik von Präventivkriegen und vorauseilendem Gehorsam. Komisch ist nur, daß entgegen allen Anzeichen die Idee und auch die Effektivität der Band als ästhetisch-soziale Praxis das alles überlebt zu haben scheint. Vor wenigen Tagen noch erklärte mir Mike Watt von der Band „fIREHOSE“, der auch in verschiedenen Filmen des Künstlers Raymond Pettibon über jugendkulturelle Oppositionsbewegungen mitspielt, nachdem er mich über die Geschichte von FBI-Infiltrationen in solchen Bewegungen aufgeklärt hatte, zum Abschluß: „You can’t join a group and you can’t work for yourself: you have to join a band!“

    Dazu Oswald Wiener

    In „Einiges über Konrad Bayer“ von 19785 schreibt Oswald Wiener: „Wenn Konrad eintrat, befiel einen eine gewisse spannung, die situation gestattete nicht mehr ein ruhen in ihr oder eine bewegung mit ihr, man war nunmehr gezwungen, sie immer wieder, ihre einzelheiten, die möglichkeiten ihrer interpretation, der interpretation der eigenen erscheinung in ihr, die konkreten anblicke und ihre möglichen bedeutsamkeiten durchzugehen und die möglichkeiten von veränderungen vorwegzunehmen. die niederschrift vieler gespräche wäre unverständlich, da die zusammenhänge nur durch schnelle wechsel in der brennweite der aufmerksamkeit und durch umklappende vorstellungen, die sich nicht immer in formulierungen zeigten, gewahrt werden konnten. man durchmusterte die gegenstände und die bewegungen immer wieder, man geriet aus dem kaffeehaus ins unbekannte, wer das nicht vermochte und dennoch mehr sein wollte als staffage, wurde material; ein bekanntes theaterstück von W. Bauer paraphrasiert einen weitgehend durchdachten plan, den Konrad mit W.T. und mir längere zeit hindurch weiterfeilte und der eigentlich nur deswegen nicht völlig in die tat umgesetzt worden ist, weil das globale gelingen nicht recht zweifelhaft war und weil ein unterschied zwischen einem menschen und einer vorstellung schwierig zu treffen ist.“

    „Change“

    In dem „bekannten theaterstück von W. Bauer“ erkennen wir Change, wo zwei Spätbohemiens beschließen, den Maler Blasi, den sie für naiv und berechenbar halten, zunächst zu Ruhm zu verhelfen, um ihn anschließend so zu manipulieren, daß er sich das Leben nehme. Ihre Motive sind dabei nicht nur experimentell, sondern auch materiell: als Verwalter des Werks des zu opfernden Künstlers wollen sie von seinem Freitod profitieren. Im Mittelpunkt aber steht die „Manipuläschn“, für die sich Fery rührend großspurig und reizend kretinös als Erfinder einer neuen radikalen Kunstform feiern läßt. Zu zeigen, daß der Freitod, immer gern als die letzte Zuflucht individueller Freiheit gesehen, kein freier ist, wäre vielleicht eine mögliche Deutung der Idee gewesen, die dem von Wiener geschilderten „Plan“ zugrunde lag. Das Milieu, in dem Change spielt, ist ein lumpenintellektuelles Bohemia. Am Ende fällt einer der Opferer selber in die Grube, die er gegraben hat, und suizidiert sich. Mich interessiert weder die Moral noch die meiner Meinung nach verfehlte sozialkritische Interpretation, die dem Stück vielfach zuteil wurde, etwa so: „Auseinandersetzungen mit der Realität in einem direkten Sinn, sei es sozial, politisch oder wirtschaftlich, bleiben ausgespart und lassen sich nur indirekt als ein verdrängtes Problem erkennen: in der Ausschließlichkeit und Übersteigerung, im Leiden an diesem von Surrogaten bestimmten Leben mit Beat, Donald-Duck-Heften, Haschisch, abgenutztem Sex, Literatur …“ schrieb seinerzeit Ute Nyssen6. Kaum noch nötig zu korrigieren, daß wir heute wissen, daß nicht nur Ausschließlichkeit und Übersteigerung, Surrogate aller Art – für was, für welches Original? –, vor allem aber Beat und natürlich Haschisch, schließlich ganz besonders Donald Duck, das Original der Originale, wenn es denn je eines gab, uns allesamt als vorbildliche Bestandteile oder Grundlagen einer mittlerweile unübersichtlich verzweigten und ausdifferenzierten Kultur zu gelten haben, die vielleicht den letzten verlorenen Kampf um eine richtige Lebensführung im Falschen führt (und daher immer wieder so sichtbar das Falsche als Richtiges wiederentdeckt). Denn natürlich hing der Erfolg von Bauers Stück auch damit zusammen, daß er die richtigen „Surrogate“ zur richtigen Zeit wählte. Gerade, weil die Ingredienzen, die das Stück in der Subkultur seiner Zeit situieren, stimmen (anders als bei so vielen Nachfolgern in Drama und Prosa), erkennen wir etwas ganz anderes in dem Stück: nicht dem Herabsinken, sondern dem Erfolg, der Entstehung einer bohemistischen Clique wird hier bei der Arbeit zugesehen. Und zu diesem Erfolg verhilft hier, soll ihr verhelfen: eine Opferung. Daß der Opferer selber zum Opfer wird, ist nur möglich durch das Spiel des „Change“, einen Vorgang, der in etwa dieselbe Funktion hat wie das, was Žižek als Lacans Begriff von Kommunikation beschrieben hat. Die „true meaning“ der „Manipuläschn“ ist Ferys Wunsch, das Unbeherrschbare (unklare, unbürgerliche, ungeregelte Verhältnisse) zu beherrschen: er wollte mehr sein als Staffage und wurde zum Material, was ihm Blasi durch sein instinktives Verstehen von Konkurrenz auf dem beruflichen (Kunstmarkt) wie auf dem privaten Sektor (Frauen) zurückspiegelt. Am Ende ist die „Manipuläschn“ gelungen. Daß wer anderen eine Grube gräbt selbst hineinfällt, ist nicht Moral, sondern Gesetz, welches einschließt, daß jeder Versuch, ihm durch Manipulationen zu entgehen, schon eingeplant ist. The Big Other der modernen Künstler: Donald Duck, Jazz und Beckett – die Bezugspunkte von Change, – können ein Lied davon singen. Blasi aber, der gelehrige Gewinner, geht als verfehltes Opfer als lebensfähige Figur aus der Geschichte hervor, als postbohemistischer Typ, zwischen Cretin, Karrierist und Rebell: die Sorte, die im Gegensatz zu den Elitisten bis heute überlebt hat.

    Radikalität und Un-Frei-Tod

    In die Zeit der Entstehung von Change fällt die Institutionalisierung und Organisierung der vielen dissidenten und devianten Praktiken, die in den 50ern und frühen 60ern noch „heroische“ Einzelfälle einer, mit heutigen Verhältnissen verglichen, noch enorm unorganisierten, unsubventionierten Boheme waren. Diese Kräfte waren nun zu „Studentenrevolten“ in allen Bereichen der Kultur zusammengezogen worden, gemeinsame Ziele und dahinführende Regeln waren verabschiedet worden, der Übergang von Radikalität in Radikalität als Bewerbungsschreiben bis zu Radikalität als Unterrichtsgegenstand folgte in den 70er Jahren nach. Der Widerspruch zwischen Demonstrationen (nicht wünschenswert) und Belebung der Innenstädte (wünschenswert) schrumpfte zu einer Geschmacksfrage, bis er in seiner postmodernen Versöhnung schmolz. Wer jetzt verzweifeln würde, würde einen Freitod wählen, der nichts freies mehr an sich hätte. Das kommerzielle oder politische Kalkül, also die „Regeln der Macht“ oder „The Big Other“, hatte immer schon vorher einen „Plan“, dessen strategischer Überlegenheit durch Imitation sich selber via „Manipuläschn“ anzuschmiegen, nur zu dem schrecklichen Ende führen konnte, das die ultima ratio kleinbürgerlicher, egozentrischer Souveränitäts- und Freiheits-Illusion traditionell ist; der Leichnam des Selbstmörders ist nichts als das Symptom einer Krankheit, die schon vorher diagnostiziert worden war. Becky Thatchers Augen bleiben trocken. Dies konnte man aber in den 50ern vielleicht noch nicht wissen, weswegen man sich die Gesetzmäßigkeit der eigenen vermeintlichen Gesetzlosigkeit durch eine Herrenmenschenmystik noch „selbständig“ herbeiinszenieren wollen konnte, die Regeln noch zu gründender, späterer Parteien vorwegnehmend. Die deterministische Mechanik der ästhetischen Praxis im Sozialen: was in der Künstlergruppe Ergebnis eines Experiments war, wird später zum Know-how der Macht.

    Frühe und klassische Boheme, Postboheme, Blasi – Imitation und Gegnerschaft

    Vor diesem Hintergrund blickt Change sozusagen auf die noch unabhängigere, über die eigenen Regeln sich noch unklare, bohemistische Klassik zurück und entdeckt in ihr den gesetzmäßigen Ursprung der totalen Unfreiheit jener Freiheit, über die heute Institutionen frei verfügen. Und die in einen Freitod führen mußte, dem noch anhing, nicht einmal frei, sondern das Ergebnis nicht nur einer „Manipuläschn“ zu sein, sondern auch noch einer „Manipuläschn“, die mit dem Ziel, selber Souveränität zu erlangen, veranstaltet worden war. Der englische Kunsthistoriker T.J. Clark hat einmal festgestellt, daß die Strategie der frühen Boheme nicht Differenz und Gegnerschaft, sondern in übertreibender Parodie übergehende Imitation gewesen sei. Deren Ergebnis war, wenn man so will, eine „unwillkürliche Differenz“ auf der ästhetischen Ebene, der soziale Differenzen, Anpassungsschwierigkeiten, alle Arten von vorauseilenden oder zurückbleibenden Anachronismen zugrundelagen. Seit diese Differenz aber als Ausnahme (von gesellschaftlichen und anderen Determinanten, Gesetzmäßigkeiten) auf der Ebene Kultur legalisiert, aus einer im Grunde indifferenten, weil legalisierten, Position heraus geplant wird, als Symptom einer produktionsnotwendigen und nicht produktionsnegativen Andersartigkeit, die daher nicht anders ist, fällt sie zurück zum Gegenstand gerade dieser Gesetze, parodiert sie jetzt, unwillkürlich und grausam gesteigert, sich selbst, zur Drastik gezwungen nicht mehr, indem sie spielt, sondern indem sie exekutiert. Indem er wiederum dieses sich selbst unklare Dilemma der ganz besonders unfreien, freien Konkurrenten um prämierbare Andersartigkeit auf dem pluralistischen Markt wiederum gelehrig parodiert, gewinnt Blasi den alten Vorsprung zurück. Die Gruppe um Fery schließlich, die manipulierend große Manipulationen des Systems imitiert, erhält schließlich auch ihren Differenzgewinn, Blasis Unabhängigkeit. Nur daß im Sozialen der Gruppe nicht das planende Individuum prämiert wird, sondern irgendeiner. Diese Soziallogik konnte Fery als Noch-Elitist nicht verstehen.

    Linksradikaler Elitismus: die Situationistische Internationale

    In den späten 50er Jahren gab die Situationistische Internationale (in ihrer eigenen Publikation) eine Anzeige auf, in der sie fragte: „Halten Sie sich für ein Genie? Oder glauben Sie zumindest, über eine außergewöhnliche Intelligenz zu verfügen? Dann nehmen Sie Kontakt mit der Situationistischen Internationale auf.“7 Man suchte also nach Leuten, die mehr sein wollten als Staffage. Zu denen, die sich meldeten, nicht auf diese Anzeige, sondern im Verlaufe der Geschichte der SI, durch die Vermittlung ihres Mitglieds Asger Jorn, gehörte die deutsche Gruppe SPUR. 1959 wurden die SPUR-Maler bei einer Konferenz der SI in München aufgenommen. Sie konnten natürlich als vielleicht erste westdeutsche Regung eines dissidenten Avantgarde-Bewußtseins nach dem Kriege nicht mit der von brillanter negationistischer, an der französischen Avantgarde-Tradition geschulten poetischen Eleganz mithalten, die der geheime SI-Chef Guy Debord stalinistisch wie ein Indiz von „richtigem“ Bewußtsein einsetzte. Zudem war ihre Position als Immer-noch-Maler in der politisch-metaphorisierten Avantgarde-Logik problematisch, der Maler schlechthin ein naives und bürgerliches Tier, genau wie in Change, das ja von der erzmodernen und wiedermal zeitgemäßen Konfrontation: Malerei versus Konzept-Art handelt. Egal, ob Fichten oder Abstrakter Expressionismus. 1962 wurde die SPUR zu einer Konferenz nach Paris zitiert, wo sie in einem demütigenden, stalinistische Schauprozesse zitierenden Verfahren ausgeschlossen und ein damaliger Assistent, Uwe Lausen, zum Chef der deutschen Sektion der Situationistischen Internationalen bestimmt wurde (ein letzter kleiner Seitenhieb, der den Opfern der Hierarchie bedeutete, sich nicht auf eine Ablehnung von Hierarchien berufen zu können). Sie wurden wegen einer wahrscheinlich vergleichbaren Unterentwickeltheit „poetischer“ Fähigkeiten, die bei Wiener als das Nichtvermögen, aus dem „Kaffeehaus ins Unbekannte zu geraten“ vorkommt, ausgemustert – nicht ohne wie andere SI-Mitglieder vor ihnen und nach ihnen, zu Material einer poetisch-stalinistischen Inszenierung geworden zu sein, weil sie mehr sein wollten als Staffage. (Die Geschichtsschreibung der Beteiligten hat natürlich andere, inhaltliche Gründe ausgemacht: Debord warf SPUR wie den anderen vor und nach ihnen ausgeschlossenen Künstlern vor, auf dem Kunstmarkt reüssieren zu wollen, sie wiederum ihm, ihre kreative Potenz durch papierene Formeln wie „situationistische Disziplin“ zu unterdrücken. SI-Historiker Roberto Ohrt diagnostiziert einen Konflikt zwischen Wort und Bild – das mag alles stimmen, ändert jedoch nichts daran, daß die SI Debords nur existieren und attraktiv sein konnte, weil sie immer wieder das Mittel des Ausschlusses als Opferung einsetzte, um zu garantieren, daß ein künstlerischer Schritt, eine Gruppenmitgliedschaft und andere normalerweise rein symbolische Akte Folgen im Realen haben würden.)

    Formalisierung von Stimmungen

    Die SI hat mit der von Wiener beschriebenen Szenerie nicht nur gemeinsam, daß sie einen poetischen Kampf gegen die Langeweile führte, deren sie – ein Unterschied – mit politischen, marxistischen Begriffen Herr zu werden versuchte. Es ging ihr, besonders ihrem dominierenden Denker Guy Debord, hauptsächlich darum, das noch nicht Meßbare oder noch nicht Gemessene der „Stimmung“ und die Konstruierbarkeit von Situationen zu untersuchen und zu formalisieren. Beiden hier angedeuteten Szenen, die sich ungefähr zur selben Zeit und circa fünf bis zehn Jahre vor der Niederschrift von Change zugetragen haben müssen, ist trotz des Unterschieds zwischen offen thematisierter Psychotechnik und politischer Begrifflichkeit gemeinsam, daß sie den Nachweis ihrer avantgardistischen Eliteposition sich erbringen wollten/mußten, indem sie Mitbewerber, als „mehr als Staffage“ angelockt, in Material umzuwandeln wußten. Das hat nichts mit einem eher dem vorigen Jahrhundert entnommenen Mabuse-mäßigen Motiv eines dämonischen „Spiels mit Menschen und Menschenschicksalen“8 zu tun, sondern mit einer durchaus melancholischen und im Geiste der eben verlorenen Poesie verübten Handlung, bei der sich die schärfsten Liebhaber dieser avanciertesten bürgerlichen Verfeinerungstechnik den letzten antihumanistischen Kick geben, um sich und ihr Talent endgültig den großen „nichtsubjektiven“ Diskursen zur Verfügung zu stellen: Kommunismus, Naturwissenschaft etc. Immer verbunden mit einer nicht zu unterdrückenden kulturpessimistischen Trauer, die sich den Verlust des Glaubens an die Poesie und die darin schon erworbenen Fähigkeiten nur erklären wollte mit einem beispielhaften Niedergang des Restes der Menschheit. Ein Niedergang, der aber von der großen nicht-subjektiven Bewegung der Industrialisierung der Seele und des Poetischen ebenso ausgelöst worden sein soll, wie in ihm die Poesie aufgehoben sei. Ein berühmter Satz von Guy Debord: „Ich kenne kaum etwas anderes, dessen Schönheit es den in Paris angeschlagenen Metroplänen gleichtun könnte, als die zwei im Louvre ausgestellten Häfen in der Abenddämmerung von Claude Lorrain, die die genaue Grenze zweier städtischer Stimmungen darstellen, die so verschieden sind, wie man es sich nur vorstellen kann.“

    „Zwei, drei Generäle und siebzig Waschlappen“

    Die SPUR-Leute hatten nicht die Unbekümmertheit von Blasi, und Guy Debord war intelligent genug, einen, der diese Unbekümmertheit, freilich auf einem anderen Niveau, aufzubieten wußte, Asger Jorn, nicht zum Opfer zu wählen. Dieser setzte Debords poetisch-marxistischer Melancholie seine Malerei entgegen, der er den gleichen Status zubilligte wie Debord der Kritik. Da wo Debord dem traditionell für kontingent Geltenden (Stimmungen, Situationen, Langeweile) nicht nur Gesetzmäßigkeiten ablesen wollte, die es mit Metroplänen aufnehmen können sollten, sondern diesem Kontingenten sogar über politisch begründete Eingriffe begegnen wollte, plädierte Jorn für eine Praxis, die er vielleicht etwas zu naiv in der Malerei gefunden haben wollte, und die sich der Kontingenz stellte. Die Opferung der SPUR blieb kein Einzelfall, im Schlußkommunique der SI blieben nach zahllosen Ausschüssen und Abrechnungen „zwei, drei ruhmreiche Generäle und siebzig Waschlappen“9 übrig, wie Roberto Ohrt erklärt. Jorn wurde nicht ausgeschlossen; er verließ die SI auf eigenen Entschluß, blieb aber Debord und der Organisation – die Ausnahme – freundschaftlich verbunden.

