Ich liebe es, wie das Zeug bei euch Verwirrung stiftet.
Greg Tate über die Hip-Hop-Rezeption in Deutschland
Differenz verbindet.
Fredric Jameson, Postmodernism, The Cultural Logic Of Late Capitalism
Ein Volk regeneriert sich durch Emanation spontaner Elemente.
Gottfried Benn
I
1. Malcolm in Rostock
Rostock erlebte ich in Österreich. Das hatte den Vorteil, daß man am Kiosk nicht nur den Spiegel kaufen konnte, der die dortigen Ereignisse zur „Wut auf den Staat“ verklärte, der alten polizeilichen Strategie folgend, den Unterschied zwischen Anarchisten und Nazis zu verwischen (dem die juristische Strategie entspricht, die Angreifer nach den gleichen Paragraphen abzuurteilen wie die Verteidiger: Angriff auf Polizeibeamte und nicht Mordversuch an Asylbewerbern), sondern auch das österreichische Spiegel-Pendant, das Nachrichtenmagazin profil, das auf das Titelbild geschrieben hatte: „Die deutsche Schande“. Den Österreichern war noch etwas anderes aufgefallen, das man in keiner deutschen Zeitschrift lesen konnte: Einige der Angreifer hätten Malcolm-X-Kappen getragen. Mit dem so geschärften Blick konnte man unter den durch die Dunkelheit huschenden Typen, die einem Abend für Abend als Übertragung aus Quedlinburg, Wismar, Schwerin und anderen O-Orten, aber eben auch aus Mannheim-Schönau schemenhaft ins Wohnzimmer übertragen wurden, bald einen repräsentativen Querschnitt der bekannten jugendkulturellen Typen erkennen: langhaarige Dinosaur-Jr.-Typen, Homies mit allen Arten von Kappen, bunte Techno-Typen – kurz all die, für und über die ich seit Jahren schreibe, in der mal mehr, mal weniger angezweifelten Vorstellung, sie seien entweder so etwas wie Subjekte korrekter politischer Kämpfe oder Symptome des jeweils neusten Stands der Dinge. Mein und anderer Leute Schreiben war geerdet in der Vorstellung, daß in bestimmten Dresscodes und bestimmter Musik Inhalte, die „heiligen“ Inhalte der Auflehnung, die Marxschen „Träume von einer Sache“ und die Marcusschen Lippenstift-Spuren besser geschützt und aufgehoben sind als anderswo (zum Beispiel in der rationalen Formulierung, der Propaganda, der Soziologie, dem Verbesserungsvorschlag, dem Dialog mit dem System etc.).
2. Eine Eleganz des Widerstands
Daß jede Jugendkultur von Klassenverhältnissen, regionalen und politischen Besonderheiten, Marktverhältnissen und Staatsverhältnissen mitcodiert ist, ist klar und oft am Detail demonstriert worden. Wie Jugendkultur gerade die feinen Unterschiede klassenspezifischer Geschmacks-Praxis reproduziert, ist vielleicht noch nicht oft und deutlich genug dargelegt worden. Dennoch kann gerade ein Empfinden von Eleganz, sozusagen „metaphysischer“ Eleganz, als Zeichen eines Wissens aus vielen Lebenserfahrungen, die sich in Produkten und Sprachen der Jugendkulturen äußern, nicht herausgelöscht und als klassenspezifischer Geschmack und jugendspezifische Frechheit allein nicht hinreichend erklärt werden. Etwas, das als Bedeutung vielfach ruiniert, als Form verunstaltet, als Mitteilung mißverstanden immer wieder unvorhergesehen auftauchen kann: eine radikale Fremdheit und ein totales Nichteinverstandensein, das man bei Robert Johnson, Eric Dolphy, Just Ice oder Ninjaman ebenso heraushören kann wie bei Captain Beefheart, Laura Nyro, Annette Peacock oder Peter Hein. Das man bei den großen politischen Bohemiens dieses Jahrhunderts, von Carl Einstein bis Franz Jung, Arthur Cravan bis Guy Debord liest und das sich oft selbst nicht anders zu helfen weiß, als sich für romantisch, illusionär, falsch zu halten oder vor sich selbst zu Parteipolitik und Naturwissenschaften zu fliehen. Greil Marcus beschreibt diese Eleganz als überhistorisch menschlich, ich sehe in ihr die Spur einer immer auch historischen Reibung, wo einer im Recht war gegen die auch konkrete Seite der Verhältnisse. I fought the law …
3. Eine seltsame Substanz …
Was man mit dieser Eleganz macht, wie man sie noch in den spätesten und ruiniertesten Verfallsformen wiedererkennt und wie, ob und wo sie sich regeneriert, können wir jetzt nicht wissen. Es ist nur wichtig, diese seltsame Substanz, die vor unseren Augen immer in ihre eigenen Verklärungen zerfällt, als einen Ausgangspunkt, einen mathematischen Nullpunkt mitzudenken, im Kopf zu behalten, wenn wir uns mit möglichen Katastrophen jugendkultureller Codes und den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien beschäftigen.
4. … in der Hood
Mit einem Kollegen und zwei in Deutschland lebenden Afro-Amerikanern sehe ich den Film Boyz N The Hood von John Singleton, um eine Rezension für konkret zu schreiben, in der ich unter anderem gegen eine bestimmte zu erwartende linke Kritik präventiv behaupten werde, daß die von dem Film betriebene Glorifizierung der schwarzen Familie, insbesondere der Rolle des Vaters aus zwei Gründen zu rechtfertigen ist: erstens, weil die Kritik der bürgerlichen Kleinfamilie nicht für jede Familienform auf der ganzen Welt automatisch gilt, und zweitens, weil eine Maßnahme wie „Erziehung“, „Identitätsbildung“ etc. immer von dem Kontext abhängt, in dem sie stattfindet. Die Kritik der Waffen rechtfertigt noch nicht den unbedingten Pazifismus, die Gewaltlosigkeit. Identität und Familie sind Waffen, böse Waffen, aber es gibt Lagen, wo man sie einsetzen muß. Es hilft nur Identität, wo Identität herrscht.
5. 5%er und Skins
Nach dem Film sitzen wir beisammen und trinken Cappuccini. Es ist Mittag, und die kulturisierten Monaden floaten freundlich an uns vorbei. Einmal mehr geht es um die sozialen Ursachen für Bandenbildungen und um Style und semiotische Territorien, in und mit denen gekämpft wird. Die beiden Afro-Amerikaner lassen sich von uns die Geschichte der Skinheads erzählen, von den englischen Anfängen, über die ersten deutschen Übernahmen im Zuge der Punkbewegung, über linke und rechte Skins und die Zoni-Skins, die unserer Meinung nach erst rechts waren und dann die Skinhead-Uniform fanden, nicht umgekehrt wie bei vielen Westskins. Nachdem wir unsere Ausführungen abgeschlossen haben, antwortet der Jüngere der beiden: „Das ist ja exakt dasselbe wie die 5%er.“ Er war selber als Teenager von 5%ern rekrutiert worden, war kurz Mitglied der Organisation, die ihm durch die Pubertät half, durch Schießereien an Schulen und Verlusten von Freunden an die vielzitierte urbane Gewalt. Bis er schließlich nach Deutschland entflohen war.
