„Ist David Hockney Kunst?“ fragt sich Gott ganz am Anfang von Robert Gernhardts neuem Erzählungen-Sampler „Kippfigur“, um nach einer kurzen Abschweifung zu finden, daß ja. Hier unterscheiden sich der Gott Robert Gernhardts und mein eigener so sehr, daß ich diese Sammelrezension von neuer unterhaltsamer Lektüre für die reifere Jugend eigentlich von der immer wieder aufs neue zu beweisenden und beweisbaren Behauptung zusammenhalten lassen wollte, daß Kunst nichts mit „gut gemacht“ zu tun hat, aber dann … Oder sollte ich mit Banaskis Lieblingszitat sagen: Wir werden in diese Rezension hineingehen wie in einen Gottesdienst?
Es fällt schwer, ein Buch zu mögen, daß zwei Motti vor sich her trägt (auf Seite 9 und auf der Rückseite des Schutzumschlages), die von Rambo und Rimbaud stammen, es fällt schwer ein Buch, das sich eines solchen Witzes nicht schämt, überhaupt zu lesen: „AUSNAHMEZUSTAND“ von HUBERT WINKELS. Aber dann war mir dieses Mißverhältnis aus manischem, theoretischem Interesse und Wissen und sprachlicher Verkrampftheit und Geschmacklosigkeit im Falle Winkels schon immer ein Faszinosum. Warum muß man die ohnehin erzwungen wirkende Beobachtung, daß Worte wie „Handkantenschläge“ kommen, auch noch durch das Wort „Wortkarate“ bekräftigen (um die glückliche Situation einer gefundenen Metapher ein Minütchen länger genießen zu können?), wie kann man sich überhaupt so viele Namen und dritte Personen ausdenken, ohne wie Henry James in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ sich in eben einem solchen Tagebuch jeden Tag bis zu dreißig solcher möglicher Namen literarischer Figuren aufzuschreiben? Warum will der beschlagene Sachverständige Winkels immerzu LITERATUR SPIELEN? Was treibt eine mit allen Wassern der Stadtzeitschriftenzone gewaschene akademische Allround-Existenz (Veröffentlichungen über neue Literatur und Pina Bausch) zu diesem nach Interpretationen offensichtlich hungernden Gebastel? (Ungerechte Welt, in der man für Theorie nicht belohnt wird und sich unbelohnt auf das gefährliche Spiel der Literatur einzulassen gezwungen zu sein scheint.)
Aber ich will nicht darum bitten, niemanden, doch das zu sagen, was er wirklich denkt, was z. B. WOLFGANG WELT in seinem Roman „PEGGY SUE“ tut. Er erzählt mir, ob ich’s wissen will oder nicht, alles, was er in einem gegebenen Zeitraum in den frühen 80ern in seinem Ruhrgebietsleben mit Fußball, Journalismus für Pop- und Stadtzeitschriften und mehr oder weniger verkorksten Liebesbeziehungen erlebt hat. Alles. Daß Wim Thoelke im Fernsehen lief und daß er gern gewußt hätte, wie die und die im Bett wäre. Wie er soziale Ungerechtigkeiten in einem Schallplattenladen erlebte und sich an die Gewerkschaft wandte und irgendwelche historischen Döntjes aus Bochums reicher Fußballgeschichte. Die meisten Geschichten hat er mir damals, als er nämlich auch für „Sounds“ schrieb, schon am Telefon erzählt, aber das tut nichts zur Sache. Was ich nicht verstehe, ist dieser Geständniszwang und welche Belohnung er dafür erwartet. Das Kompliment „schonungslose Ehrlichkeit“? Aber was ist das wert? Zumal es so verworfen und sensationell nicht zugegangen ist, in seinem damaligen Leben (eine Viertelstunde Frühstück bei Kippenberger bringt da mehr Ungeheuerlichkeiten an den Tag) zwischen „Marabo“-Redaktion und nächtlichen Damenbesuchen in Wuppertal (wo er dann die Adresse nicht fand, was dem Leser unwahrscheinlich leid tut). Ist es das Mitlied der schönen Frauen? Oder ist es der pure Katholizismus? (Hinterher ist einem wohler.) Oder ist es gerade gut, daß mal nicht Jean Genet, sondern ein ganz normaler, etwas geschwätziger Bier-Trinker die Hosen runterläßt?