    Ein vernunftkritikkritischer Traum

    In den späten 30ern sollen Pariser Surrealisten unter der Führung von Georges Bataille sich vorgenommen haben, im Dienste der Kunst und im Rahmen eines öffentlichen Rituals in einer Kirche einen Menschen zu opfern. Bald fanden sie einen armen Schlucker, der sowieso nicht mehr wollte und den sie unterschreiben ließen, daß er aus eigenem Antrieb aus dem Leben geschieden sei und keinerlei Rechtsansprüche für ihn oder seine Hinterbliebenen aus der Opferung entstünden und außerdem die verantwortlichen Künstler juristisch exkulpiert seien. Dafür gaben sie ihm etwas Geld für Begräbnis, Hinterbliebene und Henkersmahlzeiten. Als Alexandre Kojève davon erfuhr, lachte er Bataille aus und sagte etwa: „Ihr seid wie Taschenspieler, die sich selber Taschenspielertricks vorspielen lassen, um an Magie zu glauben …“ Die Aktion wurde gestoppt.

    Der Trauminhalt

    Bezeichnenderweise weiß ich nicht, ob ich diese Story gelesen oder geträumt habe. Ich glaube schon, daß ich sie gelesen habe, sogar zu wissen wo. Aber diese Story steht nicht da, wo ich sie gelesen zu haben glaubte, jedenfalls nicht so. Bataille-Forscher haben so nicht von ihr gehört. Beim Bataille-Thanatographen Mattheus finden sich immerhin zwei Hälften der Story weit auseinandergezogen: Als die Geheimgesellschaft „Collège de Sociologie“ gegründet werden soll, fragt man Kojève, ob er mitmachen wolle, und bekommt die entsprechende Antwort; an anderer Stelle wird eine Opferung erwogen, um den Zusammenhalt der Gruppe durch ein gemeinsames Verbrechen als Opfer zu besiegeln, ganz explizit also und ohne Illusion über den rein gruppendynamischen und gruppengesetzstiftenden Charakter des Opfers also; angeblich soll sich sogar – laut Caillois – Batailles Geliebte Laure freiwillig gemeldet haben. Doch all das hatte ich noch nicht gelesen, als ich mich selbst zum ersten Mal einem Anderen die Geschichte erzählen hörte. Vielleicht habe ich sie also doch geträumt. Erklärbar wäre so ein Traum durch eine Recherche, mit der ich zu dem Zeitpunkt, als sich mir die Story einprägte, tagsüber beschäftigt war: der geistesgeschichtliche Weg von Linksradikalismus über Vernunftkritik zu ästhetizistischem Neokonservatismus und Rechtsradikalismus. Zu meinem Material gehörte etwa Jacob Taubes’ Buch Ad Carl Schmitt – Gegenstrebige Fügung10, in dem Kojève recht anschaulich geschildert wurde. Bataille spielte ebenfalls eine Rolle, weil seine Schriften in deutscher Übersetzung von dem Neo-Rechten Gerd Bergfleth für den Matthes-&-Seitz-Verlag herausgebracht wurden, der natürlich auch in dieser Recherche vorkommen mußte. Es wäre also möglich, daß ich nur die Wahrheit („true meaning“) der Vernunftkritik geträumt habe, jener von enttäuschten Linken veranstalteten Opferung ihrer Wahrheit, der Vernunft, die sie als mörderisch erkannt haben, um sich genau dem hinzugeben, was an der Vernunft mörderisch ist: der Tat, der Konsequenz, dem blinden Gesetz, der Irrationalität, die entsteht, wenn das theoretisch als richtig Erkannte wirklich leben, wirklich eingreifen soll, wenn es exekutiert werden muß. (Vor der Vernunft gab es die [legitimierte] Tat nicht, nach der Vernunft gibt es nur noch Tat.) Vor drei Tagen, lange nach der Niederschrift dieses Textes, traf ich einen Literaturwissenschaftler und Kenner, der die Story auch so kannte, wie ich sie geträumt hatte, und auch nicht wußte woher.

    Legitimität des Illegitimen

    Das Problem, das durch eine Opferung – welcher der beschriebenen Art auch immer – gelöst werden soll, ist auch das der Konstruktion von Legitimität für diejenigen sich formierenden Künstler und Subkultur-Cliquen, die allen naiven Glauben an Authentizität und Wirkung verloren haben. Angehörige der Punk-Generation konnten sich ganz „natürlich“ in nicht nur Debords artifiziellen Stalinismus hineindenken. Wir wollten nicht nur nicht in das frigide Gefängnis der Künste eingesperrt sein, wir hatten unseren Stalinismus in maoistischen K-Gruppen gelernt, aber irgendwann die Begeisterung für Maos Gedichte verloren. Die durchaus richtige Beobachtung, daß die Geschichte der SI die eines einzigen Scheiterns notdürftig als leninistisch maskierter Elitismen eines brillanten Kopfes war, der seine Brillanz lieber im Sozialen des Kollektivs austragen wollte (aus Gründen, die wir nur zu gut verstehen konnten), zugunsten einer anderen künstlerischen Praxis, die sich in der Aktion, im Leben verwirklichen wollte, aber auf Kosten derjenigen, die Staffage oder Material eines Sozialen darstellten, das noch nicht darauf vorbereitet war, wie ein Gedicht behandelt zu werden und nur aus versagenden Menschen bestand, dieser Einwand war ein Gedanke, den wir als bürgerliche Spielverderberei abgetan hätten. Debords Satz „Der erste moralische Mangel bleibt die Duldsamkeit in allen ihren Formen“ könnte mich noch heute begeistern, wenn ich nicht seit Jahren in kollektiver sozialer Praxis die Lektion immer wieder hätte lernen müssen, wie Duldsamkeit mit Verstehen – jenseits bloß liberal-höflicher Toleranz – zusammenhängt (im funky Nebeneinander der individuellen Geschwindigkeiten). Tatsächlich sperrt diese Duldsamkeit das, was wir hier Poesie nennen, für immer im Reich des Ungefähren ein, das sogar laut z. B. Rilke seine führenden Vertreter immer abgelehnt haben. Ein Ende dieser Opposition von grausamer Reproduktion des Gesetzes in allen Akten der Verwirklichung und wirkungsloser Beliebigkeit wäre wohl nur herbeizuführen, wenn man die Subjekt-Objekt-Beziehung Poesie/Kunst versus Welt/Politik aufzulösen lernen würde.

    Büro, Büro

    Die Mechanismen, die wir als poetisch zu empfinden gelernt haben, sind, wie Adorno noch bedauernd ahnte, längst zu ihrem Vor- wie Nachteil in ein Soziales ausgewandert, wo auch nicht mehr die auf den zweiten Blick terroristische Honesty der 70er regiert. Die Voraussetzungen dieses Sozialen sind tribalistische Politik, Industrialisierung und Digitalisierung. Ein Indiz für den Beginn dieser Entwicklung war ja die Konjunktur der Künstlergruppen in der klassischen Moderne, der Band in der Pop-Musik und schließlich die gegenwärtige Tribalisierung westlicher Gesellschaften. Die Ausbeutungsverhältnisse und Rituale, die über das Künstler-Ich, die Gruppe, ihren Weg genommen haben, diese Voraussetzungen von Produktion poetischer Stimulanz sind in industrielle Verhältnisse eingezogen. Nicht die Produkte haben sich gewandelt in der Kulturindustrie, sondern in „normale“ Arbeitsverhältnisse sind „poetische“ Strukturen eingezogen: Die Konjunktur, die der Zusammenhang der Opferung in Kunst/Kulturproduktion, der menschlichen Kosten, die bei der Entstehung „großer Werke“ anfallen, zur Zeit erlebt – von Theweleits Buch der Könige bis zum Interesse der Massenmedien an Schicksalen wie dem der Camille Claudel – hängt damit zusammen, daß ein immer größerer Bevölkerungsteil heute von seiner „Kreativität“ lebt. Von und in Produktionsverhältnissen, wo seine Fähigkeit, Stimulanz zu erzeugen, gefragt ist und bald wahrgenommen wird als die Umwandlung, Verdichtung, Härtung von anderer, möglichst noch unbearbeiteter, gerne „authentisch“ genannter Stimulanz. Also: von mehr als Staffage in Material, um diese geniale Formel ein letztes Mal zu bemühen. Denn in ihr steckt ja die von Künstlern seit der Romantik als den ersten wahrgenommene Industrialisierbarkeit des Poetischen und der besondere Genuß, den sie beim Anblick eines „human being as a automaton“ (Paul Bowles) empfanden. Dieses Produktionsverhältnis, das früher das der Künstler war, findet sich heute in vollendeter Industrialisierung in all den Medienberufen, bei denen es vordergründig betrachtet und für Außenstehende gar nicht darum geht, etwas Neues oder Stimulanz herzustellen. Schon 1918 fiel Arthur Cravan auf, daß auf der Straße nur noch Künstler herumlaufen. Keine Chance, noch einen Menschen zu treffen. Nicht zuletzt auch wegen der von keiner Sozialgesetzgebung, keiner Versicherung oder Krankenkasse bedachten oder abgedeckten Risiken der industrialisierten Stimulanzproduktion wurde ein Buch wie Theweleits Buch der Könige als Vorstudie zu einem Kapital der Kulturproletarier notwendig und so erfolgreich. Change wäre in diesem Zusammenhang als Vorstudie für eine neue Staffel der erfolgreichen Serie Büro, Büro zu betrachten. Diese Komödie ist heute Büroalltag in Werbeagenturen. Und da dort das Defizit an Legitimierungen meist noch viel größer ist als nach dem Verlust des Glaubens an die Poesie, sind Opferungen ganz anderer Art vonnöten. Die alte Büro-Intrige ist eben auch raffiniert geworden und gehorcht nicht mehr den alten Gesetzen. Die Doppelnatur der Opferung in der modernen Kunst – Legitimierung durch erwiesene Wirkung von Kunst nach außen, Einschwören des kleinen Kollektivs auf eine Linie nach innen – wirkt wie das Modell für den Führungsstil des durchschnittlichen Creative Director, die „Manipuläschn“ hat über den Weg der Imitation von Unbefugten in ihre ursprüngliche Sphäre zurückgefunden, die Unbefugten wurden eingestellt. Blasi hat eine Medaille vom Art Directors Club gewonnen. Die Nachfolger von Fery heißen aber im geschichtlichen Maßstab Otto Mühl oder Erich Honecker. Warum hat Kojève wohl so laut gelacht? Weil es ja wirklich zum Lachen oder so lächerlich ist?

    1. Alfred Hitchcock: Rope – Cocktail für eine Leiche, 1948, nach dem Theaterstück von Patrick Hamilton von 1929. Darsteller: Farley Granger, James Stewart, John Dall. ↩︎
    2. Donald Spoto: Alfred Hitchcock – Die dunkle Seite des Genies. München 1986, S. 360. ↩︎
    3. Slavoj Žižek: Looking Awry – An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture. Cambridge, MA und London 1991, S. 74. ↩︎
    4. Bob Dylan: „Absolutely Sweet Marie“ auf Blonde On Blonde, CBS 1967. ↩︎
    5. Oswald Wiener: „Einiges über Konrad Bayer“. In: Die Zeit, 17.2.1978 (nachgedruckt in: Verena von der Heyden-Rynsch (Hrsg.): Riten der Selbstauflösung. München 1982). ↩︎
    6. Ute Nyssen: „Zu einigen Stücken von Wolfgang Bauer“. In: Wolfgang Bauer: Die Sumpftänzer – Dramen, Prosa, Lyrik aus zwei Jahrzehnten. Köln 1987. ↩︎
    7. Situationistische Internationale 1958–1969. Hamburg 1976. ↩︎
    8. Fritz Lang/Thea von Harbou: Doktor Mabuse der Spieler. Spielfilm 1923. ↩︎
    9. Roberto Ohrt im Gespräch mit dem Verfasser in: Texte zur Kunst. Vol. 1. Köln 1990. Bezogen auf Guy Debords Text Die wirkliche Spaltung in der Internationalen. Hamburg 1978. ↩︎
    10. Jacob Taubes: Ad Carl Schmitt – Gegenstrebige Fügung. Berlin 1988. ↩︎
  • The Kids Are Not Alright, Vol. IV – Oder doch? Identität, Nation, Differenz, Gefühle, Kritik und der ganze andere Scheiß

    Ich liebe es, wie das Zeug bei euch Verwirrung stiftet.
    Greg Tate über die Hip-Hop-Rezeption in Deutschland

    Differenz verbindet.
    Fredric Jameson, Postmodernism, The Cultural Logic Of Late Capitalism

    Ein Volk regeneriert sich durch Emanation spontaner Elemente.
    Gottfried Benn

    I

    1. Malcolm in Rostock

    Rostock erlebte ich in Österreich. Das hatte den Vorteil, daß man am Kiosk nicht nur den Spiegel kaufen konnte, der die dortigen Ereignisse zur „Wut auf den Staat“ verklärte, der alten polizeilichen Strategie folgend, den Unterschied zwischen Anarchisten und Nazis zu verwischen (dem die juristische Strategie entspricht, die Angreifer nach den gleichen Paragraphen abzuurteilen wie die Verteidiger: Angriff auf Polizeibeamte und nicht Mordversuch an Asylbewerbern), sondern auch das österreichische Spiegel-Pendant, das Nachrichtenmagazin profil, das auf das Titelbild geschrieben hatte: „Die deutsche Schande“. Den Österreichern war noch etwas anderes aufgefallen, das man in keiner deutschen Zeitschrift lesen konnte: Einige der Angreifer hätten Malcolm-X-Kappen getragen. Mit dem so geschärften Blick konnte man unter den durch die Dunkelheit huschenden Typen, die einem Abend für Abend als Übertragung aus Quedlinburg, Wismar, Schwerin und anderen O-Orten, aber eben auch aus Mannheim-Schönau schemenhaft ins Wohnzimmer übertragen wurden, bald einen repräsentativen Querschnitt der bekannten jugendkulturellen Typen erkennen: langhaarige Dinosaur-Jr.-Typen, Homies mit allen Arten von Kappen, bunte Techno-Typen – kurz all die, für und über die ich seit Jahren schreibe, in der mal mehr, mal weniger angezweifelten Vorstellung, sie seien entweder so etwas wie Subjekte korrekter politischer Kämpfe oder Symptome des jeweils neusten Stands der Dinge. Mein und anderer Leute Schreiben war geerdet in der Vorstellung, daß in bestimmten Dresscodes und bestimmter Musik Inhalte, die „heiligen“ Inhalte der Auflehnung, die Marxschen „Träume von einer Sache“ und die Marcusschen Lippenstift-Spuren besser geschützt und aufgehoben sind als anderswo (zum Beispiel in der rationalen Formulierung, der Propaganda, der Soziologie, dem Verbesserungsvorschlag, dem Dialog mit dem System etc.).

    2. Eine Eleganz des Widerstands

    Daß jede Jugendkultur von Klassenverhältnissen, regionalen und politischen Besonderheiten, Marktverhältnissen und Staatsverhältnissen mitcodiert ist, ist klar und oft am Detail demonstriert worden. Wie Jugendkultur gerade die feinen Unterschiede klassenspezifischer Geschmacks-Praxis reproduziert, ist vielleicht noch nicht oft und deutlich genug dargelegt worden. Dennoch kann gerade ein Empfinden von Eleganz, sozusagen „metaphysischer“ Eleganz, als Zeichen eines Wissens aus vielen Lebenserfahrungen, die sich in Produkten und Sprachen der Jugendkulturen äußern, nicht herausgelöscht und als klassenspezifischer Geschmack und jugendspezifische Frechheit allein nicht hinreichend erklärt werden. Etwas, das als Bedeutung vielfach ruiniert, als Form verunstaltet, als Mitteilung mißverstanden immer wieder unvorhergesehen auftauchen kann: eine radikale Fremdheit und ein totales Nichteinverstandensein, das man bei Robert Johnson, Eric Dolphy, Just Ice oder Ninjaman ebenso heraushören kann wie bei Captain Beefheart, Laura Nyro, Annette Peacock oder Peter Hein. Das man bei den großen politischen Bohemiens dieses Jahrhunderts, von Carl Einstein bis Franz Jung, Arthur Cravan bis Guy Debord liest und das sich oft selbst nicht anders zu helfen weiß, als sich für romantisch, illusionär, falsch zu halten oder vor sich selbst zu Parteipolitik und Naturwissenschaften zu fliehen. Greil Marcus beschreibt diese Eleganz als überhistorisch menschlich, ich sehe in ihr die Spur einer immer auch historischen Reibung, wo einer im Recht war gegen die auch konkrete Seite der Verhältnisse. I fought the law …

    3. Eine seltsame Substanz …

    Was man mit dieser Eleganz macht, wie man sie noch in den spätesten und ruiniertesten Verfallsformen wiedererkennt und wie, ob und wo sie sich regeneriert, können wir jetzt nicht wissen. Es ist nur wichtig, diese seltsame Substanz, die vor unseren Augen immer in ihre eigenen Verklärungen zerfällt, als einen Ausgangspunkt, einen mathematischen Nullpunkt mitzudenken, im Kopf zu behalten, wenn wir uns mit möglichen Katastrophen jugendkultureller Codes und den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien beschäftigen.