6. Tribes
Die 5%er und die Skins – kein deutscher Journalist, der einigermaßen bei Sinnen ist, würde wagen, sie zu vergleichen. Dennoch gibt es natürlich Gemeinsamkeiten zwischen allen Notbandenbildungen. Zur Zeit wird ja auch in der deutschen Öffentlichkeit versucht, den subkulturellen oder gegenkulturellen, ja arbeiterkulturellen Anteil an der Skin-Geschichte zu klären und von dem Rechtsradikalismus zu trennen, für den Skins bekannt sind. Das geschieht zum denkbar falschesten Zeitpunkt. Nicht nur, daß sich der Versuch, Arbeiterjugendkultur über Skins zu rekonstruieren, heute von alleine disqualifiziert, anders als circa ’79 und dann wieder sichtbar ’84, als auch linke und apolitische Skins gegen die kleinbürgerliche Hegemonie in der Jugendkultur antraten: Es ist auch nicht viel davon übrig, und die immer schon vereinfachende Gleichung Skins=Nazis, die noch nie gestimmt hat, trifft heute ja fast zu. Auf der anderen Seite stehen die 5%er: eine tribalistische Elitetruppe des Black Nationalism, die sich über Geheimlehren, Zahlenmystik, den Glauben an den Original Man aus Afrika, den Asiatic Black Man definieren, gegen den weißen „Mystery God“ aussprechen – dafür darf sich jeder 5%er God nennen –, ihre Frauen Earths und ihre Kinder Seeds nennen und ansonsten den religiösen Wahnsinn des Elijah Muhammad nachbeten. Doch als Ergebnis bringen sie Verfeinerungen und Erweiterungen der Hip-Hop-Zeichensprache hervor, erobern nach und nach die Dominanz in der Rap-Kultur der Ostküste und werden zum Modevorbild für Jugendliche in aller Welt mit ihrem afrocentric Dresscode. Skins in Deutschland spielen die schlechteste Musik der Welt ein, hauen Leute tot, und alle typischen Erkennungszeichen eines jugendkulturellen Tribes sind bei ihnen nur in der denkbar rudimentärsten und unentwickeltsten Form vorhanden. Dennoch müssen sie als jugendkultureller Tribe gelten: Regenwurm und Löwe sind beide Tiere.
7. Unüberhörbare Inhalte
Anfang ’93 treten die Brand Nubian, die populärste 5%er-Band in L.A., bei einem Benefit für aidskranke Kinder auf. Als sie am nächsten Tag erfahren, daß sie in einem wichtigen schwarzen Schwulenclub aufgetreten sind, distanzieren sie sich von der Show, Homosexualität sei nun aber das Letzte, womit sie in Verbindung gebracht werden wollen, schließlich seien sie für den „natural way“. Kurz zuvor war eine Erschütterung durch die Welt der Dancefloor-Musik gegangen, als der Dancehall-Reggae-Nachwuchs-Star Buju Banton einen aggressiv schwulenfeindlichen Hit hatte. Normalerweise achten Tanzende nicht auf Texte. Aber schon Hip-Hop hatte Leuten Inhaltlichkeit aufgezwungen, die sich freiwillig nicht um Verhältnisse scheren würden, die ihrem Leben so unähnlich sind. Und diese Inhalte sind nicht nur für Hedonisten und Spießer unangenehm, sie sind auch für Linke unangenehm und alle, die in Jugend- und Gegenkulturen eine politische Perspektive gesehen haben. Und sie dringen selbst durch so schwer verständliche Sprachen wie jamaikanisches Patois.
Wenn Hip-Hop schwulenfeindlich sein kann, wenn die alten Kriterien für Befreiung wie der Tabubruch, das spontane Ereignis, der Rausch umstandslos von Nazis übernommen werden können, dann scheint es ja angezeigt, von diesen Kategorien Abschied zu nehmen und Hip-Hop und Raggamuffin nur noch als Symptome falscher Verhältnisse zu lesen. Ich habe ersteres in der ersten Fassung dieses Textes in Spex 11/92 getan, darüber hinaus versucht, auch frauen- und schwulenfeindliche Texte, Mord- und Vergewaltigungsphantasien in einen Kontext zu stellen. In diesem Text, der ursprünglich auf den allzu vertrauensseligen Umgang mit Begriffen wie Revolution, Staatsfeind etc. im Zusammenhang mit Pop-Kultur in Spex bezogen war und dann von Rostock und seinen Nachfolgern durchkreuzt wurde, forderte ich, vom Konzept Jugendkultur mit allen angegliederten Unter-Ideen wie Pop, Underground, Dissidenz durch symbolische Dissidenz, Tribalismus, Revolte, Abgrenzung etc. zunächst mal Abschied zu nehmen. Sie scheinen nicht mehr in der Lage, die fundamentale Differenz, die allen Projekten zugrunde liegt, die wir je in jugendkultureller Praxis gesehen haben, festzustellen: den Unterschied zwischen Nazis und ihren Gegnern.
II
8. Der schlechte Zusammenbruch
Was sich seit 1990 in der ganzen Welt abspielt und in Deutschland auf besonders fiese Weise gespiegelt und verstärkt wird, ist die Zuspitzung der Bewaffnung mit Identitäten und immer mehr Ausbrüche von Identitätskriegen, die im Gegensatz zu früheren Style Wars nicht nur semiotisches Territorium umkämpfen. Es ist der schlechte Zusammenbruch von Verhältnissen, deren guten Zusammenbruch alle Ideen von Rebellion und Dissidenz, so wie sie in Jugendkulturen aufgehoben waren, als Utopie formuliert hatten. Als deren Vorausschein empfand man unausgesprochen das Ereignis (Konzert, Trip, Rave, Festival). Das Ereignis ist zwar nicht an die Rechten gefallen, aber in Zeiten des falschen Zusammenbruchs von Ordnung ein protofaschistischer Zusammenhang geworden.
9. Kommunikation unangepaßter Idyllen
Pop z. B. galt uns im günstigsten Fall als ein Kommunikationssystem, das nicht abgehört werden konnte und das für einen schnellen Austausch von Nachrichten von einer gelebten oder nur erträumten Eleganz der Existenz sorgte. Der Jugendliche oder der Bohemien, der angeschlossen war, lebte in den Metropolen des Westens, aber „seine Lebensform umspielte die kommende, trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer. Er steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklassen. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause“ (Benjamin). Er ist der „Fremde“ (Simmel) und da er noch mit einem Bein draußen steht, kommuniziert er mit einem Draußen, dem schwarzen Weltghetto, der 80% Weltbevölkerung, die innerhalb der Festung Metropole nicht wahrgenommen werden kann, ohne dafür edle Motive zu haben. Er ist neugierig, und ihn erreichen die Beats, oft auf den Umwegen über weiße und mitteleuropäische Imitate. Seit Hip-Hop aber fordert das schwarze Weltghetto eine inhaltliche Auseinandersetzung, es fordert mehr als die Selbstverständigung zwischen den jungen Metropolenbewohnern leisten kann: die Überwindung der Weltsegregation zwischen westlichen Metropolen.