So unterhaltsam es sein kann, sich diese Geschichten anzuhören (oder sie meinetwegen auch zu lesen), die Geste, ohne Beschönigung, Verklärung, Wahnsinn und vor allem ohne irgendeinen Gedanken mir das komplette, langweilige Leben vor die Füße zu knallen, hat was von Nötigung und Rockism: Nehmt mein kleines Leben, so ist es wirklich, alles echt, deswegen wertvoll! Reiß dich zusammen, möchte man dem entgegnen, wenn man nicht vom Klapptext erführe, daß er gerade das jetzt im wirklichen Leben getan hat. Er ist zurück an die Uni, arbeitet als Nachtwächter und schreibt so komische Bücher.
Nehmen die Probleme des ganz normalen Mittzwanzigers bei Welt die typische Jungsprobleme-Gestalt an: Trinken, Sex, durch den Kopf assoziativ geisternde DEAD INFO und Fußball, so sind es bei JOHANNA WALSERS in Funk und Feuilleton hochgelobter Erzählung „DIE UNTERWERFUNG“ die klassische Mädchenverstörung. Frauen sind ja immer authentischer: Das Schallplattensammeln als zentrale Sublimierungsstrategie fällt aus und wird ersetzt durch ein Selbstmitleid, das schlau genug ist, sich nicht zu offen als solches zu erkennen zu geben. Diese Schläue nennen die Rezensenten Ironie. Ohne Schläue wäre es peinlicher und also besser geworden, aber auf mich hört ja keiner. Die Methode geht hier so: Alles ist grundsätzlich fremd. Das Selbstverständlichste wird als das Allerfremdartigste geschildert, aber nicht um das Allerselbstverständlichste in Frage zu stellen, sondern um sich selbst aus dem Allerselbstverständlichsten hervorzuheben, was aber wiederum so schüchtern und damenhaft geschrieben wird, daß niemand diese Absicht erkennt und verstimmt wird (außer mir). Wer nicht wie ich und meinesgleichen nur zu oft Zeuge dieser Variante weiblicher Selbstinszenierung geworden ist, wird, wie im Feuilleton zur Zeit einstimmig der Fall, diese Fremdheit gegenüber auf der Straße herumliegenden aufgeschlagenen Zeitungen und unmenschlichem, allzuunmenschlichem Hochschulbetrieb für das Ergebnis feiner literarischer Sensibilität halten. Die nicht zu leugnende Begabung, die Haltung der Fremdheit auszuziselieren und bis zum letzten verstörten Wort durchzustehen, erhärtet meine Vermutung, daß dieses Getue von der Autorin nicht als Lebenslüge, sondern ungemein authentische abgerungene Erfahrung verstanden wird. Sicher, es ist die vollendetste Jungfrauenlarmoyanz, die mir in der letzten Zeit untergekommen ist, und was ist gegen Affigkeiten zu sagen, die nicht im geringsten von ihrer eigenen Affigkeit zu wissen scheinen? So gesehen ein schönes Buch, geschickt in seiner Ungeschicklichkeit, aber dann in seiner „höflichen Selbstverleugnung“ (Neue Zürcher Zeitung) (ich sage nicht, daß ich entsetzlich leide, aber ich leide) bisweilen noch koketter als Wolfgang Welts „Peggy Sue“, und da es nicht einmal eine langweilig realistische Zumutung ist, sondern nur zu durchschaubar, noch weniger verstörend (falls das ein Ziel gewesen sein sollte).
Obwohl er sich einige, man möchte fast sagen pastorale Ganzkurzgeschichten ausgedacht hat, sind in den beiden längeren Erzählungen in LORENZ LORENZ’ „DIE NACHT DES FEHLERS“ die meisten zutreffende Beobachtungen, das meiste überprüfbare Realität. Nun wäre ich der letzte, die Realitäts-Dosis in einer Erzählung zum Qualitäts-Kriterium zu erklären, aber Realität hilft ungemein gegen Verstiegenheiten und Lebenslügen. Der Rest sind gute Witze. Sein bis zum Separatismus getriebener bayerischer Nationalismus hat Lorenz nicht im Stich gelassen und liefert ihm das geeignetste Material, stellenweise lesen sich seine Geschichten wie Underground-Kir-Royal, was heißt: man nimmt sie, wie alles, was aus München kommt, auch nicht besonders ernst. Oder: Die werden halt nie erwachsen, also haben sie auch keine Probleme mit dem Weg dahin.