    4. … in der Hood

    Mit einem Kollegen und zwei in Deutschland lebenden Afro-Amerikanern sehe ich den Film Boyz N The Hood von John Singleton, um eine Rezension für konkret zu schreiben, in der ich unter anderem gegen eine bestimmte zu erwartende linke Kritik präventiv behaupten werde, daß die von dem Film betriebene Glorifizierung der schwarzen Familie, insbesondere der Rolle des Vaters aus zwei Gründen zu rechtfertigen ist: erstens, weil die Kritik der bürgerlichen Kleinfamilie nicht für jede Familienform auf der ganzen Welt automatisch gilt, und zweitens, weil eine Maßnahme wie „Erziehung“, „Identitätsbildung“ etc. immer von dem Kontext abhängt, in dem sie stattfindet. Die Kritik der Waffen rechtfertigt noch nicht den unbedingten Pazifismus, die Gewaltlosigkeit. Identität und Familie sind Waffen, böse Waffen, aber es gibt Lagen, wo man sie einsetzen muß. Es hilft nur Identität, wo Identität herrscht.

    5. 5%er und Skins

    Nach dem Film sitzen wir beisammen und trinken Cappuccini. Es ist Mittag, und die kulturisierten Monaden floaten freundlich an uns vorbei. Einmal mehr geht es um die sozialen Ursachen für Bandenbildungen und um Style und semiotische Territorien, in und mit denen gekämpft wird. Die beiden Afro-Amerikaner lassen sich von uns die Geschichte der Skinheads erzählen, von den englischen Anfängen, über die ersten deutschen Übernahmen im Zuge der Punkbewegung, über linke und rechte Skins und die Zoni-Skins, die unserer Meinung nach erst rechts waren und dann die Skinhead-Uniform fanden, nicht umgekehrt wie bei vielen Westskins. Nachdem wir unsere Ausführungen abgeschlossen haben, antwortet der Jüngere der beiden: „Das ist ja exakt dasselbe wie die 5%er.“ Er war selber als Teenager von 5%ern rekrutiert worden, war kurz Mitglied der Organisation, die ihm durch die Pubertät half, durch Schießereien an Schulen und Verlusten von Freunden an die vielzitierte urbane Gewalt. Bis er schließlich nach Deutschland entflohen war.

    6. Tribes

    Die 5%er und die Skins – kein deutscher Journalist, der einigermaßen bei Sinnen ist, würde wagen, sie zu vergleichen. Dennoch gibt es natürlich Gemeinsamkeiten zwischen allen Notbandenbildungen. Zur Zeit wird ja auch in der deutschen Öffentlichkeit versucht, den subkulturellen oder gegenkulturellen, ja arbeiterkulturellen Anteil an der Skin-Geschichte zu klären und von dem Rechtsradikalismus zu trennen, für den Skins bekannt sind. Das geschieht zum denkbar falschesten Zeitpunkt. Nicht nur, daß sich der Versuch, Arbeiterjugendkultur über Skins zu rekonstruieren, heute von alleine disqualifiziert, anders als circa ’79 und dann wieder sichtbar ’84, als auch linke und apolitische Skins gegen die kleinbürgerliche Hegemonie in der Jugendkultur antraten: Es ist auch nicht viel davon übrig, und die immer schon vereinfachende Gleichung Skins=Nazis, die noch nie gestimmt hat, trifft heute ja fast zu. Auf der anderen Seite stehen die 5%er: eine tribalistische Elitetruppe des Black Nationalism, die sich über Geheimlehren, Zahlenmystik, den Glauben an den Original Man aus Afrika, den Asiatic Black Man definieren, gegen den weißen „Mystery God“ aussprechen – dafür darf sich jeder 5%er God nennen –, ihre Frauen Earths und ihre Kinder Seeds nennen und ansonsten den religiösen Wahnsinn des Elijah Muhammad nachbeten. Doch als Ergebnis bringen sie Verfeinerungen und Erweiterungen der Hip-Hop-Zeichensprache hervor, erobern nach und nach die Dominanz in der Rap-Kultur der Ostküste und werden zum Modevorbild für Jugendliche in aller Welt mit ihrem afrocentric Dresscode. Skins in Deutschland spielen die schlechteste Musik der Welt ein, hauen Leute tot, und alle typischen Erkennungszeichen eines jugendkulturellen Tribes sind bei ihnen nur in der denkbar rudimentärsten und unentwickeltsten Form vorhanden. Dennoch müssen sie als jugendkultureller Tribe gelten: Regenwurm und Löwe sind beide Tiere.

    7. Unüberhörbare Inhalte

    Anfang ’93 treten die Brand Nubian, die populärste 5%er-Band in L.A., bei einem Benefit für aidskranke Kinder auf. Als sie am nächsten Tag erfahren, daß sie in einem wichtigen schwarzen Schwulenclub aufgetreten sind, distanzieren sie sich von der Show, Homosexualität sei nun aber das Letzte, womit sie in Verbindung gebracht werden wollen, schließlich seien sie für den „natural way“. Kurz zuvor war eine Erschütterung durch die Welt der Dancefloor-Musik gegangen, als der Dancehall-Reggae-Nachwuchs-Star Buju Banton einen aggressiv schwulenfeindlichen Hit hatte. Normalerweise achten Tanzende nicht auf Texte. Aber schon Hip-Hop hatte Leuten Inhaltlichkeit aufgezwungen, die sich freiwillig nicht um Verhältnisse scheren würden, die ihrem Leben so unähnlich sind. Und diese Inhalte sind nicht nur für Hedonisten und Spießer unangenehm, sie sind auch für Linke unangenehm und alle, die in Jugend- und Gegenkulturen eine politische Perspektive gesehen haben. Und sie dringen selbst durch so schwer verständliche Sprachen wie jamaikanisches Patois.

    Wenn Hip-Hop schwulenfeindlich sein kann, wenn die alten Kriterien für Befreiung wie der Tabubruch, das spontane Ereignis, der Rausch umstandslos von Nazis übernommen werden können, dann scheint es ja angezeigt, von diesen Kategorien Abschied zu nehmen und Hip-Hop und Raggamuffin nur noch als Symptome falscher Verhältnisse zu lesen. Ich habe ersteres in der ersten Fassung dieses Textes in Spex 11/92 getan, darüber hinaus versucht, auch frauen- und schwulenfeindliche Texte, Mord- und Vergewaltigungsphantasien in einen Kontext zu stellen. In diesem Text, der ursprünglich auf den allzu vertrauensseligen Umgang mit Begriffen wie Revolution, Staatsfeind etc. im Zusammenhang mit Pop-Kultur in Spex bezogen war und dann von Rostock und seinen Nachfolgern durchkreuzt wurde, forderte ich, vom Konzept Jugendkultur mit allen angegliederten Unter-Ideen wie Pop, Underground, Dissidenz durch symbolische Dissidenz, Tribalismus, Revolte, Abgrenzung etc. zunächst mal Abschied zu nehmen. Sie scheinen nicht mehr in der Lage, die fundamentale Differenz, die allen Projekten zugrunde liegt, die wir je in jugendkultureller Praxis gesehen haben, festzustellen: den Unterschied zwischen Nazis und ihren Gegnern.

    II

    8. Der schlechte Zusammenbruch

    Was sich seit 1990 in der ganzen Welt abspielt und in Deutschland auf besonders fiese Weise gespiegelt und verstärkt wird, ist die Zuspitzung der Bewaffnung mit Identitäten und immer mehr Ausbrüche von Identitätskriegen, die im Gegensatz zu früheren Style Wars nicht nur semiotisches Territorium umkämpfen. Es ist der schlechte Zusammenbruch von Verhältnissen, deren guten Zusammenbruch alle Ideen von Rebellion und Dissidenz, so wie sie in Jugendkulturen aufgehoben waren, als Utopie formuliert hatten. Als deren Vorausschein empfand man unausgesprochen das Ereignis (Konzert, Trip, Rave, Festival). Das Ereignis ist zwar nicht an die Rechten gefallen, aber in Zeiten des falschen Zusammenbruchs von Ordnung ein protofaschistischer Zusammenhang geworden.

    9. Kommunikation unangepaßter Idyllen

    Pop z. B. galt uns im günstigsten Fall als ein Kommunikationssystem, das nicht abgehört werden konnte und das für einen schnellen Austausch von Nachrichten von einer gelebten oder nur erträumten Eleganz der Existenz sorgte. Der Jugendliche oder der Bohemien, der angeschlossen war, lebte in den Metropolen des Westens, aber „seine Lebensform umspielte die kommende, trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer. Er steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklassen. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause“ (Benjamin). Er ist der „Fremde“ (Simmel) und da er noch mit einem Bein draußen steht, kommuniziert er mit einem Draußen, dem schwarzen Weltghetto, der 80% Weltbevölkerung, die innerhalb der Festung Metropole nicht wahrgenommen werden kann, ohne dafür edle Motive zu haben. Er ist neugierig, und ihn erreichen die Beats, oft auf den Umwegen über weiße und mitteleuropäische Imitate. Seit Hip-Hop aber fordert das schwarze Weltghetto eine inhaltliche Auseinandersetzung, es fordert mehr als die Selbstverständigung zwischen den jungen Metropolenbewohnern leisten kann: die Überwindung der Weltsegregation zwischen westlichen Metropolen.

    10. Jugend als Markt- und Politiksubjekt

    In Amerika erfand man in den fünfziger Jahren das Konzept Jugend. Es war ein kapitalistisches Konzept, ein neuer Markt. Dieser Aspekt ist dem Konzept Jugend nie verlorengegangen: Es blieb ein kapitalistisches Konzept, aber es war trotzdem in der Lage, in einem progressiven und begrenzt antikapitalistischen Sinne geschichtsmächtig zu werden – insofern war es auch als Gegenbeispiel zu allen Thesen von der totalisierenden Wirkung des Kapitalismus zu gebrauchen. Zur gleichen Zeit und auf verschlungene Weise verbunden damit entstand die Bürgerrechtsbewegung der amerikanischen Schwarzen. Rosa Parks’ Weigerung, ihren Platz in einer für Weiße reservierten Sektion in einem Bus aufzugeben, und der Ruhm von Elvis Presley gehören zusammen: In beiden Fällen melden sich neue historische Subjekte. So wie sich in Jugend das kapitalistische System reformierte, so reformierte sich in der Bürgerrechtsbewegung und dem mit ihr verbundenen liberalen Schub die parlamentarische Demokratie der USA mit ihren hehren Gleichheitsgrundsätzen. All jene heute umkämpften und bedrohten bürgerlichen Freiheiten stammen aus dieser Epoche. An ihrem Ende steht, wie bei jedem Reformismus, der erste Katzenjammer, der zur Radikalisierung führte: bei den Trägern des Konzepts Jugend ebenso und zur gleichen Zeit wie bei den enttäuschten Vertretern der Bürgerrechtsbewegung.

    11. The White Negro

    Norman Mailer hatte schon 1957 die beiden Konzepte in seinem Essay „The White Negro“ zusammengedacht, der noch heute umstrittene Diskussionsgrundlage für den Zusammenhang zwischen schwarzer amerikanischer Kultur und amerikanischer Jugendkultur darstellt. Selbst Eldridge Cleaver widmet ihm in Soul On Ice mehrere Seiten freundlicher Beachtung. Doch auch Mailer, der in der Identifikation der Beatniks mit schwarzen Künstlern eine Identifikation mit amerikanischen Werten schlechthin sah, konnte nur generell „Neger“ wahrnehmen. Auch er war gegenüber der Komplexität blind, daß illegitim kulturisierte weiße Mittelklasse-Dropouts sich für die Musik und den Lebensstil der neuen schwarzen Mittelklasse-Jugend (Bebop) begeisterten, während in anderen, weniger literarisierten Bereichen der US-Kultur die Vermischung der schwarzen Populärkultur mit nichtschwarzen Jugendkulturen in einem viel direkteren Sinne als reine Imitation stattfand (im Süden, beim Proto-Rock’n’Roll).

    12. Bio- und Soziologie

    Die Kategorie Jugend verknüpft auf problematische Weise Biologie und Soziologie. Soziologisch ist der Jugendliche „draußen und frei“, „footlose and fancy free“, weil er nicht „richtig“ arbeitet, niemanden ernähren muß, biologisch, weil die Lebenssäfte frischer sind und die allgemeine Auszehrung und Versaftung, die ja eine gesellschaftliche und eine biologische Seite hat, ihn noch nicht um sein primäres Menschentum gebracht hat. Auch hier eine bezeichnende Nähe zur Kategorie der „Rasse“, dem anderen großen Kompositum aus biologistischen und sozialen Zuschreibungen (mit dem Unterschied, daß „Jugend“ auch ein medizinisch objektivierbares Faktum darstellt, „Rasse“ hingegen nicht). Aufgeklärte und Linke machen an dieser Stelle den Fehler, mit der Problematik der beiden Kategorien auch die darauf aufbauenden sozialen Realitäten mit dem Bade auszuschütten. Henry Louis Gates Jr. sagte neulich ganz richtig im Radio: „Klar ist ‚Rasse‘ eine soziale Konstruktion, aber auch Pasta ist eine soziale Konstruktion, und trotzdem schmeckt sie.“ Beide – „Rasse“ wie Jugend – werden sowohl als Zuschreibung, Entmündigung und Zwang eingesetzt, als auch, um im Moment des Mit-einem-Fuß-in-der-Tür-Stehens, Forderungen zu formulieren, beide leisten das, was Identitäten leisten können: Sie sind wie Baseballschläger und werden in der Regel von der Macht benutzt, aber wenn das der Fall ist, ist man auch gezwungen, sich mit ihnen zu wehren.

    13. Neue Subjektivitäten

    Am Ende der Radikalisierung des schwarzen Widerstands wie der Jugendkultur und wiederum ihres Scheiterns entstehen neue politische Subjektivitäten: Feminismus und Schwulenbewegung, in ihrem Gefolge im Laufe der Siebziger Regionalismus, Mikropolitik, Bürgerinitiativen und Autonome. In Europa setzte sich nur schleppend gegen den orthodoxen Marxismus durch, daß es keine Haupt- und Nebenwidersprüche mehr gäbe, sondern gleichberechtigte. Die vielen neuen Subjekte der Geschichte erübrigen diesen ohnehin fragwürdig gewordenen Begriff. Daß der Kapitalismus all dies aushalten konnte und stärker wurde, ermutigt die Linke zu dem Zirkelschluß, daß all diese Bewegungen eben gar keine Geschichte gemacht hätten, weil sie sonst den Kapitalismus hätten abschaffen müssen. In Amerika aber mußte sich nichts gegen einen Marxismus durchsetzen, weil es keinen gab. Das sollte Folgen haben. Während sich in Amerika Race, Class, Gender, Youth, Sexual Identity zu allen möglichen und unmöglichen Koalitionen zusammenfanden und wieder abstießen, konnte hier die Perspektive nur Anti-Imperialismus heißen; die anderen politischen Subjekt-Positionen verkümmerten. Heute kommen sie über den US-, p.c.- oder EG-Nachbar-Import als windelweicher Multikulturalismus Marke Geißler oder Cohn-Bendit an: nicht als Selbst-Vertretung der Ausgeschlossenen, sondern als schadensbegrenzende Fußgängerzonen-Zivilgesellschafts-Verwaltungsmaxime, die über den herrschenden Kultur- und Fremdheitsbegriff den Nichtdeutschen eine Fremdheit und Differenz zuschreibt, die sie auf die Rolle von Repräsentanten von Andersartigkeit festschreibt. Einmal stigmatisiert geht der Umschlag vom positiven Stigma (bunt, Kebab, Folklore) zum negativen („rivalisierende Türkengangs“, „fremder Kulturkreis“ [Augstein], „Kanaken“) ganz schnell. Identität betrachte ich als Waffe, die dort, wo eine gewisse Form von Gewalt (u. a. Identität) herrscht, also Zugangsberechtigung zu Kultur und Kapital verteilt, zur Selbstbewaffnung unerläßlich ist. Nicht immer zu verhindern ist dabei der Exzeß, also entweder ein übertriebener Glaube an diese Identität oder der Verlust des Unterscheidungsvermögens zwischen rassistisch zugewiesener und „selbstbestimmter“ Identität. Ghettobewohner sind im höchsten Maße Komplexität ausgesetzt. Nicht nur, daß sie nicht über die Bildung und damit Lebensmittel, die Komplexität zu reduzieren helfen, verfügen, ihr Alltag ist darüber hinaus auch der wirklich komplizierteste, weil ungeordnetste, kontingenteste und durch Rassismus noch zusätzlich übercodierte. Rassismus ist ja nicht, wie vielfach behauptet wird, eine Reduktion, sondern das Gegenteil. Rassismus stellt der ursprünglichen, unklaren Selbstbeschreibung eine zweite öffentliche, offizielle Spiegelung zur Seite, die sich nicht abschütteln läßt. Diese Belästigung läßt sich tatsächlich mit dem vergleichen, was Jugendlichen in der Pubertät widerfährt: wenn der unklaren Selbstbeschreibung plötzlich von außen andere Zuschreibungen hinzugefügt werden und sich nicht abschütteln lassen.

    14. Innere Unordnung und äußere Ordnung

    Der Jugendliche und das Rassismus-Opfer haben also unter völlig anderen Voraussetzungen doch gewisse Erfahrungen gemeinsam. Dagegen bewaffnen sie sich mit Identität. Konventionellerweise geht man immer davon aus, Jugendrebellion und sogenannte Rassen-Unruhen, also Ghetto-Aufstände, würden Unordnung in ein ordentliches System injizieren. In Wirklichkeit wird nur die innere Unordnung, Mehrfachcodierung, Schizophrenie umgestülpt, auf der Bühne der Verhältnisse aufgeführt, die dort ordentlich aussehen, wo sie eben besonders gewaltsam verhindern. Dieses Umstülpen der inneren unbewältigten Komplexität und also Unordnung schafft in einem eine Ordnung, die der Identität ähnlich sieht. Die innere Unordnung wird beim gelungenen Aufstand den herrschenden Verhältnissen zugemutet. In so einem Moment „richtiges Bewußtsein“ einzuklagen, also das, was erst nach der Überwindung der unordentlichen Komplexität, die den Gebrauch der gefährlichen Waffe Identität verlangt, kommen kann, ist absurd, es entspricht der Aufforderung an Gangmitglieder, keine Waffen zu gebrauchen, ohne ihnen einen Weg anzubieten, wie sie ihre Probleme ohne Waffen lösen können. Ein Problem ist natürlich, daß nicht nur unkontrolliert Waffen, sondern ebenso unkontrolliert Identitäten verkauft werden.