10. Jugend als Markt- und Politiksubjekt
In Amerika erfand man in den fünfziger Jahren das Konzept Jugend. Es war ein kapitalistisches Konzept, ein neuer Markt. Dieser Aspekt ist dem Konzept Jugend nie verlorengegangen: Es blieb ein kapitalistisches Konzept, aber es war trotzdem in der Lage, in einem progressiven und begrenzt antikapitalistischen Sinne geschichtsmächtig zu werden – insofern war es auch als Gegenbeispiel zu allen Thesen von der totalisierenden Wirkung des Kapitalismus zu gebrauchen. Zur gleichen Zeit und auf verschlungene Weise verbunden damit entstand die Bürgerrechtsbewegung der amerikanischen Schwarzen. Rosa Parks’ Weigerung, ihren Platz in einer für Weiße reservierten Sektion in einem Bus aufzugeben, und der Ruhm von Elvis Presley gehören zusammen: In beiden Fällen melden sich neue historische Subjekte. So wie sich in Jugend das kapitalistische System reformierte, so reformierte sich in der Bürgerrechtsbewegung und dem mit ihr verbundenen liberalen Schub die parlamentarische Demokratie der USA mit ihren hehren Gleichheitsgrundsätzen. All jene heute umkämpften und bedrohten bürgerlichen Freiheiten stammen aus dieser Epoche. An ihrem Ende steht, wie bei jedem Reformismus, der erste Katzenjammer, der zur Radikalisierung führte: bei den Trägern des Konzepts Jugend ebenso und zur gleichen Zeit wie bei den enttäuschten Vertretern der Bürgerrechtsbewegung.
11. The White Negro
Norman Mailer hatte schon 1957 die beiden Konzepte in seinem Essay „The White Negro“ zusammengedacht, der noch heute umstrittene Diskussionsgrundlage für den Zusammenhang zwischen schwarzer amerikanischer Kultur und amerikanischer Jugendkultur darstellt. Selbst Eldridge Cleaver widmet ihm in Soul On Ice mehrere Seiten freundlicher Beachtung. Doch auch Mailer, der in der Identifikation der Beatniks mit schwarzen Künstlern eine Identifikation mit amerikanischen Werten schlechthin sah, konnte nur generell „Neger“ wahrnehmen. Auch er war gegenüber der Komplexität blind, daß illegitim kulturisierte weiße Mittelklasse-Dropouts sich für die Musik und den Lebensstil der neuen schwarzen Mittelklasse-Jugend (Bebop) begeisterten, während in anderen, weniger literarisierten Bereichen der US-Kultur die Vermischung der schwarzen Populärkultur mit nichtschwarzen Jugendkulturen in einem viel direkteren Sinne als reine Imitation stattfand (im Süden, beim Proto-Rock’n’Roll).
12. Bio- und Soziologie
Die Kategorie Jugend verknüpft auf problematische Weise Biologie und Soziologie. Soziologisch ist der Jugendliche „draußen und frei“, „footlose and fancy free“, weil er nicht „richtig“ arbeitet, niemanden ernähren muß, biologisch, weil die Lebenssäfte frischer sind und die allgemeine Auszehrung und Versaftung, die ja eine gesellschaftliche und eine biologische Seite hat, ihn noch nicht um sein primäres Menschentum gebracht hat. Auch hier eine bezeichnende Nähe zur Kategorie der „Rasse“, dem anderen großen Kompositum aus biologistischen und sozialen Zuschreibungen (mit dem Unterschied, daß „Jugend“ auch ein medizinisch objektivierbares Faktum darstellt, „Rasse“ hingegen nicht). Aufgeklärte und Linke machen an dieser Stelle den Fehler, mit der Problematik der beiden Kategorien auch die darauf aufbauenden sozialen Realitäten mit dem Bade auszuschütten. Henry Louis Gates Jr. sagte neulich ganz richtig im Radio: „Klar ist ‚Rasse‘ eine soziale Konstruktion, aber auch Pasta ist eine soziale Konstruktion, und trotzdem schmeckt sie.“ Beide – „Rasse“ wie Jugend – werden sowohl als Zuschreibung, Entmündigung und Zwang eingesetzt, als auch, um im Moment des Mit-einem-Fuß-in-der-Tür-Stehens, Forderungen zu formulieren, beide leisten das, was Identitäten leisten können: Sie sind wie Baseballschläger und werden in der Regel von der Macht benutzt, aber wenn das der Fall ist, ist man auch gezwungen, sich mit ihnen zu wehren.
13. Neue Subjektivitäten
Am Ende der Radikalisierung des schwarzen Widerstands wie der Jugendkultur und wiederum ihres Scheiterns entstehen neue politische Subjektivitäten: Feminismus und Schwulenbewegung, in ihrem Gefolge im Laufe der Siebziger Regionalismus, Mikropolitik, Bürgerinitiativen und Autonome. In Europa setzte sich nur schleppend gegen den orthodoxen Marxismus durch, daß es keine Haupt- und Nebenwidersprüche mehr gäbe, sondern gleichberechtigte. Die vielen neuen Subjekte der Geschichte erübrigen diesen ohnehin fragwürdig gewordenen Begriff. Daß der Kapitalismus all dies aushalten konnte und stärker wurde, ermutigt die Linke zu dem Zirkelschluß, daß all diese Bewegungen eben gar keine Geschichte gemacht hätten, weil sie sonst den Kapitalismus hätten abschaffen müssen. In Amerika aber mußte sich nichts gegen einen Marxismus durchsetzen, weil es keinen gab. Das sollte Folgen haben. Während sich in Amerika Race, Class, Gender, Youth, Sexual Identity zu allen möglichen und unmöglichen Koalitionen zusammenfanden und wieder abstießen, konnte hier die Perspektive nur Anti-Imperialismus heißen; die anderen politischen Subjekt-Positionen verkümmerten. Heute kommen sie über den US-, p.c.- oder EG-Nachbar-Import als windelweicher Multikulturalismus Marke Geißler oder Cohn-Bendit an: nicht als Selbst-Vertretung der Ausgeschlossenen, sondern als schadensbegrenzende Fußgängerzonen-Zivilgesellschafts-Verwaltungsmaxime, die über den herrschenden Kultur- und Fremdheitsbegriff den Nichtdeutschen eine Fremdheit und Differenz zuschreibt, die sie auf die Rolle von Repräsentanten von Andersartigkeit festschreibt. Einmal stigmatisiert geht der Umschlag vom positiven Stigma (bunt, Kebab, Folklore) zum negativen („rivalisierende Türkengangs“, „fremder Kulturkreis“ [Augstein], „Kanaken“) ganz schnell. Identität betrachte ich als Waffe, die dort, wo eine gewisse Form von Gewalt (u. a. Identität) herrscht, also Zugangsberechtigung zu Kultur und Kapital verteilt, zur Selbstbewaffnung unerläßlich ist. Nicht immer zu verhindern ist dabei der Exzeß, also entweder ein übertriebener Glaube an diese Identität oder der Verlust des Unterscheidungsvermögens zwischen rassistisch zugewiesener und „selbstbestimmter“ Identität. Ghettobewohner sind im höchsten Maße Komplexität ausgesetzt. Nicht nur, daß sie nicht über die Bildung und damit Lebensmittel, die Komplexität zu reduzieren helfen, verfügen, ihr Alltag ist darüber hinaus auch der wirklich komplizierteste, weil ungeordnetste, kontingenteste und durch Rassismus noch zusätzlich übercodierte. Rassismus ist ja nicht, wie vielfach behauptet wird, eine Reduktion, sondern das Gegenteil. Rassismus stellt der ursprünglichen, unklaren Selbstbeschreibung eine zweite öffentliche, offizielle Spiegelung zur Seite, die sich nicht abschütteln läßt. Diese Belästigung läßt sich tatsächlich mit dem vergleichen, was Jugendlichen in der Pubertät widerfährt: wenn der unklaren Selbstbeschreibung plötzlich von außen andere Zuschreibungen hinzugefügt werden und sich nicht abschütteln lassen.