An dieser Stelle könnte mir das Kompliment „gut gemacht“ fast noch einmal entschlüpfen, denn daß Lorenz in 20 Jahren der Gernhardt der letzten Tage werden könnte, liegt nicht so fern, aber dann fehlt eben doch die Disziplin, der Reichtum, die in der Welt des „Gut Gemachten“ nicht fehlen dürfen. Die Melancholie ist dagegen schon in Ansätzen zu erahnen. Was wir noch aus der „Nacht des Fehlers“ lernen: Wir leben in Scheiß-Zeiten, deren Facetten sich entweder kaum festzuhalten lohnen oder deren Beschreiber es nicht verstanden haben, sie soweit zu glorifizieren, daß es zu einer rechten Romantik reicht. Die Typen des Lorenz Lorenz, seine erfundenen Gestalten interessieren dich herzlich wenig. Was hat man mit diesen Konstrukten zu schaffen, die nicht konstruiert wurden, um etwas zu beweisen oder zu behaupten, sondern einzig und allein, um interessant, lebendig, facettenreich und gut gemacht zu erscheinen? Was mich interessiert, ist Lorenz, und der sagt in diesen längeren Geschichten nur, daß er Phantasie und Beobachtungsgabe hat, aber warum hat er die und wozu? Empfohlen seien die Pastoralen und Idyllen, wenigstens der „Titanic“-Redaktion.
Womit wir im Zentrum des Gut-Gemachten angekommen wären. Eines der schwierigsten Probleme: daß Satire von Haus aus das Grauenvollste ist und wieso man sich trotzdem jedes Robert-Gernhardt-Buch kauft (kaufen muß). Nun, „Ich Ich Ich“ und „Glück Glanz Ruhm“ kann man auch, wenn man alles andere möglicherweise Vorzügliche dieser Bücher vergißt, allein wegen ihres kunst- und erkenntnistheoretischen Gehalts empfehlen und immer wieder lesen, bei „KIPPFIGUR“ geht es einem schon zuweilen auf die Nerven, daß diese Riesenmelancholie sich immer zur leisen, zwinkernden, in den besseren Kreisen so überaus konsensfähigen Form der gepflegten Ironie zwingt. Gerade weil Gernhardt durchaus Härte hat, stört einen diese ewige sprachliche Meisterschaft, dieser bis ins letzte ausgefeilte Drang, alles Elend, allen Reichtum, alle Fülle zu bändigen, zu anekdotisieren. Aber vielleicht ist eben das die Trauer und alles genau umgekehrt. Der Zwang zum Anekdotischen macht ihn melancholisch, und nicht die Melancholie zwingt sich zur Satire.
Mit großem Genuß lasen wir letztes Jahr den Fortsetzungsroman „HALT DURCH, STEFFI!“ von ACHIM SZYMANSKI, der nur sehr selten die falsche Harmonie des einverstandenen, gesinnungsmäßigen Lachens über den gemeinsamen Feind provoziert, sondern von Monat zu Monat geschrieben, sich völlig dem entfesselten Trash-Bedürfnis seines Autors hingibt. Wozu es gut ist, wenn man zu viele schlechte Romane gelesen hat und überhaupt nichts damit beabsichtigt. Sicher ein unwiederholbares Unterfangen: solche Bücher absichtlich geschrieben zu haben wäre eine schale Hölle, schon in der Buchausgabe verliert „Steffi!“, die Single-Sammlung ein wenig, wenn auch nicht sehr viel. Wenn es Psychobilly je als Literatur gab …
HUBERT WINKELS Ausnahmezustand, Kiepenheuer & Witsch WOLFGANG WELT – Peggy Sue, Konkret Literatur Verlag JOHANNA WALSER – Die Unterwerfung, Fischer
LORENZ LORENZ – Die Nacht des Fehlers, Trikont
ROBERT GERNHARDT – Kippfigur, Haffmanns Verlag
ACHIM SZYMANSKI Halt durch, Steffi!, Haffmanns Verlag