    15. Komplexitätsgenuß und Kulturfaschismus

    Wer einen Zugang zu Bildung und anderen Mitteln findet, die die Komplexität bewältigen helfen, kann nun die höhere Komplexität der frei gewählten Verhältnisse genießen: die Künste, den Widerspruch, das Paradox, aber auch das Ins-Blaue-Leben der Bohemiens, das die Grenze zwischen gelungener jugendkultureller Identität und bürgerlich-souveränem Komplexitäts-Genuß markiert. Wenn auf der Ebene des bürgerlichen Komplexitäts-Genusses, der auf der souveränen Verfügung von Mitteln wie Bildung, aber auch Distanzierungsmöglichkeiten beruht, wieder nach Reduktion und Identität geschrien wird, meist von im kulturellen Konkurrenzkampf sich bedroht fühlenden Fraktionen der Kulturbourgeoisie – wie von Syberberg und seinen deutschnationalen Anhängern oder von den Feinden des Datenüberflusses und den Kulturökologen –, entsteht Kultur-Faschismus. Es ist die reaktionäre Bewaffnung derer, die Angst um ihre Verfügungsgewalt um kulturelle Mittel oder ihre Partizipation an der Definitionsmacht haben und gleichzeitig in der gegenwärtigen Situation sich berechtigte Hoffnung machen, mit ihren alten Identitäts-Waffen wieder Macht zu erringen. Das rasante Tempo, in dem in den Zentralorganen der rechten Bourgeoisie bis vor kurzem Unaussprechliches aus dem Begriffsfeld des Rassismus und Nationalismus normalisiert wird, unterstützt diese Hoffnungen. Bezeichnend auch, daß bei der Identitätsbewaffnung der nunmehr von Komplexität sich bedroht fühlenden ehemaligen Komplexitäts-Genießer keine künstlichen, synkretistischen Identitäten in Frage kommen wie bei den Rassismus-Opfern (z. B. „fluid black identity“: Rasta-Elemente plus Punk-Rock und Siebziger Pimp-Style. Oder bei den französischen Afrikanern, die französischen Dandysmus mit Elementen aus Zaire verbinden), sondern nur alte nationale Mythen helfen. Wenn die jugendliche oder von Rassismus-Opfern betriebene Identitätskonstruktion sich nun mit der sekundären, bürgerlichen und faschistoiden Identitätskonstruktion in Bildern und Begriffen trifft, kommt es zu Phänomenen wie den Ost-Skins oder den rechten Jugendbündnissen der zwanziger Jahre. Diese Jugendkulturen bringen dann eine Menge von den umgestülpten Zerrissenheiten (bisher genannt: Ereignis, Rebellion, Aufstand, Revolte) als Energie in das faschistische Amalgam ein. Wer ohne primäre Not Identität verlangt, stiftet oder verehrt, ist ein Faschist. Da, wo Identitäten ohne primäre Not angehäuft werden, hat jemand etwas vor. Und zwar nichts Gutes.

    III

    16. Nation und „Nation“

    Rechts und links haben sich erstaunlich schnell geeinigt, daß die gegenwärtigen Tendenzen unter dem Blickwinkel zu lesen sind, dem sie den Namen Nation und Nationalismus (siehe auch seine „Wiederkehr“, „Persistenz“, „Resistenz“ etc.) gegeben haben. Nicht nur Hip-Hop spricht ausgiebig von Nations, nein auch andere Communities im Widerstand wie die sogenannte Gay Community schließen sich zu Organisationen wie Queer Nation zusammen. Ist die Semantik dieses wiederholt gesendeten Begriffs vielleicht auch nur zu einem kleinen Teil mitverantwortlich oder wenigstens symptomatisch für das, was in Rostock geschehen ist? Ist sie wenigstens ein Analogon zu Gorazde, Srebrenica und Sarajevo? Mir geht es gar nicht darum, die „Nation“ in Hip-Hop-Texten zu verharmlosen, wegzurelativieren oder zu ignorieren. Auch halte ich es für unzulässig, unter Anwendung eines alten Pop-Begriffs das Feiern einer „Black Nation“ ungefähr so zu behandeln, wie früher fragwürdige, strategisch eingesetzte Begriffe bei Punk-Rockern, Kim Fowley oder Slayer diskutiert wurden. Wenn. aber schwarze amerikanische Kultur immer nur in der Form diskutiert wird, wie sie bei Jugendlichen ankommt, kommt man zu fragwürdigen Verallgemeinerungen. In 5%er-Texten hat man es aber mit jugendkultureller Identifikation, Anti-Rassismus-Identität und etablierten schwarzen Nationalismus zu unterschiedlichen Anteilen zu tun, also mit Formen von Nationalismus oder Identitäten, die in meinem Modell an unterschiedlichen Stellen stehen. Des weiteren fragt sich natürlich, ob Queer Nation, irischer Nationalismus, die verschiedenen essentialistischen und strategischen Formen von Black Nationalism in den USA, baskischer Nationalismus, kroatischer Nationalismus, palästinensischer Nationalismus, Zionismus und Rostock-Nazis nicht lauter völlig verschiedene Dinge sind, deren gemeinsame Merkmale ein hilflos bis interessiert verwendeter Begriff sind, der Reste von alten Weltbildern stützen soll, deren Zusammenbruch das von ihm beschriebene vorantreibt. Die scheinbar supranationale, also vermeintlich harmlose Veranstaltung Europa dagegen wird zur Voraussetzung einer Festung gegen den Trikont, die schlimmer ist als jeder Nationalismus wäre und Rechten als Argument dient, günstige „nationale Besonderheiten“ wie das deutsche Asylrecht abzuschaffen. Ausländerfeinde verkloppen nie Franzosen, Amerikaner oder Engländer, selten Italiener und Spanier, am liebsten Schwarze. Auf der anderen Seite gibt es z. B. linke Vertreter des Black Nationalism, deren Ziele sich ungefähr mit dem decken, was der linke baskische Nationalismus will: Separation zum Zwecke der Entfaltung von „Eigenheiten“ und damit dann auch der Möglichkeit des Abbaus ihrer Forderung in der mythisierten Form von Nationalismus. Am Ende einer solchen Utopie stünde dann wieder die Möglichkeit aller möglicher Assoziationen. Nur tappen dann auch die baskischen linken Nationalisten in die Falle, wenn sie Glückwunschtelegramme nach Zagreb schicken. Oder wenn sie Chuck D. in einem Interview unbedingt auf die Gemeinsamkeiten der Basken in Spanien und der Schwarzen in den USA vereidigen wollen. Gerade der Falle dieses Begriffs zu entgehen, ist die Voraussetzung, Differenzen wahrzunehmen, die auch erläutern können, warum ein X-Clan-Text okay, ein Ice-Cube-Text widerlich ist (oder umgekehrt), obwohl sich die Betreffenden in „Unity“ einig wissen.

    17. Differenz und ihre Differenz

    Wenn Fredric Jameson schreibt, daß Differenz verbindet, bringt er die Vorstellung auf den Punkt, die in Pop einen offenen Kanal sehen und nutzen wollte. Das Wort Differenz hat durch die Konjunktur von „esprit“ – Multikultur und rechtem Differenzrassismus, die beide von Differenzen ausgehen, die unumgänglich oder natürlich sind und sich allenfalls in den vorgeschlagenen Gegenmitteln unterscheiden – eine traurige Karriere gemacht, die zum Zeitpunkt von Jamesons Niederschrift noch nicht abzusehen war. Differenz verbindet heißt, daß die in einem Kontakt festgestellten Differenzen den Kontakt überhaupt erst ermöglichen. In der Pop-Musik war immer die Gleichzeitigkeit großer emotionaler Vertrautheit und Unverständnis, Fremdheit, Sprachprobleme für die Bedingungen ihrer globalen Verbreitung charakteristisch. In dem Empfinden dieser Spannung stiftet die Differenz Verbindung, diese Verbindung in der globalen Pop/Underground-Kultur ähnelte in günstigen Momenten dem Rekonstruieren von politischen Subjektivitäten. Das hieß nicht, wie oft mißverstanden, Klasse durch Jugend zu substituieren, sondern durch global verbundene Differenzen von Jugendlichen und Marginalisierten eine einheitlich/unterschiedliche Koalition gegen Segregation und Ausblendung von Weltausbeutungszusammenhängen zu gründen. Dabei konnte niemand hoffen oder verlangen, daß sich die Beteiligten „verstehen“ über Klassen-, Bildungs- und Segregationsgrenzen hinweg, aber man konnte hoffen, daß sie sich nicht bekämpfen. Deswegen war der große Schock nicht die Aggressivitäit oder „Gewaltverherrlichung“ vieler Rapper, noch all die Dinge, die man noch unter schlechtem Benehmen und jugendlicher Frechdachsigkeit abtun oder schätzen konnte, sondern die Schwulenfeindlichkeit und der Sexismus, weil die sich explizit gegen einen anderen Koalitionspartner richteten. Das Ergebnis war, daß die Idee der Differenz nur auf den Campussen dieser Welt überlebte, wo sie leicht schrullig wurde und auf dem Kanalsystem der internationalen Pop-Musik in erster Linie nur noch Verwirrungen stiftet, die aber vielleicht immer noch vielversprechender sind, weil sie keine Ausschlüsse auf Dauer zulassen.

    18. Kulturindustrie und Indie-Idylle

    Dafür ist das Pop-Business ein zu leicht zu enternder Kanal, das ist nicht nur ein Nachteil, sondern auch ein Vorteil. Das Schallplattenbusiness (und andere Geschäfte mit dem neuen und stark veränderlichen Markt Jugend) war nicht so leicht unter Kontrolle zu kriegen wie andere Segmente der berühmten Kulturindustrie. Als Adorno/Horkheimer diesen Begriff lancierten – zunächst in den vierziger Jahren und unter dem Eindruck von Hollywood-Großproduktionen à la Cecil B DeMille einerseits und der Ideologie von New-Deal-Streifen andererseits – entstand eine ganz andere Variante dieses kapitalistischen Zusammenhangs, der ganz anderen Gesetzen folgen sollte als Hollywood, das sich bald an den Strukturen normaler Unternehmen orientieren konnte. Die Bereiche schwarze Musik, Jugendmusik, kurzlebige Musik, Trash etc. befanden sich in einer Produktionsanarchie, die alle möglichen Interventionspunkte für Vertreter irgendeiner Praxis offen ließ. Nicht nur arbeiteten kleine Firmen, egal ob sie nun idealistisch as in Indie oder frühkapitalistisch as in Sun Records motiviert waren, nach dem Prinzip, daß man nur über Extreme, Steigerungen und Wahnsinn konkurrieren konnte, sondern auch die Großen konnten von real existierender Jugendkultur immer wieder erfolgreich ratlos gemacht werden. Man ist allgemein der Ansicht, daß dies nach Hip-Hop auch noch mal im Falle der Post-Nirvana-Euphorie gelungen sei. Dies könnte allerdings ein Trugschluß sein, wenn man sich ansieht, wie Medienkonzerne – nicht mehr Plattenfirmen, die Majors von einst wären heute größere Indies – aufgebaut sind. Die enge Verknüpfung mit der Hardware-Industrie und die zunehmende Visualisierung mit der damit verbundenen weltweiten Einheitskultur schaffen die Grundlagen für eine Hollywoodisierung, der in Zukunft auch ein ohnehin fast nur noch als Geste vorhandener Underground kaum entschlüpfen können wird. Die Unterscheidung Mainstream/Underground habe ich schon vor Jahren vorgeschlagen aufzugeben, zugunsten einer Unterscheidung wie E/U, wobei E immer das ist, das egal auf welcher Ebene (sozialer, musikalischer etc.) mehr Beschäftigungszeit fordert. Nur ist die Inanspruchnahme der E-Position in dem Moment absurd, wenn die Komplexitäten eines alternativen Sozialen (Club, Underground, lokale Szene) nirgendwo anders hin mehr übertragen werden als an den Ursprungsort: Das ist das Drama der Indie-Idylle.

    19. Kann man viszerale Bedeutungen decodieren?

    Einen Unterschied macht dabei fast nur noch, was aus Amerika gesendet wird, besonders von schwarzen Amerikanern in allen möglichen Bereichen. Daß dabei hauptsächlich „Nation“ ankommt (als Differenz verbindet) ist in der Tat ebenso das Problem der Sendenden wie der Empfänger. Letztere müßten sich die Mühe machen, Nation und „Nation“ zu unterscheiden (um zu relativieren, anzuknüpfen, zu übersetzen, nicht um eines von beiden stehen zu lassen), erstere nicht wie Public Enemy den Deutschen zur Wiedervereinigung gratulieren, in der durch nichts begründeten Annahme, ein gleich buchstabiertes Wort habe die gleiche Bedeutung. Das ist aber auch der Grund, warum Hip-Hop so interessant ist: Den explicit lyrics, die so ja auch nur von Polizisten genannt werden konnten – bezeichnenderweise –, stehen Erschütterungen gegenüber, die eher viszeral wahrgenommen werden und ihre ganz eigene Explicitness besitzen. Diese sind genauso eindeutig/uneindeutig wie die Sprache, und sie können auch theoretisch eine linke Demo genauso mit Energien versorgen wie ein rechtes Pogrom. Wir wissen zwar, daß in sie sozusagen der Sound von Weltausbeutungsverhältnissen eingeschrieben ist: aber wie darauf zu reagieren ist, ist ihnen eben nicht eingeschrieben, sie sind dann nur Material und Dokumentation und Energie. Unterhalten und Diskutieren läßt sich mit Energie aber nicht, auch nicht mit einer noch so sozial geerdeten, sondern nur mit Leuten, die zu Diskussionen bereit sind. Dennoch ist die Gefahr eines Hijacken linker Bedeutung durch Rechte die geringere Gefahr als die, daß linke Bedeutungen oder auch nur dringend benötigte Waffen gegen ein sauerdummes Leben gar nicht mehr entstehen, wenn sich die Nation Of Islam Hip-Hop ganz unter den Nagel reißt und der Rest an die Plattenindustrie fällt. Die einzigen Rapper, die die Stimmung der Zeit 1993 einigermaßen auf den Punkt bringen, sind Gangster wie Dr. Dre und die Geto Boys, die zwar nur noch von gewalttätigem Chaos erzählen, aber so, daß keiner vergißt, was ihm Bilder aus Jugoslawien aus medienimmanenten Gründen nicht mehr sagen können: wie the other 80% leben. Die anderen, die darüber relevante Beats sendeten, waren Ice Cube, der „organische Ghetto-Intellektuelle im Gramscischen Sinne“ wie ihn James Bernard nennt, und die Brand Nubian, also die heftigsten und brachialsten Islamisten.

    20. Richtige und falsche Übersetzungen

    Das Funken von „Nation“ zu Dopebeats ist wirklich gefährlich: Wenn selbst die irischen Rapper Marxman, die sich auch noch explizit (sic!) Marxisten nennen, weder Marx noch der Dopebeat daran hindert, eine triefende, blutundbodelnde Nationalhymne zu dichten („So sad“), in der „our daughters“ vergewaltigt werden – die Konjunktur, die vergewaltigte Frauen für die Gründer von Nationen haben, läßt sich ja auch beobachten, wenn sie in den Medien nie ohne ihre ethnisch-nationale Zugehörigkeit genannt werden – und der berechtigte Zorn auf britische Besatzung zu einem Pathos führt, das sich kein Nation-Of-Islam-Rapper je getraut hat, wird etwas deutlich von den vielen Gefahren, afro-amerikanische Populär-Kultur (als „secondary oral culture“, wie sie Walter Ong beschreibt) bruchlos in falsche europäische Sentiments zu übersetzen.

    In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage an die Kritik, die u. a. Günther Jacob in Spex und Szene Hamburg mit der Forderung beantwortete, man müsse erst einmal alles 1:1 verstehen. Abgesehen davon, daß es höchst fraglich ist, wie ein 1:1 noch möglich ist, wenn es sich um durch Reime und Alliterationen, Jive-Konventionen und Doppeldeutigkeiten hochcodierter Texte handelt, die sich zudem auf sehr lokale Verhältnisse bezogen haben und sich Freunde und Familie als imaginäres Publikum vorgestellt haben, bevor sie die Kulturindustrie auf Weltreise geschickt hat, abgesehen davon fragt sich, was ist 1:1, wenn so offensichtlich eine Bedeutung ohne Worte ankommt: der Groove, die Beats, auch die Aggression, der Widerstand, das Zusammengehörigkeitsgefühl; und nur in Spuren das, was Erwachsenen so große Sorgen macht: Sexismus, Homophobie, Nationalismus und Antisemitismus. Heißt 1:1, das ideologische Substrat in den Mittelpunkt jeder Kritik an jugendkulturellen Hervorbringungen zu stellen, die ohne all das offensichtlich als Jugendkultur einwandfrei funktionieren? Denn in der beobachtbaren deutschen und zentraleuropäischen Hip-Hop-Youth-Culture gibt es nicht weniger Linksradikalismus, Widerstandsbereitschaft, Witz und Eleganz als in vorangegangenen und keineswegs mehr Sexismus und Homophobie als unter Punk-Rockern (mal von den ausgesprochen antisexistischen, aber keineswegs antirassistischen Anfangstagen abgesehen). Der Unterschied ist nur der, daß junge Leute – via Faszination – ständig und immer wieder gezwungen werden, sich die Gedanken von Rassismus-Opfern und Weltausbeutungsopfern anzuhören, statt sich „eigene“ Vorstellungen zu machen, in der sie nur als Profiteure der Weltordnung auftauchen konnten (wie in vielen Popkulturen der Achtziger, egal wie klar sie sich darüber waren, daß das „Safe European Home“ [The Clash] ein unverdientes Privileg darstellte). Die bloße Anwesenheit dieser Gedanken und ihre viszeral wahrgenommenen Begleitgeräusche ist trotz aller Mißverständnisse und Ausbeutung mehr wert als vorangegangene, globale Verhältnisse ignorierende Youth Cultures. Auf der anderen Seite ist die Tendenz, dem Zwang zur Auseinandersetzung, dem Zwang zum Inhalt (der von Rap nachdrücklich ausgeht), fast differenzrassistisch mit dem Argument, „die sind eben anders“, zu entkommen zu versuchen, eine konkrete Bedrohung für die Erfolge von Hip-Hop beim Überspringen von Segregationsschranken.