14. Innere Unordnung und äußere Ordnung
Der Jugendliche und das Rassismus-Opfer haben also unter völlig anderen Voraussetzungen doch gewisse Erfahrungen gemeinsam. Dagegen bewaffnen sie sich mit Identität. Konventionellerweise geht man immer davon aus, Jugendrebellion und sogenannte Rassen-Unruhen, also Ghetto-Aufstände, würden Unordnung in ein ordentliches System injizieren. In Wirklichkeit wird nur die innere Unordnung, Mehrfachcodierung, Schizophrenie umgestülpt, auf der Bühne der Verhältnisse aufgeführt, die dort ordentlich aussehen, wo sie eben besonders gewaltsam verhindern. Dieses Umstülpen der inneren unbewältigten Komplexität und also Unordnung schafft in einem eine Ordnung, die der Identität ähnlich sieht. Die innere Unordnung wird beim gelungenen Aufstand den herrschenden Verhältnissen zugemutet. In so einem Moment „richtiges Bewußtsein“ einzuklagen, also das, was erst nach der Überwindung der unordentlichen Komplexität, die den Gebrauch der gefährlichen Waffe Identität verlangt, kommen kann, ist absurd, es entspricht der Aufforderung an Gangmitglieder, keine Waffen zu gebrauchen, ohne ihnen einen Weg anzubieten, wie sie ihre Probleme ohne Waffen lösen können. Ein Problem ist natürlich, daß nicht nur unkontrolliert Waffen, sondern ebenso unkontrolliert Identitäten verkauft werden.
15. Komplexitätsgenuß und Kulturfaschismus
Wer einen Zugang zu Bildung und anderen Mitteln findet, die die Komplexität bewältigen helfen, kann nun die höhere Komplexität der frei gewählten Verhältnisse genießen: die Künste, den Widerspruch, das Paradox, aber auch das Ins-Blaue-Leben der Bohemiens, das die Grenze zwischen gelungener jugendkultureller Identität und bürgerlich-souveränem Komplexitäts-Genuß markiert. Wenn auf der Ebene des bürgerlichen Komplexitäts-Genusses, der auf der souveränen Verfügung von Mitteln wie Bildung, aber auch Distanzierungsmöglichkeiten beruht, wieder nach Reduktion und Identität geschrien wird, meist von im kulturellen Konkurrenzkampf sich bedroht fühlenden Fraktionen der Kulturbourgeoisie – wie von Syberberg und seinen deutschnationalen Anhängern oder von den Feinden des Datenüberflusses und den Kulturökologen –, entsteht Kultur-Faschismus. Es ist die reaktionäre Bewaffnung derer, die Angst um ihre Verfügungsgewalt um kulturelle Mittel oder ihre Partizipation an der Definitionsmacht haben und gleichzeitig in der gegenwärtigen Situation sich berechtigte Hoffnung machen, mit ihren alten Identitäts-Waffen wieder Macht zu erringen. Das rasante Tempo, in dem in den Zentralorganen der rechten Bourgeoisie bis vor kurzem Unaussprechliches aus dem Begriffsfeld des Rassismus und Nationalismus normalisiert wird, unterstützt diese Hoffnungen. Bezeichnend auch, daß bei der Identitätsbewaffnung der nunmehr von Komplexität sich bedroht fühlenden ehemaligen Komplexitäts-Genießer keine künstlichen, synkretistischen Identitäten in Frage kommen wie bei den Rassismus-Opfern (z. B. „fluid black identity“: Rasta-Elemente plus Punk-Rock und Siebziger Pimp-Style. Oder bei den französischen Afrikanern, die französischen Dandysmus mit Elementen aus Zaire verbinden), sondern nur alte nationale Mythen helfen. Wenn die jugendliche oder von Rassismus-Opfern betriebene Identitätskonstruktion sich nun mit der sekundären, bürgerlichen und faschistoiden Identitätskonstruktion in Bildern und Begriffen trifft, kommt es zu Phänomenen wie den Ost-Skins oder den rechten Jugendbündnissen der zwanziger Jahre. Diese Jugendkulturen bringen dann eine Menge von den umgestülpten Zerrissenheiten (bisher genannt: Ereignis, Rebellion, Aufstand, Revolte) als Energie in das faschistische Amalgam ein. Wer ohne primäre Not Identität verlangt, stiftet oder verehrt, ist ein Faschist. Da, wo Identitäten ohne primäre Not angehäuft werden, hat jemand etwas vor. Und zwar nichts Gutes.