    21. Künstlichkeit und Identifikation

    Wenn man heute mit irgendwelchen linken schwarzen Intellektuellen in den USA redet, gibt es zum Thema des Black Nationalism kaum je ganz klare Positionen der Zustimmung oder Ablehnung. Jeder lehnt die Nation Of Islam ab, aber immer unter dem Vorbehalt, daß sie doch gute Arbeit gegen Drogen in der Community tue, keiner lehnt die Idee des Nationalism ganz ab, obwohl die meisten in irgendwelchen Dekonstruktions-Projekten stecken, bzw. gerade deswegen. Wer in einer Kultur lebt, wo die Künstlichkeit und Konstruierbarkeit von Identitäten Alltag ist und keine Linke, sondern nur Rechte noch an Person, Autor, Familie, Verantwortung, Authentizität etc. glauben, für den ist es auch kein Problem, sich einen relativen, strategischen Rahmen für eine Nation zu konstruieren. Nur daß man darüber nicht mehr mit Pop kommunizieren kann und schon gar nicht über die Domäne des Pops: Gefühle. Als Gefühl kann das Wort „Nation“ natürlich nur falsch ankommen (ganz abgesehen davon, daß es bei vielen Hip-Hoppern auch falsch gemeint ist). Und das hat eine Konsequenz für die Kritik von Pop-Musik: Schreiben über Musik und begleitende wie hervorbringende Erscheinungen kann sich nicht mehr die Geste der Identifikation leisten. Auch deswegen nicht, weil eben auch von rechts die ungenausten und emotionalsten Schichten von Rock-Emotionalität ausgebeutet werden, wenn auch keineswegs das komplexe Ganze der Pop-/Gegen-Kultur. Kritik muß den Materialcharakter ernstnehmen und Distanz wahren: Identifikation, Begeisterung, Gefühle und deren Organisation in Sozialem, das sich dann je nachdem Underground oder Club-Culture oder Briefmarkensammeln nennt, reicht nicht mehr, wenn es nur noch Mythen wahrnehmen kann. Pop-Kommunikation war immer ein Gemisch aus Mythen, Mythen-Konstruktion und -Dekonstruktion und dem, was ich objektive Spuren des Arbeitsprozesses im Material zu nennen pflegte. Dies aufzudröseln, war nicht so wichtig, solange der Mythos sexual ambiguity oder youth in rebellion oder black emancipation hieß. Seit er Nation heißt, geht das nicht mehr an. Das Erlebnis, der Ereignischarakter sind auch nach Rostock und Hoyerswerda ausgewandert. Dazu ist Pop-Produktion endlich von einer Kulturindustrie, von deren Ausmaßen selbst Adorno/Horkheimer nie geträumt haben, eingefangen, die Kulturprodukte nur noch als Software für eine viel wichtigere Hardware-Produktion betrachtet.

    Wohin aber mit den Gefühlen? Gefühle indizieren richtig und falsch schneller als Analysen. Denen, die, wie Jugendliche, Analysen nicht zur Verfügung haben, verhelfen sie zu schneller, überlegener Kommunikation, ist ja oft genug betont worden, daß Pop-Musik genau die Funktion hat, handlungsfähig zu machen, zu bündeln, was zu komplex im Teenagerhirn hin und her wabert, bzw. der Geste der umstülpenden Entlastung Würde zu verleihen. Doch darauf kann man sich eben nicht mehr verlassen, Gefühle sind heute wieder potentiell faschistisch, auch wenn man bei kaum einer täglichen Entscheidung auf sie verzichten kann. Sie müssen wieder zum Problem werden: Wenn die Dressur und die Konditionen je abgestreift würden, würde man sich gerade nicht besser fühlen. Platten von den Melvins oder Nicolette als Abstraktionen von der Gefühlsproduktion in der Pop-Musik sind weder Idyllen noch deren restlose Zertrümmerung. Man kann an ihnen hören, was übrig bleiben könnte, wenn man an all das nicht mehr glaubt – ohne blindwütig vergessen zu wollen, daß, wie und warum man daran geglaubt hat. Leer, frei und friedlich schweben über den erloschenen Vulkanen der Beat-Musik. (Was die bessere Techno- und Trance-Musik möglicherweise längst und vor jeder Reflexion angesteuert hat).

    22. Distanzierung von der Distanzierung

    Mit der Aufgabe der Identifikation gibt man aber auch eine politische Geste auf: die Distanzierung von der Distanz des wissenschaftlich, hochkulturell, herrschaftskulturell etc. geregelten bourgeoisen Kunstgenusses. Der Fanatismus vereint zwei Standpunkte: Widerstand gegen das Zur-Ware-Kommen, wie Žižek es formuliert, und bei bürgerlichen Jugendlichen und Bohemiens Negation der bourgeoisen ästhetischen Einstellung. Zwar ist die Nähe jedes (auch jugendkulturellen) Fanatismus zur Barbarei heute nicht mehr zu umgehen (durch Stiftung eines anderen, etwa sozialistischen Fanatismus vielleicht), aber die Distanzierung von der Distanz, als ein verzweifelt schief dialektisches Zur-Kunst-Kommen (das natürlich auch als ein Verfehlen enden muß, aber egal), ist etwas, was man nicht mit dem barbarischen Bade ausschütten darf. In gewissen Werken der Techno-Musik (die nie Werk-Charakter wollten), im Spät-spät-spät-abstrakten Rock (Melvins), in der genervten, aber zähkonzentrierten Anspannung großer Gangster wie Just-Ice und Dr. Dre und im abgehobenen Nochspäter-Jazz eines Wynton Marsalis (ein Kulturkonservativer, der sich in dieser Reihe unwohl fühlen würde) spürt man etwas von post-fanatischen Enthusiasmen.

    IV

    23. Metakritik

    Dies ist die vierte, fast völlig neu geschriebene Fassung eines Textes, dessen erste Version im November ’92 in Spex erschien. Die zweite existiert nur als Tondokument auf einem Cassettenrecorder in Hamburg, sie wurde als Rede auf dem Kongreß des Hamburger Wohlfahrtsausschuß gehalten. Die dritte erscheint in Soundtracks für den Volksempfänger, das Ralf Christoph und Max Annas für die Edition id-Archiv herausgeben. In der Zwischenzeit gab es eine Menge Reaktionen. Fast die komplette bürgerliche Presse stieß Seufzer der Erleichterung aus: Endlich sind wir dieses Gespenst los. Man begrüßte den „Abschied von der Jugendkultur“ (Originaluntertitel) so, als hätte Alice Schwarzer das augenblickliche Ende des Feminismus verkündet. Natürlich, um sich nur Zeilen später besserwisserisch auf die Schulter zu klopfen, außer Diedrich Diederichsen hätte sowieso kein Mensch mehr irgend etwas von Jugendkultur, Pop-Musik und Gegenkultur erwartet, das sei doch schon seit Altamont … Besonders dumm tat sich Bodo Morshäuser hervor, der seine Unfähigkeit, bei einer Diskussion in Frankfurt mit Dietmar Dath, Tobias Levin, Gertrud Koch und mir etwas zu sagen, mit der Unterstellung kompensierte, ich würde jetzt als Wendehals versuchen, den geschichtlichen Folgen der von mir selbst angezettelten Tanz-den-Mussolini-Kultur zu entkommen. Morshäuser, der schon damals nie viel gewußt oder mitbekommen hat, kann aber auch für zehn Jahre alte Verhältnisse keine Texte beibringen, die diese vage Erinnerung belegen. Alles weitere zum Denken dieser Epoche steht in „Virtueller Maoismus“: Richtig ist aber, daß Morshäuser nie irgendwo identifizierbar gestanden hat, genausowenig wie Süddeutsche Zeitung-Kritiker Höbel, der jetzt auch nachreicht, nie Hoffnungen in Popkultur investiert zu haben. Karl Bruckmaier versteigt sich in Focus zu der schon ziemlich widerwärtigen Gleichsetzung L.A.=Rostock und wirft mir und Spex implizit vor, uns mit Lyotard und Luhmann vor der Wahrheit drücken zu wollen, daß diese ganzen Hip-Hop-Neger doch alles Faschisten seien. Schließlich mußte auch Maxim Biller sich äußern: In seiner „100 Zeilen“-Kolumne widerlegte er gedankenarm einen Pop-Begriff, dem nie irgendjemand (außer er selbst, der noch 1992 kraftmeierisch den jungen Kid P. nachbetet) nachgehangen hat, um mich im Schlußsatz mit seiner Schimäre zu identifizieren (einen Überblick über alle Reaktionen und ihre Symptomatik gibt Christoph Emrich in Heaven Sent, Nr. 8). Zu den anregenderen Reaktionen zählt ein Artikel von Ina Wudtke in der von ihr mitherausgegebenen Zeitschrift Neid. Sie sieht einen Widerspruch zwischen meiner Begeisterung für die Fähigkeit schwarzer Kultur, anhand von fertigen, vorgefundenen Strukturen Differenzen zu kommunizieren, und meiner „alten, linken“ Kritik an der Nation Of Islam. Ich denke, man kann die Besonderheiten einer Kommunikationsform beschreiben und sich über die Alternative zu alteuropäischer Signifikation freuen, aber dennoch Inhalte da kritisieren, wo sie entstehen. Hip-Hop ist ja nie reines Signifyin(g), sondern immer Signifyin(g) über etwas. Jochen Distelmeyer wandte ein, daß Gefühle nicht faschistisch seien, der entsprechende Absatz wurde noch einmal umgeschrieben, im wesentlichen bleibt der Autor bei seiner Darstellung.

    24. Kritik der Waffen / Waffen der Kritik

    Kritik zu entwaffnen und zu bewaffnen war das Ziel dieses Textes. Gegen die Gefahr, über die Bejahung einer Kultur der Differenz im ungünstigen, aber normalen Fall eine Kultur der Segregation zu bestätigen, habe ich den Vorschlag gemacht, über die kulturindustriell beförderten Mißverständnisse der Faszinierten Pakte zu stiften: Dopebeats als Mindestkommunikation gegen die segregationistische Tendenz der Weltwirtschaft. Die uns nur noch trennen will, u. a. auch multikulturalistisch. Diese Pakte werden von westlichen Jugendlichen leider in dem Maße zunehmend aufgekündigt, in dem sie vergessen, daß das, was sie wissen, Mißverständnisse sind. Es käme darauf an, herauszufinden, warum das Empfangen eines X-Clan-Songs in seinem Kontext bei mir als strategisch richtig über eine gewisse „Schönheit“ ankommt, obwohl ich mit seinem mystizistischen Afrozentrismus nichts anfangen kann. Trotzdem streift diese Übereinstimmung mit der Ästhetik des Tracks auch Teile des Inhalts, einzelne Sätze wie „zoom, zoom, zoom, the solution: revolution“. Ich stimme Günther Jacob zu, wenn er in der Szene Hamburg schreibt, daß man zu Vergewaltigungsphantasien auch bei guten Beats nicht tanzen kann. Aber ihm wie mir wird es auch schon passiert sein, daß er zu Vergewaltigungsphantasien getanzt hat, ohne es zumerken. Das Zumtanzengebrachthaben des Beats ist aber ein Bestandteil auch der Vergewaltigungsphantasie, die es ohne ihn nicht gäbe. Wenn ich die Gesamtheit der Signale (eines X-Clan-Songs z. B.) in einem gegebenen und von mir zu rekonstruierenden Kontext inkl. ihres sogenannten Inhalts aufnehmen würde und dann behandeln wie ein im selben Raum gesprochenes Wort, würde ich sicher angemessen reagieren, im Sinne unmittelbarer Kritik; ich täte dies aber als Ergebnis der einsamen Paranoia, auf die universelle Medienpräsenz mich konditioniert hat und deren andere Seite totale Ignoranz ist. Ich muß also reduzieren: Wenn ich dafür aus guten und oft dargelegten Gründen nicht den Autor und nicht den Sinn bemühen will, bleibt mir nur, einen kontextuellen Rahmen zu konstruieren, der absolut flexibel sein muß (Situationismus?). Nur so entgeht man dem sterilen Formalismus der diversen Universalismus-gegen-Partikularismus-Diskussionen. Die Notwendigkeit, solch einen Rahmen zu konstruieren, beweist überhaupt die Lebendigkeit einer „Kunst“, beweist ihr Rederecht: In den meisten Bereichen ist er fast überflüssig, die meiste Bildende Kunst, Literatur etc. wird nur in den eh gegebenen Rahmen Kunst, Literatur etc. rezipiert. Nur ein solcher konstruierter Rahmen erlaubt mir, verbindliche Urteile zu fällen. Entscheidend ist dann nicht die Qualität eines X-Clan-Tracks vor Gott, Marx oder Reich-Ranicki, sondern seine Qualität in diesem Rahmen (Crown Heights, USA, Utica Avenue, MTV, Discothek im besetzten Haus, Discothek in der Kunsthochschule, Debatte in Spex etc.). Je mehr Rahmen ich habe, desto besser. Und desto genauer kann ich verstehen, daß es einen ursprünglichen oder authentischen Rahmen nicht (mehr) gibt. Kritik wird dann wieder möglich, nicht über das Vergessen von Pop und Club und Underground, sondern von dem Ort aus, wo ihre Vulkane erloschen sind (da wo die Berliner früher so gern tanzten). Erst der Relativismus, die Selbstreflexivität und die Enttäuschung ermöglichen die neue Apodiktik der Kritik und die wieder begeisterte Aufhebung der falschen Distanz.

  • Virtueller Maoismus: Das Wissen von 1984

    Ein/der Text der achtziger Jahre und die Kunst von Büttner/Kippenberger/Oehlen

    Wir haben ja nichts gewußt. Diesen Satz haben unsere älteren Brüder unseren Eltern so übel genommen, daß sie ihn nur als glatte Lüge und Schutzbehauptung verstehen wollten. Sicher zu Recht. Aber natürlich ist was Wahres dran, wenn einer sagt, er hätte (von allem) nichts gewußt. Denn es ist tatsächlich schwierig, heute zu wissen, was man einmal gewußt hat. Man muß nicht nur wissen, was man gewußt hat, sondern auch wissen, was man nicht gewußt hat. Und daran kann man sich nicht erinnern, das muß man rekonstruieren. Die Personen, die beim Durchschreiten einer kurzen Periode von Zeit unter anderem das Buch Wahrheit ist Arbeit als Spur liegen ließen, hatten während dieser Zeit Kontakte zu mir und anderen. Im Verhältnis zwischen meiner Rekonstruktion von dem, was ich damals wußte, und dem, was ich glaube, daß die anderen gewußt haben, zu diesem Buch, das mehr als andere Bücher, die die Beteiligten gemacht haben, des öfteren als „Klassiker“ oder „Manifest“ gelobt wurde, läßt sich möglicherweise rekonstruieren, wie sich Wahrheit ist Arbeit „von innen angefühlt hat“1 um ein methodisches Postulat aus dem Buch selbst aufzugreifen.

    Die Phase von 19772 bis 1984 (’82) ist gekennzeichnet durch eine besondere strategische Lage in der Kulturarbeit: Der Feind steht links, man selber steht noch weiter links. Die schlechte Informationslage, die damals noch die Regel war, möglicherweise aber auch ein wohl überlegtes und berechtigtes eigenes Interesse3, verhinderten, daß man (wir) dafür andere historische Beipiele zur Kenntnis nahm(en).4

    Das Modell für die Anordnung der semantischen Truppen im Felde war die K-Gruppe.5 Der Vorläufer (und damit das Modell wiederum) der K-Gruppe konnte alles mögliche sein, in Albert Oehlens Biographie war es ein UFO-Club.6 Die kulturelle K-Gruppe konnte erst anfangen zu arbeiten, nachdem die politischen K-Gruppen verschwunden waren.7 Punk-Rock schien hingegen etwas Ähnliches zu sein und zu wollen. Die genaue Überprüfung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten wurde zwangsläufig in der im Laufe des Jahres ’79 von einem Nachbarschaftstreffpunkt der Karolinenviertel-Boheme zu einer Punkkneipe umgewandelten „Marktstube“8 vorgenommen; denn es war Ehrensache, da hinzugehen (A. Oehlen wohnte um die Ecke), wo die Selbstbestimmung als Bohemien sich glücklich mit dem alten moralischen Imperativ überschnitt, vor Fabriktoren Flugblätter zu verteilen. Das Anderssein der Punk-Rocker, die sich nach und nach von dünnen nihilistischen Oberschülern in dicke anarchistische oder rechtsradikale Hooligans verwandelten, konnte die alten Kommunikationsprobleme mit der Arbeiterklasse hervorragend aufheben: Der versöhnende Unterschied zur Agitation vor dem Fabriktor war der von Frühaufstehenmüssen zu Langeaufbleibendürfen. An diesem Ort lernte ich die Künstler kennen, die mir zum ersten Mal zeigten, daß Bildende Künstler ähnliche Interessen haben konnten wie ich.

    In der Zeit zwischen ’82 (Ende der Marktstuben-Phase) und ’84 (Entstehung des Buches Wahrheit ist Arbeit) kamen einige neue Probleme hinzu, die damit zu tun hatten, daß die drei Künstler nun irreversibel Künstler geworden waren: das Museum, die Wohnung, die Frau (Familie), die Autobiographie (Mutter) und die Definition einer neuen strategischen Situation, nun, wo der Einflußraum größer geworden war. Glücklicherweise konnte man zu dem Zeitpunkt, als diese Probleme sehr neu waren, sie schon benennen, ohne schon über das Rüstzeug zu verfügen, sie zu lösen. Man wußte, daß Arbeit immer perspektivisch ist; das Ziel „Feste Arbeit, feste Freundin, fester Wohnsitz“9 konnten Büttner und Oehlen schon vor ihrer Übersiedlung nach Hamburg ’77 als strategisches Ziel benennen: Es verwirklicht zu haben, war die operative Notwendigkeit der Künstlergruppe.10 Einer Künstlergruppe, die sich nie einen Namen gab, aus wechselnden Kooperationen von vor allem verschiedenen Duos (Büttner & Oehlen, Oehlen & Kippenberger, Büttner & Kiecol, Herold & Oehlen etc.) bestand und erst einen (sehr ungenauen) Namen von außen bekam, als die Anzahl der Kollaborationen drastisch sank und sich statt dessen eine Galeriebeziehung etablierte („Hetzler-Gruppe“).11 Man ging schon nicht mehr in die „Marktstube“, sondern ins „ Alles wird gut“, als mehrere betrunkene Künstler einen anderen betrunkenen Mann mit folgenden Worten der staunenden Öffentlichkeit als „unseren Galeristen“ vorstellen konnten: „Er ist zwar Stones-Fan, aber sonst ganz in Ordnung.“

    Wenn man versucht, das Schreiben der Beteiligten von Wahrheit ist Arbeit zu analysieren, hat man heute den Vorteil, durch die Kenntnis einzeln geschriebener Texte der drei Autoren ihre jeweiligen Anteile leicht ermitteln zu können. Das wäre aber unsinnig; denn entscheidender ist, daß die kollektive und additive Wirkung der Zusammenarbeit die Originalität der Einzelstile dominiert. Wer je mit anderen zusammen geschrieben hat, weiß, wie man die damit verbundenen Schwierigkeiten überwinden kann, indem man, wie eine Band, sich zu scheinbar unsinnigen Regeln und Absprachen zwingt, deren eigene funktionale Schönheit genau dann nicht mehr hält, wenn Einzelne sie als humoristisches Erkennungszeichen ohne organisatorisch-funktionale Not zu reproduzieren versuchen.12 Der Humor lag in der Entschiedenheit, mit der eine Konklusion der nächsten folgte, Folgerichtigkeit und Notwendigkeit behauptet wurden und sich auch dann nicht auflösten, wenn das in der Rhetorik des zu Laien sprechenden Wissenschaftlers Behauptete in eine Absurdität umklappte, die sich gegen die Verflüchtigung in der Pointe sperrte: Der nächste Satz erklärte dann die Absurdität zu nur einem neuen Namen für ein im nächsten Zusammenhang folgerichtiges Element. Die Absurdität war eine Entdeckung, die im Rahmen eines Experiments gemacht wurde. Ein neuer Name war nötig geworden: „Freche Antworten sind gemein, wir haben ein Recht, sie wegzuwünschen. Ironie und Satire und freche Antworten sind verwandte innere Haltungen, Produkte der schwarzen Galle.“13 So weit die Voraussetzungen. Die kleine, geduldete Freiheit der Frechheit und der Stolz auf sie werden in Verbindung zur ausweichenden, selbstgenügsamen, geduldeten Redeweise von Ironie und Satire gebracht. Ihr Gemeinsames aber sei die „schwarze Galle“, ein absurder, aber einleuchtender Ausdruck, der sich sofort als Fachausdruck einführt, obwohl er poetisches Gepäck dabei hat. Er bezeichnet eine eben erst entdeckte Qualität von falschem Bewußtsein, das sich für richtiges hält (frecherweise): „Freche Antworten wollen Fragen verhindern. Freche Fragen sind wie freche Antworten, sie sind wie zwölf unvorstellbare Jahre des Leidens.“14 Hier ersetzt die Litanei die Argumentation. Einerseits erweitert sie den Charakter der poetischen Absurdität, die einen Fachausdruck bildet, indem sie eine Fachsprache möglich macht, zum anderen steht sie für die Gegnerschaft zum Kommunikationsoptimismus der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie: Diese wird aber von links kritisiert – ohne allerdings einen spezifischen linken Ort der Argumentation einzunehmen. Der virtuelle linke Punkt wird durch die Verteidigung der „Überzeugung“ konstruiert, die sich sowohl gegen den – Machtverhältnisse verschleiernden – Kommunikationsoptimismus der pluralistischen Öffentlichkeit richtet wie gegen rechte Religiosität, die abstreitet, daß sie eine konstruierte Realität ist: „Die Beseitigung frecher Fragen ist ebenso ein Akt künstlerischen Rausches wie die künstlerische Beseitigung von Müll in Museum und Wohnung. Wir sind gewiß, daß weder Tod noch Leben, noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes – und wir ergänzen: auch kein Krebs –, uns scheiden kann, von unserer Liebe zu Museum und Wohnung.“15 Die Ersetzung des seinerzeit noch relativ unangetasteten Fetischs Argumentation durch den Feind der Kommunikation, die „hohltönende Phrase“, die ihrerseits durch „heillose“ Mischung der Referenzen nur umschmeichelt, aber nicht übernommen wird, nahm noch keinen Kontakt zur neo-konservativen Vernunftkritik auf, die sich in der zweiten Hälfte der Achtziger in der BRD etablieren sollte (und sich dann tatsächlich in ihrer eigenen Phraseologie verfing). Eine andere Rhetorik, die nicht argumentiert, der man dennoch folgen kann wie einem in ein neues Fachgebiet einführenden Text wird etabliert und durchgehalten. Je mehr sie durchgehalten wird, desto weniger auffällig wird sie. Nach einer Weile klappt die Leseraufmerksamkeit tatsächlich um: Nicht mehr Parodie von oder Anschmiegen an Rhetoriken interessieren den Leser, sondern das, wovon die Rede ist.

    Der Eindruck, daß bestimmte Themenkreise (durch bestimmte wiederholte „poetische“ Schlüsselbegriffe und -abkürzungen wie „Gehortete Idioten“, „Wahrheit“, „Wirklichkeit“,„ZPK“ etc. gekennzeichnet) dann doch höhere Positionen in einer Argumentationshierarchie einnehmen, wird dadurch erhärtet, daß erstens Personen, die für diese Zusammenhänge stehen, abgebildet werden, zweitens Künstler mit Werken präsent sind, die als Illustrationen zu „Wahrheit“ oder „Gehortete Idioten“ verstanden werden können, und drittens Autoren als Fußnoten gestaltete Texte beitragen, was nahelegt, daß sie etwas besonders Wichtiges und Erklärungsbedürftiges erläutern: Nicola Reidenbach über Nudeln, Rainald Goetz zur Notwendigkeit, die Hose runter zu lassen, Thomas Leppin über Eric Dolphy, Karl R. Popper mit zwei Ausschnitten aus der Logik der Forschung, Albert Oehlen mit einer autobiographischen Bemerkung, Werner Büttner mit zwei in Sounds bzw. Szene Hamburg schon veröffentlichten Texten und ich selbst über die „Frau im Kapitalismus“.16 Zu den Künstlern gehören Peter Weibel und Timm Ulrichs, Marcus Oehlen, Rosemarie Trockel, Günther Förg, Hubert Kiecol und Georg Herold; zu den abgebildeten Personen Brian De Palma, Andreas Dorau und die Mütter der drei Künstler.17 Im laufenden Text finden unter anderem der damalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, die damalige Kultursenatorin Helga Schuchardt, Karl von Frisch, Konrad Lorenz, Goethe und Asger Jorn Erwähnung, sowie diverse Verwandte.

    Die Verbindung zwischen Namen, Bildern, „Fußnoten“ und „Argumentation“ des Haupttextes ist unterschiedlich dicht. In manchen Fällen wird die Rhetorik illustriert (etwa bei der Weibel-Abbildung, die in gleichem Maße als Denunziation Weibels, Beifall für seine Kunst, genereller Beifall für Drastik gelesen werden kann), in den meisten Fällen aber stehen Namen, Bilder und „ Fußnoten“ für die Verstärkung der Semantik: Wo Ideen, Referenzen auf Organisationen und Behauptungen wegen ihrer Auflösbarkeit und Anschließbarkeit an das Kommunikationsuniversum“18 nicht in Frage kamen, übernahmen Namen als die ohnehin eindeutigsten Worte die Funktion der inhaltlichen Fundierung und Festlegung. Das hatte seine Entsprechung in den Sitten und Gebräuchen im richtigen Leben. Ganze Abende wurden damals mit dem gegenseitigen Zurufen von Namen verbracht: Wer ist besser, Elfriede Jelinek oder Marlon Brando, George A. Romero oder Jean-Jacques Burnel, Sempé oder der Pyrolator, Käpt’n Nuß oder Roy Lichtenstein, Bazon Brock oder Chris Howland, Louis de Funès oder Diego Cortez, James Chance oder Lee Remick, Charles Mingus oder Robert Crumb, Gaye Advert oder Désirée Nosbusch, Gerhard Merz oder Kathy Acker? Wer diesem Spiel zuzuhören gezwungen war, war oft erstaunt über die „Oberflächlichkeit“, mit der zwei erwachsene Menschen … Es diente der Verständigung im selben Sinne wie Jive: Man ahnte ja jede – nicht ausgesprochene – Begründung seines Gegenübers, wenn nicht, fragte man nach. Die Erklärung ging als neue Bedeutung in den Wortschatz ein. Nach und nach entstand eine Sprache, die wir beide (und ein paar andere) verstehen, er da hinten nicht. In diesem Sinne kann man zum Beispiel die Abbildung von Brian De Palma lesen. Man muß nur verstehen, was „Brian De Palma“ heißt. Günstigerweise besteht der größte Teil der Bedeutung aus öffentlich zugänglichen Fakten, den anderen kleineren Teil kann man fast erschließen. Vorausgesetzt, man ist gewohnt, Jive zu verstehen.

    Wenn man aber eine allgemeinverständliche19 Interpretation des Textes und seiner Illustration liefern wollte, würde es zunächst genügen, zu untersuchen, was die meisten und prägnantesten der Schlüsselbegriffe und zugehörigen Eigennamen 1984 bedeutet haben. In einem zweiten Schritt wäre es dann erforderlich, die Frage zu stellen, inwieweit der Stil (gerade als kollektiver Stil), den wir alle damals speziell bei diesem Text besonders bewunderten und für die genaueste Umsetzung unseres Denkens anerkannten, das Wissen von 1984 darstellt und, wenn ja, uns ermöglicht, die Frage zu stellen, was das denn heißen soll: wer wußte, und wußten alle, die wußten, alles, also hatten alle an einem ganzen Stück Wissen, das dann bei den Individuen nur noch ein bißchen individuell ausfranste, im gleichen Maße Anteil? Und bis in welche Bereiche reichte dieses Wissen?

    (Zwischen dem Hinschreiben zweier Sätze stand ich auf und ging in meiner Wohnung auf und ab und an den Kunstbüchern vorbei, griff wahllos nach einem Katalog, erwischte den Katalog von Pinot-Gallizio20, stellte ihn wieder zurück und dachte den Satz: „Pinot-Gallizio war der Franz West der Situationisten“ und merkte dann plötzlich, daß dieser Satz unmittelbar ein Ergebnis des Wissens von 1984 war. Ohne das Wissen von 1984 – d. h. von ’79 bis ’84 – hätte ich das nicht sagen und denken können.)

    1984 gab es noch nicht: die Lindenstraße – der sozialdemokratische Intimitätsterror war noch zu real, um die Gestalt seiner eigenen Poesie finden zu können. Public Enemy – postmoderne, „zitierende“ Schwarze Musik hatte noch nicht – gerade in der Sekundarität – ihren Zugang zur „Realpolitik“ finden können. Death Metal – die proletarische Version von Lacan schlummerte noch in der Hingabe an Fantasy-Phantasien mit Rittern und Schwertern und Frank-Fazetta-Ästhetik. Die Mode von Systemtheorie und Naturwissenschaft-als-Geisteswissenschaft: Der Geist war noch fest in den Händen französischer Totengräber der Geisteswissenschaft.21 Roxette – der ostentative Genuß der eigenen Entfremdung als Authentizität zweiter Ordnung war noch ein elitäres Phänomen.22 Clarence-Thomas-Debatten – die alten Rassismus- und Sexismus-Debatten waren das unbestrittene Terrain guter Menschen alter Schule – die Re-Politisierung der Postmodernen durch genau diese Themen – als amerikanischer Import – unvorstellbar (kindisch stolz auf etwas, das damals noch nicht „politische Unkorrektheit“ heißen konnte, demonstrierte man, daß man nichts auf die Verbesserung der Welt durch die Verbesserung von Namen gab, in dem man stets den denkbar unkorrektesten verwendete23). Keine Syberberg-Debatte – wenn irgend jemand von Deutschland träumte, konnte einem das ziemlich egal sein, weil es das ja nun zum Glück nicht mehr gab, IBM regierte die Welt, Immendorff ein virtuelles Deutschland. Keinen Historiker-Streit – denn „Death to all who dare rewrite what has been written“.24 Keine Zeitgeistzeitschriften – denn sie sind ja logischerweise das Ende des Wissens einer Zeit: Sie begannen 1985 mit dem Umschreiben dessen, was gewesen war, in Bilder davon, wie es nie sein würde, und überwanden die Weigerung, sich an den sozialdemokratischen Kommunikationsterror anzukoppeln, indem sie das vor diesem Geschützte an den Warenzirkulationsterror ankoppelten. Kein Pro7, kein Kabelkanal, kein MTV Europe – die Musik in den Kneipen machte einen Unterschied, die Kneipiers tauschten Tapes gegen Deckel, und man konnte noch nicht zappen: Es sprachen noch sozialdemokratische große Brüder. Es gab Wolkenkratzer, Electric Boogie und die Eurythmics statt Texte zur Kunst, Sampling und Techno.

    Konstant geblieben sind dagegen der Kulturpessimismus, der Glaube, Sprachkritik sei Gesinnungskritik (schlechtes Deutsch verweise auf schlechte Gesinnung25), die „documenta“ (und die Gratis-Feindschaft, die ihr jeder schenkt) und die Anbetung formaler Brillanz der Rede als besonders leerer und besonders stumpfsinniger Widerstand gegen die allgemeine Medienlage (ihre Ideologen pflegten um 1984 zu sagen, „Strauß ist zwar ein Reaktionär, aber unheimlich intelligent“, heute stellen sie die Fans von Marcel Reich-Ranicki und dem Literarischen Quartett).

    Klaus von Dohnanyi und Eric Dolphy hätten während der siebziger Jahre nicht zum Gegenstand eines Textes werden können. Daß ein Politiker etwas ist, das eines Namens würdig ist, der ihn von anderen Gegenständen unterscheidet, also nicht nur in seiner Funktion aufgeht, wäre für diejenigen nie von Interesse gewesen, die Eric Dolphy bewundert hätten; also denjenigen unter den Jazz-Innovatoren der frühen Sechziger, dessen Beitrag weniger offensichtlich innovatorisch und geschichtsbuchträchtig war als Ornette Colemans, Cecil Taylors oder John Coltranes; den zu kennen und schätzen und als besonders entscheidend herauszustellen zu einer bestimmten Zeit in der Jazzliteratur die Bedeutung hatte, wie die Walter-Benjamin-Verehrung in den siebziger Jahren, nachdem man von Adorno/Horkheimer (Coltrane/Coleman) genug hatte (heute ist der früh verstorbene Dolphy ebenso klassisch wie der früh verstorbene Benjamin). Wer von Dolphy sprach, konnte nicht von Dohnanyi reden: Der Politiker war im höchsten Maße namenlos, ein kleiner Verwalter seiner kleinen Ecke der verwalteten Welt. Unsere Lieblingslektüre war aber der neu eingeführte „Fragebogen, den Marcel Proust in seinem Leben gleich zweimal ausfüllen mußte“, im FAZ-Magazin. Die Tatsache, daß Feinde wie Margarethe von Trotta ihn als oberflächlich ablehnten, bestätigte uns in seiner Einschätzung als „bester geistiger Warentest“. Hier erwarb einer das Recht, mit seinem Namen für einen Zusammenhang zu stehen: Eine Fülle von Disqualifizierungsmöglichkeiten verschönerte die Freitage. Dohnanyi hatte als Lieblingslyriker „ Gottfried Benn“ – das war vor Gerhard Merz – und als Lieblingsschriftsteller „Robert Musil“ geschrieben; das war circa 1980 noch eine interessante Geste für einen Sozialdemokraten; die Selbststilisierung als Neo-Lasalle eine Proto-Toskana-Fraktion-Geste, die zwar später mit Ulla Hahn statt duellwürdiger Gräfin bestraft wurde, aber damals wert war, einen denkwürdigen Abend im „Hofrestaurant“ als Vorwand, Witze zu erzählen, mit dem denkbar zeitgenössischsten Personal zu bevölkern.26 Daß man Politikaster namhaft machen sollte und so mit ihnen besser verfahren könnte, war ein damals gerade erst aufkommender Gedanke, der auch Zeitschriften wie titanic beflügelte. Das Ausmachen „peinlicher Persönlichkeiten“ eine typische Idee jener Zeit. Später wurde klar, daß mit diesem Konzept völlig eigenschaftslosen Amtsträgern nur die unverdiente Ehre der doch durchaus sympathischen Eigenschaft der Fehlbarkeit zuteil wurde.27 Von der wir gleich hören werden. Namennennen statt Argumentieren, Behaupten statt Empfinden/Einfühlen kann man aber als Praktiken herausstellen, die sich weit über den hier beschriebenen Kreis hinaus durchsetzten.