III
16. Nation und „Nation“
Rechts und links haben sich erstaunlich schnell geeinigt, daß die gegenwärtigen Tendenzen unter dem Blickwinkel zu lesen sind, dem sie den Namen Nation und Nationalismus (siehe auch seine „Wiederkehr“, „Persistenz“, „Resistenz“ etc.) gegeben haben. Nicht nur Hip-Hop spricht ausgiebig von Nations, nein auch andere Communities im Widerstand wie die sogenannte Gay Community schließen sich zu Organisationen wie Queer Nation zusammen. Ist die Semantik dieses wiederholt gesendeten Begriffs vielleicht auch nur zu einem kleinen Teil mitverantwortlich oder wenigstens symptomatisch für das, was in Rostock geschehen ist? Ist sie wenigstens ein Analogon zu Gorazde, Srebrenica und Sarajevo? Mir geht es gar nicht darum, die „Nation“ in Hip-Hop-Texten zu verharmlosen, wegzurelativieren oder zu ignorieren. Auch halte ich es für unzulässig, unter Anwendung eines alten Pop-Begriffs das Feiern einer „Black Nation“ ungefähr so zu behandeln, wie früher fragwürdige, strategisch eingesetzte Begriffe bei Punk-Rockern, Kim Fowley oder Slayer diskutiert wurden. Wenn. aber schwarze amerikanische Kultur immer nur in der Form diskutiert wird, wie sie bei Jugendlichen ankommt, kommt man zu fragwürdigen Verallgemeinerungen. In 5%er-Texten hat man es aber mit jugendkultureller Identifikation, Anti-Rassismus-Identität und etablierten schwarzen Nationalismus zu unterschiedlichen Anteilen zu tun, also mit Formen von Nationalismus oder Identitäten, die in meinem Modell an unterschiedlichen Stellen stehen. Des weiteren fragt sich natürlich, ob Queer Nation, irischer Nationalismus, die verschiedenen essentialistischen und strategischen Formen von Black Nationalism in den USA, baskischer Nationalismus, kroatischer Nationalismus, palästinensischer Nationalismus, Zionismus und Rostock-Nazis nicht lauter völlig verschiedene Dinge sind, deren gemeinsame Merkmale ein hilflos bis interessiert verwendeter Begriff sind, der Reste von alten Weltbildern stützen soll, deren Zusammenbruch das von ihm beschriebene vorantreibt. Die scheinbar supranationale, also vermeintlich harmlose Veranstaltung Europa dagegen wird zur Voraussetzung einer Festung gegen den Trikont, die schlimmer ist als jeder Nationalismus wäre und Rechten als Argument dient, günstige „nationale Besonderheiten“ wie das deutsche Asylrecht abzuschaffen. Ausländerfeinde verkloppen nie Franzosen, Amerikaner oder Engländer, selten Italiener und Spanier, am liebsten Schwarze. Auf der anderen Seite gibt es z. B. linke Vertreter des Black Nationalism, deren Ziele sich ungefähr mit dem decken, was der linke baskische Nationalismus will: Separation zum Zwecke der Entfaltung von „Eigenheiten“ und damit dann auch der Möglichkeit des Abbaus ihrer Forderung in der mythisierten Form von Nationalismus. Am Ende einer solchen Utopie stünde dann wieder die Möglichkeit aller möglicher Assoziationen. Nur tappen dann auch die baskischen linken Nationalisten in die Falle, wenn sie Glückwunschtelegramme nach Zagreb schicken. Oder wenn sie Chuck D. in einem Interview unbedingt auf die Gemeinsamkeiten der Basken in Spanien und der Schwarzen in den USA vereidigen wollen. Gerade der Falle dieses Begriffs zu entgehen, ist die Voraussetzung, Differenzen wahrzunehmen, die auch erläutern können, warum ein X-Clan-Text okay, ein Ice-Cube-Text widerlich ist (oder umgekehrt), obwohl sich die Betreffenden in „Unity“ einig wissen.
17. Differenz und ihre Differenz
Wenn Fredric Jameson schreibt, daß Differenz verbindet, bringt er die Vorstellung auf den Punkt, die in Pop einen offenen Kanal sehen und nutzen wollte. Das Wort Differenz hat durch die Konjunktur von „esprit“ – Multikultur und rechtem Differenzrassismus, die beide von Differenzen ausgehen, die unumgänglich oder natürlich sind und sich allenfalls in den vorgeschlagenen Gegenmitteln unterscheiden – eine traurige Karriere gemacht, die zum Zeitpunkt von Jamesons Niederschrift noch nicht abzusehen war. Differenz verbindet heißt, daß die in einem Kontakt festgestellten Differenzen den Kontakt überhaupt erst ermöglichen. In der Pop-Musik war immer die Gleichzeitigkeit großer emotionaler Vertrautheit und Unverständnis, Fremdheit, Sprachprobleme für die Bedingungen ihrer globalen Verbreitung charakteristisch. In dem Empfinden dieser Spannung stiftet die Differenz Verbindung, diese Verbindung in der globalen Pop/Underground-Kultur ähnelte in günstigen Momenten dem Rekonstruieren von politischen Subjektivitäten. Das hieß nicht, wie oft mißverstanden, Klasse durch Jugend zu substituieren, sondern durch global verbundene Differenzen von Jugendlichen und Marginalisierten eine einheitlich/unterschiedliche Koalition gegen Segregation und Ausblendung von Weltausbeutungszusammenhängen zu gründen. Dabei konnte niemand hoffen oder verlangen, daß sich die Beteiligten „verstehen“ über Klassen-, Bildungs- und Segregationsgrenzen hinweg, aber man konnte hoffen, daß sie sich nicht bekämpfen. Deswegen war der große Schock nicht die Aggressivitäit oder „Gewaltverherrlichung“ vieler Rapper, noch all die Dinge, die man noch unter schlechtem Benehmen und jugendlicher Frechdachsigkeit abtun oder schätzen konnte, sondern die Schwulenfeindlichkeit und der Sexismus, weil die sich explizit gegen einen anderen Koalitionspartner richteten. Das Ergebnis war, daß die Idee der Differenz nur auf den Campussen dieser Welt überlebte, wo sie leicht schrullig wurde und auf dem Kanalsystem der internationalen Pop-Musik in erster Linie nur noch Verwirrungen stiftet, die aber vielleicht immer noch vielversprechender sind, weil sie keine Ausschlüsse auf Dauer zulassen.
18. Kulturindustrie und Indie-Idylle
Dafür ist das Pop-Business ein zu leicht zu enternder Kanal, das ist nicht nur ein Nachteil, sondern auch ein Vorteil. Das Schallplattenbusiness (und andere Geschäfte mit dem neuen und stark veränderlichen Markt Jugend) war nicht so leicht unter Kontrolle zu kriegen wie andere Segmente der berühmten Kulturindustrie. Als Adorno/Horkheimer diesen Begriff lancierten – zunächst in den vierziger Jahren und unter dem Eindruck von Hollywood-Großproduktionen à la Cecil B DeMille einerseits und der Ideologie von New-Deal-Streifen andererseits – entstand eine ganz andere Variante dieses kapitalistischen Zusammenhangs, der ganz anderen Gesetzen folgen sollte als Hollywood, das sich bald an den Strukturen normaler Unternehmen orientieren konnte. Die Bereiche schwarze Musik, Jugendmusik, kurzlebige Musik, Trash etc. befanden sich in einer Produktionsanarchie, die alle möglichen Interventionspunkte für Vertreter irgendeiner Praxis offen ließ. Nicht nur arbeiteten kleine Firmen, egal ob sie nun idealistisch as in Indie oder frühkapitalistisch as in Sun Records motiviert waren, nach dem Prinzip, daß man nur über Extreme, Steigerungen und Wahnsinn konkurrieren konnte, sondern auch die Großen konnten von real existierender Jugendkultur immer wieder erfolgreich ratlos gemacht werden. Man ist allgemein der Ansicht, daß dies nach Hip-Hop auch noch mal im Falle der Post-Nirvana-Euphorie gelungen sei. Dies könnte allerdings ein Trugschluß sein, wenn man sich ansieht, wie Medienkonzerne – nicht mehr Plattenfirmen, die Majors von einst wären heute größere Indies – aufgebaut sind. Die enge Verknüpfung mit der Hardware-Industrie und die zunehmende Visualisierung mit der damit verbundenen weltweiten Einheitskultur schaffen die Grundlagen für eine Hollywoodisierung, der in Zukunft auch ein ohnehin fast nur noch als Geste vorhandener Underground kaum entschlüpfen können wird. Die Unterscheidung Mainstream/Underground habe ich schon vor Jahren vorgeschlagen aufzugeben, zugunsten einer Unterscheidung wie E/U, wobei E immer das ist, das egal auf welcher Ebene (sozialer, musikalischer etc.) mehr Beschäftigungszeit fordert. Nur ist die Inanspruchnahme der E-Position in dem Moment absurd, wenn die Komplexitäten eines alternativen Sozialen (Club, Underground, lokale Szene) nirgendwo anders hin mehr übertragen werden als an den Ursprungsort: Das ist das Drama der Indie-Idylle.
19. Kann man viszerale Bedeutungen decodieren?
Einen Unterschied macht dabei fast nur noch, was aus Amerika gesendet wird, besonders von schwarzen Amerikanern in allen möglichen Bereichen. Daß dabei hauptsächlich „Nation“ ankommt (als Differenz verbindet) ist in der Tat ebenso das Problem der Sendenden wie der Empfänger. Letztere müßten sich die Mühe machen, Nation und „Nation“ zu unterscheiden (um zu relativieren, anzuknüpfen, zu übersetzen, nicht um eines von beiden stehen zu lassen), erstere nicht wie Public Enemy den Deutschen zur Wiedervereinigung gratulieren, in der durch nichts begründeten Annahme, ein gleich buchstabiertes Wort habe die gleiche Bedeutung. Das ist aber auch der Grund, warum Hip-Hop so interessant ist: Den explicit lyrics, die so ja auch nur von Polizisten genannt werden konnten – bezeichnenderweise –, stehen Erschütterungen gegenüber, die eher viszeral wahrgenommen werden und ihre ganz eigene Explicitness besitzen. Diese sind genauso eindeutig/uneindeutig wie die Sprache, und sie können auch theoretisch eine linke Demo genauso mit Energien versorgen wie ein rechtes Pogrom. Wir wissen zwar, daß in sie sozusagen der Sound von Weltausbeutungsverhältnissen eingeschrieben ist: aber wie darauf zu reagieren ist, ist ihnen eben nicht eingeschrieben, sie sind dann nur Material und Dokumentation und Energie. Unterhalten und Diskutieren läßt sich mit Energie aber nicht, auch nicht mit einer noch so sozial geerdeten, sondern nur mit Leuten, die zu Diskussionen bereit sind. Dennoch ist die Gefahr eines Hijacken linker Bedeutung durch Rechte die geringere Gefahr als die, daß linke Bedeutungen oder auch nur dringend benötigte Waffen gegen ein sauerdummes Leben gar nicht mehr entstehen, wenn sich die Nation Of Islam Hip-Hop ganz unter den Nagel reißt und der Rest an die Plattenindustrie fällt. Die einzigen Rapper, die die Stimmung der Zeit 1993 einigermaßen auf den Punkt bringen, sind Gangster wie Dr. Dre und die Geto Boys, die zwar nur noch von gewalttätigem Chaos erzählen, aber so, daß keiner vergißt, was ihm Bilder aus Jugoslawien aus medienimmanenten Gründen nicht mehr sagen können: wie the other 80% leben. Die anderen, die darüber relevante Beats sendeten, waren Ice Cube, der „organische Ghetto-Intellektuelle im Gramscischen Sinne“ wie ihn James Bernard nennt, und die Brand Nubian, also die heftigsten und brachialsten Islamisten.
20. Richtige und falsche Übersetzungen
Das Funken von „Nation“ zu Dopebeats ist wirklich gefährlich: Wenn selbst die irischen Rapper Marxman, die sich auch noch explizit (sic!) Marxisten nennen, weder Marx noch der Dopebeat daran hindert, eine triefende, blutundbodelnde Nationalhymne zu dichten („So sad“), in der „our daughters“ vergewaltigt werden – die Konjunktur, die vergewaltigte Frauen für die Gründer von Nationen haben, läßt sich ja auch beobachten, wenn sie in den Medien nie ohne ihre ethnisch-nationale Zugehörigkeit genannt werden – und der berechtigte Zorn auf britische Besatzung zu einem Pathos führt, das sich kein Nation-Of-Islam-Rapper je getraut hat, wird etwas deutlich von den vielen Gefahren, afro-amerikanische Populär-Kultur (als „secondary oral culture“, wie sie Walter Ong beschreibt) bruchlos in falsche europäische Sentiments zu übersetzen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage an die Kritik, die u. a. Günther Jacob in Spex und Szene Hamburg mit der Forderung beantwortete, man müsse erst einmal alles 1:1 verstehen. Abgesehen davon, daß es höchst fraglich ist, wie ein 1:1 noch möglich ist, wenn es sich um durch Reime und Alliterationen, Jive-Konventionen und Doppeldeutigkeiten hochcodierter Texte handelt, die sich zudem auf sehr lokale Verhältnisse bezogen haben und sich Freunde und Familie als imaginäres Publikum vorgestellt haben, bevor sie die Kulturindustrie auf Weltreise geschickt hat, abgesehen davon fragt sich, was ist 1:1, wenn so offensichtlich eine Bedeutung ohne Worte ankommt: der Groove, die Beats, auch die Aggression, der Widerstand, das Zusammengehörigkeitsgefühl; und nur in Spuren das, was Erwachsenen so große Sorgen macht: Sexismus, Homophobie, Nationalismus und Antisemitismus. Heißt 1:1, das ideologische Substrat in den Mittelpunkt jeder Kritik an jugendkulturellen Hervorbringungen zu stellen, die ohne all das offensichtlich als Jugendkultur einwandfrei funktionieren? Denn in der beobachtbaren deutschen und zentraleuropäischen Hip-Hop-Youth-Culture gibt es nicht weniger Linksradikalismus, Widerstandsbereitschaft, Witz und Eleganz als in vorangegangenen und keineswegs mehr Sexismus und Homophobie als unter Punk-Rockern (mal von den ausgesprochen antisexistischen, aber keineswegs antirassistischen Anfangstagen abgesehen). Der Unterschied ist nur der, daß junge Leute – via Faszination – ständig und immer wieder gezwungen werden, sich die Gedanken von Rassismus-Opfern und Weltausbeutungsopfern anzuhören, statt sich „eigene“ Vorstellungen zu machen, in der sie nur als Profiteure der Weltordnung auftauchen konnten (wie in vielen Popkulturen der Achtziger, egal wie klar sie sich darüber waren, daß das „Safe European Home“ [The Clash] ein unverdientes Privileg darstellte). Die bloße Anwesenheit dieser Gedanken und ihre viszeral wahrgenommenen Begleitgeräusche ist trotz aller Mißverständnisse und Ausbeutung mehr wert als vorangegangene, globale Verhältnisse ignorierende Youth Cultures. Auf der anderen Seite ist die Tendenz, dem Zwang zur Auseinandersetzung, dem Zwang zum Inhalt (der von Rap nachdrücklich ausgeht), fast differenzrassistisch mit dem Argument, „die sind eben anders“, zu entkommen zu versuchen, eine konkrete Bedrohung für die Erfolge von Hip-Hop beim Überspringen von Segregationsschranken.