    Sir Karl Popper führt in Wahrheit ist Arbeit28 die Falsifizierbarkeit als Kriterium, aber nicht der Forschung, sondern der Kunst ein: ein entscheidender Punkt. Denn die Möglichkeit des Fehlers, die in der Mystik der wahren Empfindung und deren wilden Ausdruck bei den zeitgenössischen Malerkollegen nicht vorgesehen war, galt es als die wesentliche Chance menschlicher Beschäftigungen zu betonen. Thelonious Monk sagt: „If you make a mistake, play it loud. Then play it again. That way people will think you did it on purpose.“29 Die Umgebung zu schaffen, die es möglich macht, von Fehlern zu sprechen, um diese dann als richtig auszugeben, um die Möglichkeit neuer Fehler zweiter Ordnung zu schaffen, wäre tatsächlich eine Aufgabe der Zeit gewesen: gegen die beiden Positionen, Fehler nur als gedankliche Fehler a priori sich vorstellen zu können (Konzept etc.) oder als Spezifika des Individuellen (individuelle Mythologien, wilde Malerei) wegzurelativieren und so überhaupt auszuschließen. „Erkennen kommt“ aber, wie Niklas Luhmann ganz richtig sagt, „nur aufgrund der Möglichkeit des Sich-Irrens zustande. Das Leben, und selbst das Gehirn, kann sich aber nicht irren.“30 Es war also unbedingt wichtig, das Gehirn wie das Leben aus einer Kunst, die den Anspruch hatte, die „Wahrheit“, die sie finden, zeigen, sein wollte, als „Arbeit“ zu beschreiben, auszuschließen. Nun handelt der Text aber zu einem großen Teil davon, wie Leben, allerdings im Sinne von Autobiographie, in einer ähnlichen Weise Arbeit ist und Fehler macht. Während es das tut, will es nichts von der „Wahrheitsscheiße“ wissen, mit der es „in Hamburg“ „zugeschissen“ wird.31 An dieser kritischen Stelle beherzigen die Künstler erneut einen Rat, den ihnen sechs Jahre später wieder Niklas Luhmann geben wird: „Ferner erfordert die funktionale Spezifikation auf Zugewinn von Erkenntnissen methodische Vorkehrungen gegen das Interferieren von Handlungen und Interessen.“ Deswegen war es so wichtig, die Probleme mit fester Arbeit, Frau und Wohnung schnell zu klären, um der Wahrheit anders als nur einem unkontrollierbaren, noch dazu unangenehmen Naturereignis gegenüberstehen zu müssen, denn andernfalls geht es in „ Angelegenheiten, bei denen es um Wahrheit gehen soll (…) nur noch um Erleben“. „Dies (das Verhindern des Interferierens von Handlung und Interesse – Anm. d. Verf) ist deshalb so nötig, weil nur so (und nicht einfach mit einem: ich wünsche es, ich will es) der Neuheitsschock (Wahrheit als Scheiße von oben – Anm. d. Verf) überwunden werden kann. Die Wissenschaft sucht und produziert das Neue und Überraschende ja nicht um seiner selbst willen, sondern um es zu unterdrücken und in Erwartbares zu transformieren. Mit dem Symbol Wahrheit wird kommuniziert, daß dies gelungen ist. Man präsentiert Überraschungen mit dem Zusatzsymbol: für alle gültig. Die Entdeckung wird sogleich auf die Welt zugerechnet. Das erfordert eine entsprechende Stilisierung der persönlichen Beteiligung, der Inklusion des Forschers. Er wird nicht als Hersteller gefeiert, sondern als Entdecker und Erfinder. Das Genie macht sich (übrigens auch im Bereich von Literatur und schöner Kunst) gerade an der Kombination von Neuheit und Akzeptierenmüssen kenntlich – so als ob gerade diese Kombination so selten, so schwierig ist, daß der Zugang zu ihr besonders rühmenswerte „geniale“ Qualitäten ausweist, denen ein Moment der Irrationalität anhaftet, solange die Rationalität gerade dieser Form von Inklusion und Arbeit noch nicht begriffen ist.“32

    Nicht das Experiment aber ist Wahrheit, sondern Arbeit: also alltägliche Experimente, also Leben. Aber nicht Leben im biologischen Sinne, sondern im gesellschaftlichen. Was aber passiert mit diesem anderen Teil, der nicht irren kann? Nun, ihm wird das Symbol Konrad Lorenz zugewiesen. Der „Professor“ gibt gegen Ende der Erzählung den drei Künstlern ein „Privatissimum“ über Gestaltwahrnehmung. Er erklärt den drei staunenden Künstlern, was der nichthintergehbare und „objektive“ Anteil ihres Handwerkzeug ist. Sicher hätte ihnen das auch ein anderer erklären können. Sein Name fällt aber neben Gründen der Huldigung an seine Prosa, wie man annehmen kann, vor allem wegen der Möglichkeit, durch eine so abseitige, unmoderne und abstruse Referenz etwas Uncodiertes, Unbeladenes, für nichts anderes Stehendes und durch keinerlei Diskussionen Relativiertes lesen zu können und für sich zu nutzen. Das Symbol Konrad Lorenz, das im Prinzip so eingesetzt wird33 wie die anderen Namen, die dann an beliebigen Stellen mit einem Sternchen an eine Fußnote gekoppelt werden, erhält seine erklärende Fußnote im Text. Die politische Unkorrektheit Lorenz’, die einige Jahre früher noch mal in der Diskussion gewesen war, war ja auch vergessen: Dennoch war ihn wieder zu entdecken natürlich noch kein Fall von Nostalgie oder Neo-Konservatismus, sondern eher Vorläufer etwa für Albert Oehlens spätere Beschäftigung mit dem Symbol Hitler.34

    Das Motto „Wissen erweitern durch Scheitern“35 muß aber noch kurz beschäftigen. Luhmann spricht davon, daß man „in der Kunst (in der Lage sein will), Neuheit und Fehler zu unterscheiden. Ohne diese Unterscheidungen zu machen, kann man Neuheit nicht positiv werten.“36 Nun soll hier aber der Fehler positiv gewertet werden (und die Neuheit des Avantgarde-Paradigmas negativ: Seine Vertreter sind ja diejenigen, die in den frühen Achtzigern „Alles schon mal dagewesen“ schreien). Nicht nur weil er das Wissen erweitert, denn das hieße ja nur Neuheiten als Negativ des Fehlers zu produzieren, sondern, weil er in der als fatal oder paradox wahrgenommenen Kommunikationssituation das einzige fixierbare Resultat der (ursprünglich prozessualen) Wahrheit darstellt, das der Künstler nach außen geben darf. Die in ihm wahrnehmbare Differenz zwischen dem unter den gegebenen Verhältnissen Sagbaren und der von ihm angedeuteten Absichten mache sozusagen seine Schönheit aus.37 Später werden Rainald Goetz und Albert Oehlen davon sprechen, daß „man nicht immer schöner scheitern wollen kann“. Damit wird dann ein Scheitern zweiter Ordnung, ein Scheitern am Scheitern beschrieben, das wieder ästhetische Novitäten hervorgebracht hat, die sich aber verstellen müssen, weil sie ja als gescheitertes Scheitern mehr sein müssen als doppelte Negation (wenn das Prozessuale, die Arbeit, weiterhin Wahrheit sein soll). Ein Bild, das dann ästhetische Novitäten zeigt, ohne zu zeigen, daß sie zunächst nicht zu haben sind, kann man dann aber wieder mißlungen nennen. Mit diesen Mißlungenheiten ist dann nichts mehr anzufangen, und die in diesem Sinne gelungenen Bilder sind dann wieder auf der Seite „Neuheit“ der Unterscheidung „Neuheit/Fehler.“38

    Andreas Dorau und Brian De Palma stellen auch ein Paar dar, wie Monk und Luhmann in diesem Text oder Dolphy und Dohnanyi in jenem (ohne daß diese Paare sich begegnen in den jeweiligen Texten). Das Nennen dieser Namen indiziert einerseits – wie gesagt – einen Ekel vor allen, damals vor allem den subkulturellen Alltag prägenden Vorstellungen von Unsagbarkeit, und es war nötig, den auszudrücken, weil man ja auf einer höheren Ebene mit Unsagbarkeiten arbeitete. Zum anderen werden sie aber nicht nur als Namen, sondern auch spezifisch eingesetzt: Dohnanyi und Dolphy markieren eher negative Horizonte (in diesem Falle die Hofgesellschaft und den zurückgezogenen intellektuellen Genuß an seinem eigenen, kleinen, folgenlosen, sauberen Kulturgut, dem sein Rezeptionsstil jede Brisanz nimmt39). Dorau und De Palma stehen für Verwandtschaft mit den drei Autoren im künstlerischen Vorgehen. Beide Namen sind ziemlich gelungene Formulierungen für ein ziemlich kompliziertes Selbstverständnis als Künstler. De Palma steht für den mit dem Satz „Mehr ist mehr“ nur ungenügend angedeuteten Grundsatz, daß eine richtige künstlerische Aussage nicht falscher wird, wenn sie von allerlei tanzenden und lärmenden Hintergründen umgeben wird: im Gegenteil, sie gibt sich als verbunden mit einer Umgebung zu erkennen, die sie sowohl möglich wie wahr macht. De Palma bildet – für die drei vorbildlich – nie einen Vater-Sohn-Konflikt ab, ohne nicht im Hintergrund ein CIA-Landemanöver an einem vollen Badestrand abgehen zu lassen. Keine Strandszene ohne sich überlagernde Radio- und paranoide Stimmen. Die Tiefe seiner Bilder ist nicht nur eine visuelle, perspektivische Tiefe, sondern eine Bedeutungstiefe. Oft schwärmen Betrachter von Oehlens Bildern von Raumeindrücken und meinen in Wirklichkeit eine Bedeutungstiefe, semantische Perspektive. Andreas Dorau steht für den mit dem Satz „Frechheit siegt“ nur ungenügend angedeuteten Grundsatz, daß beherzte Inkompetenz eine viel höhere technische Fähigkeit darstellt als eine bestimmte Kompetenz; denn der so Operierende muß ja an viel mehr Fronten gleichzeitig seine Lehren ziehen. Bei ihm entwickelt sich in der Zeit (der „Karriere“ etc.) das, was sich bei Brian De Palma im Raum entwickelt. Und was sich in der Kunst dieser drei Künstler im Referenzraum entwickeln soll: eine Komposition mit Vorder- und Hintergründen, Überlagerungen, die so wenig auf den Kunstgriff oder die Technik der Referenz, des Zitierens und Zitate-Verwischens reduzierbar sein soll, wie sich De Palmas Räume und Doraus kurzlebige Interventionen in der Pop-Kultur auf Architektur und postmodernen Karrierismus reduzieren lassen. Es geht vielmehr darum, mit seinen erkennbaren Mitteln durch ihren exzessiven Einsatz mehr zu machen, als ihren normalen Zweck zu erfüllen. Referenzen und Zitate verweisen einerseits auf Sekundarität und andererseits sichern sie ab, nennen den Namen der Quelldatei. Wenn die Dateinamen aber benutzt werden, um auf eine andere, nur bedingt öffentliche, versteckte Datei zu verweisen (die Besitzern eines Schlüssels aber durchaus zugänglich ist), verweisen sie auf diese geheime und die allgemein zugängliche gleichzeitig: Sie sichern und entsichern gleichzeitig (etwa Konrad Lorenz, der gleichzeitig für den weltberühmten Gänsevater steht, den ideologisch unsicheren Kantonisten, der ins antisozialdemokratische Paradigma paßt, und schließlich aber plötzlich als Wahrnehmungstheoretiker Dinge sagt, die die Künstler eins-zu-eins „ernst“ nehmen und auf sich beziehen). Wenn mit Referenzen herumgefuhrwerkt wird wie das in einer Vulgärkunstgeschichte die abstrakten Expressionisten mit Farbe getan haben sollen, überlagert die Sekundarität eine Behauptung von Primärität. Anders als Jive-Ausdrücke (wie „steiler Zahn“), die nur im Jive zu gebrauchen sind und nur geringen Zugewinn durch die Absurdität, die ihre Alltagsbedeutung beimengt, verzeichnen (die Alltagsbedeutung wird im Jive zunehmend weniger aktualisiert), bedeutet der Name Andreas Dorau neben dem vereinbarten Sinn auch noch eine lebende Person da draußen zwischen München, Düsseldorf, Tokio und Hamburg, der mit Roy Wood und Michael Nyman zusammengearbeitet und die Zeile „Das ist Demokratie / langweilig wird sie nie“ geschrieben hat.

    Namen sind aber nicht nur einerseits präzise und andererseits überschüssige Bezeichnungen, darüber hinaus sind sie ziemlich einfache Zeichen. Damit erfüllen sie eine andere Bedingung der in Wahrheit ist Arbeit proklamierten Ästhetik: kurze und direkte Wege. Das Spiel mit den vollgestellten Referenzräumen läßt sich nur spielen (also kontrollieren), wenn die Zugänge übersichtlich angeordnet sind. Das, was theoretische Sätze prinzipiell zu verhindern scheinen, obwohl sie doch gerade durch Genauigkeit, Differenziertheit und Nachvollziehbarkeit universellen Klartext herstellen, nämlich die Möglichkeit zu einem unmittelbaren Zugang, wird ausgerechnet durch die hermetische Sprache des Jive erreicht, die ursprünglich nur Kommunikationsverweigerung kommunizieren sollte. Auch die Behauptungsrhetorik und der Logik-Jive sind Abschreckung und Einladung in einem. Das könnte man als eine Eigenschaft betrachten, die sie über die historische Berechtigung als antisozialdemokratische Ästhetik40 hinaus legitmieren. Und hierin kommt auch so etwas wie das Wissen einer Generation – The Class of ’84 – zum Ausdruck: gegen Kulturpessimismus auf die Arbeit mit der Gleichzeitigkeit des Gegensatzes von Massenkultur und Tribalismus zu setzen.

    Es stellt sich aber darüber hinaus die Frage, wie sich eine ästhetische Praxis nach einem politischen Modell konstituieren konnte und dabei für sich beanspruchen konnte, auch den politischen Kampf und die politische Argumentation in sich aufgenommen zu haben. Wie man sozusagen Konrad Lorenz erfolgreich als linksradikalen Kritiker gegen Revisionisten und Sozialdemokraten einsetzen konnte. Paul Veyne nannte einmal die Semantik die idealistische Illusion schlechthin.41 Die Idee von Wahrheit ist Arbeit war, wie wir gesehen haben, die eines übervölkerten semantischen Raums, eines chaotischen Bedeutungstheaters, das immer dahin strebt, nur noch Namen zu nennen wie in einem jüdischen Witz, wo sich Witzeerzähler auf einer langen Bahnreise Witze erzählen, indem sie sich Nummern zurufen, die sie vorher den Witzen gegeben haben, die sie sich immer wieder erzählt haben. Unter diesem Druck bricht die Semantik zusammen. An ihre Stelle tritt dann, bei den einzelnen Künstlern auf unterschiedliche Weise: die Malerei. Sie konnte – nur durch diese Praxis – selber zu einer Sprache werden42, die alle anderen Effekte der Sprache aus eigener Kraft erzielen kann, und insbesondere den hier entscheidenden: voraussetzungslosen Zugang für jedermann und totale Hermetik zur gleichen Zeit.