21. Künstlichkeit und Identifikation
Wenn man heute mit irgendwelchen linken schwarzen Intellektuellen in den USA redet, gibt es zum Thema des Black Nationalism kaum je ganz klare Positionen der Zustimmung oder Ablehnung. Jeder lehnt die Nation Of Islam ab, aber immer unter dem Vorbehalt, daß sie doch gute Arbeit gegen Drogen in der Community tue, keiner lehnt die Idee des Nationalism ganz ab, obwohl die meisten in irgendwelchen Dekonstruktions-Projekten stecken, bzw. gerade deswegen. Wer in einer Kultur lebt, wo die Künstlichkeit und Konstruierbarkeit von Identitäten Alltag ist und keine Linke, sondern nur Rechte noch an Person, Autor, Familie, Verantwortung, Authentizität etc. glauben, für den ist es auch kein Problem, sich einen relativen, strategischen Rahmen für eine Nation zu konstruieren. Nur daß man darüber nicht mehr mit Pop kommunizieren kann und schon gar nicht über die Domäne des Pops: Gefühle. Als Gefühl kann das Wort „Nation“ natürlich nur falsch ankommen (ganz abgesehen davon, daß es bei vielen Hip-Hoppern auch falsch gemeint ist). Und das hat eine Konsequenz für die Kritik von Pop-Musik: Schreiben über Musik und begleitende wie hervorbringende Erscheinungen kann sich nicht mehr die Geste der Identifikation leisten. Auch deswegen nicht, weil eben auch von rechts die ungenausten und emotionalsten Schichten von Rock-Emotionalität ausgebeutet werden, wenn auch keineswegs das komplexe Ganze der Pop-/Gegen-Kultur. Kritik muß den Materialcharakter ernstnehmen und Distanz wahren: Identifikation, Begeisterung, Gefühle und deren Organisation in Sozialem, das sich dann je nachdem Underground oder Club-Culture oder Briefmarkensammeln nennt, reicht nicht mehr, wenn es nur noch Mythen wahrnehmen kann. Pop-Kommunikation war immer ein Gemisch aus Mythen, Mythen-Konstruktion und -Dekonstruktion und dem, was ich objektive Spuren des Arbeitsprozesses im Material zu nennen pflegte. Dies aufzudröseln, war nicht so wichtig, solange der Mythos sexual ambiguity oder youth in rebellion oder black emancipation hieß. Seit er Nation heißt, geht das nicht mehr an. Das Erlebnis, der Ereignischarakter sind auch nach Rostock und Hoyerswerda ausgewandert. Dazu ist Pop-Produktion endlich von einer Kulturindustrie, von deren Ausmaßen selbst Adorno/Horkheimer nie geträumt haben, eingefangen, die Kulturprodukte nur noch als Software für eine viel wichtigere Hardware-Produktion betrachtet.
Wohin aber mit den Gefühlen? Gefühle indizieren richtig und falsch schneller als Analysen. Denen, die, wie Jugendliche, Analysen nicht zur Verfügung haben, verhelfen sie zu schneller, überlegener Kommunikation, ist ja oft genug betont worden, daß Pop-Musik genau die Funktion hat, handlungsfähig zu machen, zu bündeln, was zu komplex im Teenagerhirn hin und her wabert, bzw. der Geste der umstülpenden Entlastung Würde zu verleihen. Doch darauf kann man sich eben nicht mehr verlassen, Gefühle sind heute wieder potentiell faschistisch, auch wenn man bei kaum einer täglichen Entscheidung auf sie verzichten kann. Sie müssen wieder zum Problem werden: Wenn die Dressur und die Konditionen je abgestreift würden, würde man sich gerade nicht besser fühlen. Platten von den Melvins oder Nicolette als Abstraktionen von der Gefühlsproduktion in der Pop-Musik sind weder Idyllen noch deren restlose Zertrümmerung. Man kann an ihnen hören, was übrig bleiben könnte, wenn man an all das nicht mehr glaubt – ohne blindwütig vergessen zu wollen, daß, wie und warum man daran geglaubt hat. Leer, frei und friedlich schweben über den erloschenen Vulkanen der Beat-Musik. (Was die bessere Techno- und Trance-Musik möglicherweise längst und vor jeder Reflexion angesteuert hat).
22. Distanzierung von der Distanzierung
Mit der Aufgabe der Identifikation gibt man aber auch eine politische Geste auf: die Distanzierung von der Distanz des wissenschaftlich, hochkulturell, herrschaftskulturell etc. geregelten bourgeoisen Kunstgenusses. Der Fanatismus vereint zwei Standpunkte: Widerstand gegen das Zur-Ware-Kommen, wie Žižek es formuliert, und bei bürgerlichen Jugendlichen und Bohemiens Negation der bourgeoisen ästhetischen Einstellung. Zwar ist die Nähe jedes (auch jugendkulturellen) Fanatismus zur Barbarei heute nicht mehr zu umgehen (durch Stiftung eines anderen, etwa sozialistischen Fanatismus vielleicht), aber die Distanzierung von der Distanz, als ein verzweifelt schief dialektisches Zur-Kunst-Kommen (das natürlich auch als ein Verfehlen enden muß, aber egal), ist etwas, was man nicht mit dem barbarischen Bade ausschütten darf. In gewissen Werken der Techno-Musik (die nie Werk-Charakter wollten), im Spät-spät-spät-abstrakten Rock (Melvins), in der genervten, aber zähkonzentrierten Anspannung großer Gangster wie Just-Ice und Dr. Dre und im abgehobenen Nochspäter-Jazz eines Wynton Marsalis (ein Kulturkonservativer, der sich in dieser Reihe unwohl fühlen würde) spürt man etwas von post-fanatischen Enthusiasmen.
IV
23. Metakritik
Dies ist die vierte, fast völlig neu geschriebene Fassung eines Textes, dessen erste Version im November ’92 in Spex erschien. Die zweite existiert nur als Tondokument auf einem Cassettenrecorder in Hamburg, sie wurde als Rede auf dem Kongreß des Hamburger Wohlfahrtsausschuß gehalten. Die dritte erscheint in Soundtracks für den Volksempfänger, das Ralf Christoph und Max Annas für die Edition id-Archiv herausgeben. In der Zwischenzeit gab es eine Menge Reaktionen. Fast die komplette bürgerliche Presse stieß Seufzer der Erleichterung aus: Endlich sind wir dieses Gespenst los. Man begrüßte den „Abschied von der Jugendkultur“ (Originaluntertitel) so, als hätte Alice Schwarzer das augenblickliche Ende des Feminismus verkündet. Natürlich, um sich nur Zeilen später besserwisserisch auf die Schulter zu klopfen, außer Diedrich Diederichsen hätte sowieso kein Mensch mehr irgend etwas von Jugendkultur, Pop-Musik und Gegenkultur erwartet, das sei doch schon seit Altamont … Besonders dumm tat sich Bodo Morshäuser hervor, der seine Unfähigkeit, bei einer Diskussion in Frankfurt mit Dietmar Dath, Tobias Levin, Gertrud Koch und mir etwas zu sagen, mit der Unterstellung kompensierte, ich würde jetzt als Wendehals versuchen, den geschichtlichen Folgen der von mir selbst angezettelten Tanz-den-Mussolini-Kultur zu entkommen. Morshäuser, der schon damals nie viel gewußt oder mitbekommen hat, kann aber auch für zehn Jahre alte Verhältnisse keine Texte beibringen, die diese vage Erinnerung belegen. Alles weitere zum Denken dieser Epoche steht in „Virtueller Maoismus“: Richtig ist aber, daß Morshäuser nie irgendwo identifizierbar gestanden hat, genausowenig wie Süddeutsche Zeitung-Kritiker Höbel, der jetzt auch nachreicht, nie Hoffnungen in Popkultur investiert zu haben. Karl Bruckmaier versteigt sich in Focus zu der schon ziemlich widerwärtigen Gleichsetzung L.A.=Rostock und wirft mir und Spex implizit vor, uns mit Lyotard und Luhmann vor der Wahrheit drücken zu wollen, daß diese ganzen Hip-Hop-Neger doch alles Faschisten seien. Schließlich mußte auch Maxim Biller sich äußern: In seiner „100 Zeilen“-Kolumne widerlegte er gedankenarm einen Pop-Begriff, dem nie irgendjemand (außer er selbst, der noch 1992 kraftmeierisch den jungen Kid P. nachbetet) nachgehangen hat, um mich im Schlußsatz mit seiner Schimäre zu identifizieren (einen Überblick über alle Reaktionen und ihre Symptomatik gibt Christoph Emrich in Heaven Sent, Nr. 8). Zu den anregenderen Reaktionen zählt ein Artikel von Ina Wudtke in der von ihr mitherausgegebenen Zeitschrift Neid. Sie sieht einen Widerspruch zwischen meiner Begeisterung für die Fähigkeit schwarzer Kultur, anhand von fertigen, vorgefundenen Strukturen Differenzen zu kommunizieren, und meiner „alten, linken“ Kritik an der Nation Of Islam. Ich denke, man kann die Besonderheiten einer Kommunikationsform beschreiben und sich über die Alternative zu alteuropäischer Signifikation freuen, aber dennoch Inhalte da kritisieren, wo sie entstehen. Hip-Hop ist ja nie reines Signifyin(g), sondern immer Signifyin(g) über etwas. Jochen Distelmeyer wandte ein, daß Gefühle nicht faschistisch seien, der entsprechende Absatz wurde noch einmal umgeschrieben, im wesentlichen bleibt der Autor bei seiner Darstellung.
24. Kritik der Waffen / Waffen der Kritik
Kritik zu entwaffnen und zu bewaffnen war das Ziel dieses Textes. Gegen die Gefahr, über die Bejahung einer Kultur der Differenz im ungünstigen, aber normalen Fall eine Kultur der Segregation zu bestätigen, habe ich den Vorschlag gemacht, über die kulturindustriell beförderten Mißverständnisse der Faszinierten Pakte zu stiften: Dopebeats als Mindestkommunikation gegen die segregationistische Tendenz der Weltwirtschaft. Die uns nur noch trennen will, u. a. auch multikulturalistisch. Diese Pakte werden von westlichen Jugendlichen leider in dem Maße zunehmend aufgekündigt, in dem sie vergessen, daß das, was sie wissen, Mißverständnisse sind. Es käme darauf an, herauszufinden, warum das Empfangen eines X-Clan-Songs in seinem Kontext bei mir als strategisch richtig über eine gewisse „Schönheit“ ankommt, obwohl ich mit seinem mystizistischen Afrozentrismus nichts anfangen kann. Trotzdem streift diese Übereinstimmung mit der Ästhetik des Tracks auch Teile des Inhalts, einzelne Sätze wie „zoom, zoom, zoom, the solution: revolution“. Ich stimme Günther Jacob zu, wenn er in der Szene Hamburg schreibt, daß man zu Vergewaltigungsphantasien auch bei guten Beats nicht tanzen kann. Aber ihm wie mir wird es auch schon passiert sein, daß er zu Vergewaltigungsphantasien getanzt hat, ohne es zumerken. Das Zumtanzengebrachthaben des Beats ist aber ein Bestandteil auch der Vergewaltigungsphantasie, die es ohne ihn nicht gäbe. Wenn ich die Gesamtheit der Signale (eines X-Clan-Songs z. B.) in einem gegebenen und von mir zu rekonstruierenden Kontext inkl. ihres sogenannten Inhalts aufnehmen würde und dann behandeln wie ein im selben Raum gesprochenes Wort, würde ich sicher angemessen reagieren, im Sinne unmittelbarer Kritik; ich täte dies aber als Ergebnis der einsamen Paranoia, auf die universelle Medienpräsenz mich konditioniert hat und deren andere Seite totale Ignoranz ist. Ich muß also reduzieren: Wenn ich dafür aus guten und oft dargelegten Gründen nicht den Autor und nicht den Sinn bemühen will, bleibt mir nur, einen kontextuellen Rahmen zu konstruieren, der absolut flexibel sein muß (Situationismus?). Nur so entgeht man dem sterilen Formalismus der diversen Universalismus-gegen-Partikularismus-Diskussionen. Die Notwendigkeit, solch einen Rahmen zu konstruieren, beweist überhaupt die Lebendigkeit einer „Kunst“, beweist ihr Rederecht: In den meisten Bereichen ist er fast überflüssig, die meiste Bildende Kunst, Literatur etc. wird nur in den eh gegebenen Rahmen Kunst, Literatur etc. rezipiert. Nur ein solcher konstruierter Rahmen erlaubt mir, verbindliche Urteile zu fällen. Entscheidend ist dann nicht die Qualität eines X-Clan-Tracks vor Gott, Marx oder Reich-Ranicki, sondern seine Qualität in diesem Rahmen (Crown Heights, USA, Utica Avenue, MTV, Discothek im besetzten Haus, Discothek in der Kunsthochschule, Debatte in Spex etc.). Je mehr Rahmen ich habe, desto besser. Und desto genauer kann ich verstehen, daß es einen ursprünglichen oder authentischen Rahmen nicht (mehr) gibt. Kritik wird dann wieder möglich, nicht über das Vergessen von Pop und Club und Underground, sondern von dem Ort aus, wo ihre Vulkane erloschen sind (da wo die Berliner früher so gern tanzten). Erst der Relativismus, die Selbstreflexivität und die Enttäuschung ermöglichen die neue Apodiktik der Kritik und die wieder begeisterte Aufhebung der falschen Distanz.
Diedrich Diederichsen: Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990–93. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1993. S. 253–283
[Fortsetzung der „The Kids Are Not Alright“-Texte aus Spex 11/92 und Neue Soundtracks für den Volksempfänger]