    1. „‚Willst du etwas über einen Apfel erfahren, mußt du hineinbeißen‘, behauptete Mao-Tse Tung ganz richtig. Das bedeutet für den Pfadfinder: Geh in den Wald, beiße in einen Baum und Du wirst wissen, wer der härtere ist. Das bedeutet für uns: Mache die Probe, erkenne die Wahrheit am Duktus, laß dich von ihr vollscheißen, stelle fest, wie sie sich von innen anfühlt.“ – Werner Büttner, Albert Oehlen, Martin Kippenberger, Wahrheit ist Arbeit, Essen 1984, S. 31. ↩︎
    2. 1977 kehrte ich nach einem längeren Auslandsaufenthalt im Herbst nach Deutschland zurück, das sich in der Zwischenzeit in einen Polizeistaat verwandelt hatte. Hatte ich die Jahre 1975 bis 77, angewidert von den politischen Verhältnissen in der Hamburger Uni, einer gründlichen Depolitisierung, verbunden mit Benn-Lektüre und Entwicklung eines spätpubertären Elitismus, gewidmet, begann jetzt mit einem Schlag meine Repolitisierung. 1977 zogen Büttner und Oehlen von Berlin nach Hamburg, während Kippenberger drauf und dran war, Hamburg Richtung Berlin zu verlassen. 1977 erreichte die Punk-Bewegung Deutschland. Und es gibt noch weitere Gründe, in diesem Jahr die Periode beginnen zu lassen, die zu Wahrheit ist Arbeit führte. ↩︎
    3. In „Die Verbesserung der Jugend durch Rockmusik“ – in: Sounds 4/80 – sprechen sich Werner Büttner und Albert Oehlen gegen die Floskel „Alles schon mal dagewesen“ aus, sie sei „reaktionär“ und „blockiere das Leben selbst“. ↩︎
    4. Zum Beispiel Situationismus war allen Beteiligten weitgehend unbekannt, obwohl Roberto Ohrt in der gleichen Kneipe verkehrte. Erst 1986 begann die Beschäftigung mit den Schriften der S.I., obwohl mich Albert Oehlen im Jahre ’81 eigenhändig in eine Ausstellung der Gruppe SPUR geschleppt hatte und ich mich an eine Diskussion im „Vienna“ erinnere, bei der wir uns anläßlich eines Konzertes von BowWowWow, die damals von Malcolm McLaren, der ja für sich situationistische Wurzeln beanspruchte, gemanagt wurden, über Debords Gemälde/Slogan „Abschaffung der entfremdeten Arbeit“ unterhielten und inwieweit er von Malcolm McLarens Utopie von umherschweifenden arbeitslosen Jugendlichen mit Walkmännern aufgehoben sei. ↩︎
    5. „… so wurden in der Kunst Arbeiterfamilien gemalt nach einer vorgeschriebenen Technik. Und das erschien uns als eine Form von Einverständnis mit dem System, also von Sich-schon-geschlagen-Geben, die sich darin an Trostlosigkeit nicht mehr unterscheidet von den anderen Leuten, die da mit Pülverchen rumexperimentiert und gewischt und geschoben oder Sachen an die Wand gelehnt haben. Und dazu im Gegensatz erschien uns die maoistische, linksradikale Terminologie mit ihrer unerbittlichen Rechthaberei ein guter Kontrast zu sein, mit dem Vorteil, daß sie in ihren kritischen Analysen recht hatte. Wir hatten kein Gegenmodell zu bieten, aber ich glaube nach wie vor, daß es richtig ist zu kritisieren, auch wenn einem selber nichts Besseres einfällt. Man ist zwanzig Jahre alt, es brummen einem die Eier, und man haßt alle, die zehn Jahre älter sind. Und wenn die ohnehin nur Mist bauen, dann ist das doch eine gute Ausgangsbasis. Der Vorteil dieser revolutionären Schnöseligkeit ist, daß man sich über Vorhandenes hinwegsetzen kann, ohne einen sauberen Gegenentwurf abliefern zu müssen und ohne daß Parodien dabei rauskommen.“ Albert Oehlen, in: Wilfried W. Dickhoff/Martin Prinzhorn, Albert Oehlen, Köln 1991. Oehlen beschreibt hier eine Situation, die am Anfang der beschriebenen Periode liegt, aber für das Selbstverständnis des „virtuellen Maoismus“ entscheidend ist. Bis 1984 ist der Ansatz nicht nur verfeinert, sondern auch um andere Sprechpositionen erweitert worden: Wichtig ist aber, daß „Parodie“ nie angestrebt worden ist. ↩︎
    6. „1972 Umfunktionierung eines UFO-Clubs in die KJVD-Ortsgruppe Krefeld“ – Büttner, Kippenberger, Oehlen, op.cit., S. 154. ↩︎
    7. Sie störten dann nicht mehr dabei, eine gedachte K-Gruppe strategisch im kulturellen Feld unterzubringen, die von einem, spaßeshalber hier „virtuell“ genannten, linksradikalen Punkt aus reden konnte. ↩︎
    8. Der Wirt war übrigens eines der Vorbilder für die Figuren aus Hubert Fichtes Roman Die Palette. ↩︎
    9. „Auf der Fahrt nach Hamburg entwickelten wir drei Ideen (feste Arbeit, feste Freundin, fester Wohnsitz), deren Umsetzung wir sofort in Angriff nahmen“ – Büttner, Kippenberger, Oehlen, Wahrheit ist Arbeit, a.a.O., S. 14. ↩︎
    10. Die Gruppe, von der hier die Rede ist, hat sich nie selber als solche bezeichnet: Aus der Geschichte (vgl. Anm. 4) war aber diesmal klar, daß zu vermeiden wäre, daß die so oft an Gruppenbildung geknüpfte oder von Gruppenbildung vertuschte Lösung primärer postpubertärer oder adoleszenter Probleme auch diese Gruppe belasten. Die Probleme „Wohnung“, „Museum“, „Verhalten“ etc. wurden dann als Probleme derselben Art, aber höherer Ordnung eingeführt. ↩︎
    11. Meine Recherchen zur Problematik der Künstlergruppen haben ergeben, daß im Mittelpunkt der Konstitution von Künstlergruppen in der Modernen immer eine Opferung stand. An die Stelle der Opferung tritt in dieser Gruppe die Aufnahme einer Galerienbeziehung (die ja im gewissen Sinne auch etwas opfert). Diese Vorgehensweise wurde später – z. B. „Gruppe Nagel“ – häufiger imitiert, führte aber selten zu vergleichbar stabilen Beziehungen. Vgl.: Diedrich Diederichsen, „Legitimität und Illegalität“, in: Heaven Sent 7/92. ↩︎
    12. vgl. als weitere gelungene Beispiele etwa: Martin Kippenberger, Café Central, Hamburg 1987 (mit Michael Krebber zusammen geschrieben) oder einige – nicht gezeichnete – Kollaborationen von Guy Debord und Attila Kotányi, in: Situationistische Internationale, Band 1, Hamburg 1976; zur Entstehung von Texten in der S.I. vgl.: Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde, Hamburg 1990. Als Beispiele für das Mißlingen vgl. die Verödung mancher Autoren der sogenannten „Neuen Frankfurter Schule“ im Verlauf der Achtziger, besonders den durch haltlose Ideen von Zeitkritik als Sprachkritik („Dummdeutsch“) befeuerten Manierismus des altfränkelnden „guten Deutsch“ bei Eckhard Henscheid, dessen Einfluß auf die Stadtzeitschriftenschreiber der späten Achtziger immens war. ↩︎
    13. Büttner, Kippenberger, Oehlen, Wahrheit ist Arbeit, a.a.O., S. 17. ↩︎
    14. ebenda. ↩︎
    15. ebenda, S. 17–19. ↩︎
    16. Interessanterweise imitiert dieser Text die Rhetorik des Haupttextes (wie oben dargestellt), stößt damit aber an die Grenzen meines vernünftigen Kopfes: Die Pseudo-Stringenz und der zunächst nur spielerisch eingeschlagene Ton einer Abhandlung überwältigen am Ende fast alle Doppelbödigkeit. Noch im selben Jahr konnte ich den Text zu einem „literarischen“ erklären und Peter Glaser für seine Anthologie deutscher New-Wave-Literatur, Rawumms, Köln 1984, zur Verfügung stellen. Im letzten Jahr entdeckte die trotzkistische Wochenzeitung SOZ den Text und druckte ihn ganz seriös als halbsatirischen Diskussionsbeitrag. Habent sua fata … ↩︎
    17. Das kündigte dann die 1986 im Hamburger Kunstverein ausgerichtete Ausstellung der drei mit Georg Herold, „Können wir vielleicht mal unsere Mütter wiederhaben!“, an. Zusammen mit einer in Nizza gezeigten Ausstellung der drei, diesmal mit Marcus Oehlen als viertem Mann, war das die letzte größere Zusammenarbeit. ↩︎
    18. Man sprach damals über die Kommunikationsgesellschaft auch oft von der „Nivellierung“ durch „Pluralismus“. Oder mit Félix Guattaris Wunsch und Revolution, Heidelberg 1978, von der „semiotischen Vergiftung“. Oder mit Burroughs von Kontrolle durch Kommunikation. Auch das dachte sich als eine linke antisozialdemokratische Position, deren „antipluralistische“ Variante später in die Hände von Rechten wie Syberberg gefallen ist. ↩︎
    19. Heute kann man „allgemeinverständlich“ darüber reden, weil diese Zeit vorbei ist. Damals hätte eine Interpretation, wie ich sie hier vornehme, nicht nur die sich ja tatsächlich einstellenden Erfolge dieser Kommunikationsstrategie bedroht: Tatsächlich verstanden ja die Guten, und die Doofen wurden genau in dem Maße abgeschreckt wie sie abgeschreckt werden sollten (ohne sie mit „Denkanstößen“ zu ermuntern); darüber hinaus hätte es auch nichts zum Erklären gegeben: Man konnte das Wissen von 1984 ja noch nicht von außen angucken. Auch heute ist „Allgemeinverständlichkeit“ natürlich nur ein Hilfsbegriff, an dem entlang man solche Texte schreiben kann: Der eigentliche imaginäre Adressat wäre eher jener Kunststudent, der heute die Arbeiten der Künstler sieht und als teilweise bereits klassifiziert und kanonisiert sieht, ohne die vielen sie begleitenden Nebenprodukte (Kataloge, Schallplatten und das Soziale, wofür diese Nebenprodukte standen) zu kennen. Schließlich gibt es ja einen auf „Allgemeinverständlichkeit“ zielenden Anspruch auch in Wahrheit ist Arbeit: die Apologie des Museums. Dort hängen heute die Bilder, aber niemand kennt mehr ihren Weg dahin und die Marschparolen, die sie begleiteten. ↩︎
    20. Galerie 1900/2000 (Hrsg.), Pinot-Gallizio – le situationisme et la peinture, Paris 1989. ↩︎
    21. Im Interesse der Allgemeinverständlichkeit: Totengräber der Geisteswissenschaft kann auch ein „dickes Lob“ sein. ↩︎
    22. Die Vorstellung, das Genießen der eigenen Entfremdung als dem aus warenförmiger Kultur gestanzten eigenen Seelenleben sei eine Möglichkeit, zum einen die herrschenden linken Vorstellungen von Warenförmigkeit eines besseren zu belehren wie auch die objektiv warenförmigen Anteile am eigenen Seelenleben zu überwinden, leitete die Begeisterung für den britischen Pop von 1982 (ABC, Dexys Midnight Runners etc.). Sie erwies sich erst als problematisch als die Eurythmics auftauchten, die genau diesen Stil wieder in eine „eigentliche“ Kunst umwandeln wollten, die von Annie Lennox’ Innenleben spricht, als gäbe es da was zu entdecken. Die Trash-Version wiederum davon stellen Roxette dar. Sie sind leider trotzdem unerträglich (und alle unsere Theorien falsch?). ↩︎
    23. Es ist aber wichtig, sich klar zu machen, daß das ostentative Ignorieren „korrekter“ Bezeichnungen sich strategisch gegen als Aufgeklärtheit ausgebenen Terror richtete (im antisozialdemokratischen Paradigma), während man heutigen p.c.-Sprachgebrauch schon deswegen rechtfertigen kann, weil der naive Gebrauch wieder der unkorrekte ist, der korrekte wieder der unnaive: Das war damals genau umgekehrt. „Politische Unkorrektheit“ war eine linksradikale Position, und in Behindertengruppen setzte sich die Selbstbezeichnung „Krüppelbewegung“ durch. ↩︎
    24. Von Mark E. Smith auf dem Inner Sleeve von The Fall, This Nation’s Saving Grace, London 1986, abgebildeter Zeitungsausschnitt: Sein Wort galt damals (auch schon ’84: Er stellt einen der wenigen, geistesverwandten Zeitgenossen aus der Punk-Welt dar, der noch heute aktiv ist). ↩︎
    25. Da die Feindbilder Sozialdemokratie/Hippietum verschmolzen, hatte das damals eine gewisse Berechtigung: An ihrem „politisierten“ ungenauen Idiom solltest du sie erkennen. Zu der Trübheit derer, die immer noch an dieser Front Leichen zu Gefangenen machen, siehe Anm. 12. ↩︎
    26. Die Passage, die das Essen im „Hofrestaurant“ als Rahmenhandlung benutzt, verweist natürlich auch auf die Neuheit kunstbetriebsimmanenter Rituale im Leben der betreffenden Künstler. Wahrscheinlich wären weder die Prominenten noch der Namen des Restaurants später noch der Rede wert gewesen: Klaus von Dohnanyi tauchte immer öfter auf Vernissagen bei Ascan Crone auf: aber dann war er auch nicht mehr Bürgermeister. ↩︎
    27. Noch blöder ist nur die heute verbreitete Fundamentalopposition gegen „die Politiker“, von rechts (Weizsäcker) bis ganz rechts (kleiner Mann). Ein Politiker, der in der Lage ist, sich einen schönen Lenz in der Toskana zu machen, ist natürlich sympathischer als der „Diener eines Staates“. ↩︎
    28. Büttner, Kippenberger, Oehlen, Wahrheit ist Arbeit, a.a.O.,S. 28f. u. S. 82. ↩︎
    29. in: Peter Keepnews, Linernotes zu Art Blakey & The Jazz Messengers: One For All (1990), S. 10. ↩︎
    30. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, S. 16. ↩︎
    31. aus dem Gedächtnis aus einem anderen Büttner/Oehlen-Text zitiert. „Facharbeiterficken“? ↩︎
    32. Luhmann, Gesellschaft, a.a.O., S. 218. ↩︎
    33. vgl. besonders die endlose Namensliste in A. Oehlens autobiographischer Notiz. ↩︎
    34. A. Oehlen erklärte einmal, daß an dem beladensten Symbol überhaupt am besten zu klären sei, ob Kunst überhaupt einen Inhalt haben könne; und wenn ja, zu welchen Bedingungen. Die Referenz Lorenz korrespondiert damit, insofern als seine Texte wie später auch immer wieder Hitler-Zitate im Kontext von Oehlen-Publikationen/Bildern/etc. etwas sagen, was sowieso gesagt werden muß, aber durch die Schwere der Referenz jede Selbstverständlichkeit von Aussagen unmöglich wird. Das geht über die seinerzeit moderne, vernunftkritische Meisterdenker-Verfolgung weit hinaus: die Unmöglichkeit der unblutigen Referenz – jeder ganz normale Satz unterhält Verbindung zu Völkermorden, und nicht nur Gedichte. ↩︎
    35. Büttner, Kippenberger, Oehlen, Wahrheit ist Arbeit, a.a.O., S. 29. ↩︎
    36. Luhmann, Gesellschaft, a.a.O., S. 219. ↩︎
    37. Luhmann könnte einwenden, daß dies wiederum eine „neue“ ästhetische Tatsache produziere. Damit würde er allerdings die Voraussetzungen verkennen, die für Künstler galten, die zu arbeiten begannen, nachdem „Neuheit“ eine Ideologie geworden war und es daher plausibel wurde – für alle Künste, vgl. Punk –, mit der anderen Seite dieser Unterscheidung, dem, was früher Scharlatanerie geheißen hätte, zu arbeiten. Wie sie über diese Verweigerung wieder „Neuheiten“ herstellten, werden wir sehen: Das war aber 1984 nicht nur noch nicht absehbar, die Konzentration auf die „Scharlatanerie“ funktionierte noch unmittelbar als „Kritik“ und konnte ein sozial funktionierendes Außen/Anderes der Kunstwelt konstruieren. Luhmann berücksichtigt weiterhin nicht, daß beim Akzeptabelmachen des Neuen die wichtigste Arbeit zu leisten ist: Da das Akzeptierte als einst Neues akzeptiert wurde, wird der Grad der Akzeptiertheit auf den Grad der Neuheit bezogen. Wer da keinen Schwebezustand herstellt, dem ergeht es wie Calder: Das besonders Neue wird als besonders Akzeptiertes banal, während der Schwebezustand zwischen „neu“ und (immer schon) „akzeptiert“ etwa bei Jorn, Broodthaers etc. brisanter blieb. Vgl. Dickhoff/Prinzhorn, Oehlen, a.a.O., S. 22: „Überlege doch einmal, was für ein immenser Schritt das war, als Alexander Calder von was weiß ich, womit der angefangen hat, zum Mobile gefunden hat, der wird sich wahrscheinlich im Atelier kaputtgelacht haben mit seinen Assistenten, was für ein Schock das sein wird, daß seine runden Scheibchen jetzt durch die Luft schweben, und das ist heute als Erfindung außerhalb jeder Diskussion, nicht mal mehr originell – gar nichts, einfach nur Calder und Geschaukel.“ ↩︎
    38. Sie können aber nicht mehr Calder werden, weil ihre Arbeitshypothese eine andere Unterscheidung war: nicht „Neuheit/Fehler“, sondern „Scheitern/Gelingen“. ↩︎
    39. Auch wenn diese Sicht von Dolphy im Text nicht deutlich wird. Ich erinnere mich genau. ↩︎
    40. Die besonders Schönheiten ja vor allem auch darum hervorbringen konnte, weil sie aus dem Luxus schöpfen konnte, sich als Feind einen Herrschaftstyp herauszusuchen, der im Vergleich noch zu den erträglicheren zählte. Vgl. auch Jello Biafras Revision seines gegen den damaligen kalifornischen Gouverneur Jerry Brown gerichteten antiliberalen Klassikers „California Über Alles“, den er nach der Wahl Reagans mit dem neuen Text „We’ve Got A Bigger Problem Now“ zu singen pflegte. ↩︎
    41. In „Foucault révolutionne l’histoire“ in: Comment on écrit l’histoire, Paris 1979, deutsch: Der Eisberg der Geschichte, Berlin 1981. Ohne zu erwähnen, daß es diese Ausgabe gibt, veröffentlichte Suhrkamp den Text vor kurzem noch einmal unter einem anderen Titel. ↩︎
    42. „ERKLÄRUNGEN ZUR MALEREI abzugeben, ist gerade dann besonders schwachsinnig, wenn der Maler die These vertritt und die Malerei die These belegen soll, daß die Malerei denselben Gesetzen gehorcht, wie die Sprache, der man sich bekanntlich bedient, um Erklärungen abzugeben“, schreibt Albert Oehlen einleitend zu Der Übel, Graz 1987. Das klingt, als gelte dies für alle Malerei, was sein mag, aber es wird in der Regel nicht aktualisiert. Daß Oehlen in diesem Bewußtsein malen konnte, scheint mir darin begründet, daß er die Illusionen des semantischen Theaters auf die Spitze getrieben hat, bis zu dem Punkt, wo die Konstruierbarkeit und Kontrollierbarkeit von Jive sich auf die Malerei übertragen ließ. Nur so konnte die Malerei wieder eine Praxis werden, die gerade dadurch, daß sie Sprache wird, die Illusion der Semantik in der natürlichen Sprache hinter sich lassen kann. ↩︎