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  • Neue Deutsche Literatur für angehende Erwachsene

    „Ist David Hockney Kunst?“ fragt sich Gott ganz am Anfang von Robert Gernhardts neuem Erzählungen-Sampler „Kippfigur“, um nach einer kurzen Abschweifung zu finden, daß ja. Hier unterscheiden sich der Gott Robert Gernhardts und mein eigener so sehr, daß ich diese Sammelrezension von neuer unterhaltsamer Lektüre für die reifere Jugend eigentlich von der immer wieder aufs neue zu beweisenden und beweisbaren Behauptung zusammenhalten lassen wollte, daß Kunst nichts mit „gut gemacht“ zu tun hat, aber dann … Oder sollte ich mit Banaskis Lieblingszitat sagen: Wir werden in diese Rezension hineingehen wie in einen Gottesdienst?

    Es fällt schwer, ein Buch zu mögen, daß zwei Motti vor sich her trägt (auf Seite 9 und auf der Rückseite des Schutzumschlages), die von Rambo und Rimbaud stammen, es fällt schwer ein Buch, das sich eines solchen Witzes nicht schämt, überhaupt zu lesen: „AUSNAHMEZUSTAND“ von HUBERT WINKELS. Aber dann war mir dieses Mißverhältnis aus manischem, theoretischem Interesse und Wissen und sprachlicher Verkrampftheit und Geschmacklosigkeit im Falle Winkels schon immer ein Faszinosum. Warum muß man die ohnehin erzwungen wirkende Beobachtung, daß Worte wie „Handkantenschläge“ kommen, auch noch durch das Wort „Wortkarate“ bekräftigen (um die glückliche Situation einer gefundenen Metapher ein Minütchen länger genießen zu können?), wie kann man sich überhaupt so viele Namen und dritte Personen ausdenken, ohne wie Henry James in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ sich in eben einem solchen Tagebuch jeden Tag bis zu dreißig solcher möglicher Namen literarischer Figuren aufzuschreiben? Warum will der beschlagene Sachverständige Winkels immerzu LITERATUR SPIELEN? Was treibt eine mit allen Wassern der Stadtzeitschriftenzone gewaschene akademische Allround-Existenz (Veröffentlichungen über neue Literatur und Pina Bausch) zu diesem nach Interpretationen offensichtlich hungernden Gebastel? (Ungerechte Welt, in der man für Theorie nicht belohnt wird und sich unbelohnt auf das gefährliche Spiel der Literatur einzulassen gezwungen zu sein scheint.)

    Aber ich will nicht darum bitten, niemanden, doch das zu sagen, was er wirklich denkt, was z. B. WOLFGANG WELT in seinem Roman „PEGGY SUE“ tut. Er erzählt mir, ob ich’s wissen will oder nicht, alles, was er in einem gegebenen Zeitraum in den frühen 80ern in seinem Ruhrgebietsleben mit Fußball, Journalismus für Pop- und Stadtzeitschriften und mehr oder weniger verkorksten Liebesbeziehungen erlebt hat. Alles. Daß Wim Thoelke im Fernsehen lief und daß er gern gewußt hätte, wie die und die im Bett wäre. Wie er soziale Ungerechtigkeiten in einem Schallplattenladen erlebte und sich an die Gewerkschaft wandte und irgendwelche historischen Döntjes aus Bochums reicher Fußballgeschichte. Die meisten Geschichten hat er mir damals, als er nämlich auch für „Sounds“ schrieb, schon am Telefon erzählt, aber das tut nichts zur Sache. Was ich nicht verstehe, ist dieser Geständniszwang und welche Belohnung er dafür erwartet. Das Kompliment „schonungslose Ehrlichkeit“? Aber was ist das wert? Zumal es so verworfen und sensationell nicht zugegangen ist, in seinem damaligen Leben (eine Viertelstunde Frühstück bei Kippenberger bringt da mehr Ungeheuerlichkeiten an den Tag) zwischen „Marabo“-Redaktion und nächtlichen Damenbesuchen in Wuppertal (wo er dann die Adresse nicht fand, was dem Leser unwahrscheinlich leid tut). Ist es das Mitlied der schönen Frauen? Oder ist es der pure Katholizismus? (Hinterher ist einem wohler.) Oder ist es gerade gut, daß mal nicht Jean Genet, sondern ein ganz normaler, etwas geschwätziger Bier-Trinker die Hosen runterläßt?

    So unterhaltsam es sein kann, sich diese Geschichten anzuhören (oder sie meinetwegen auch zu lesen), die Geste, ohne Beschönigung, Verklärung, Wahnsinn und vor allem ohne irgendeinen Gedanken mir das komplette, langweilige Leben vor die Füße zu knallen, hat was von Nötigung und Rockism: Nehmt mein kleines Leben, so ist es wirklich, alles echt, deswegen wertvoll! Reiß dich zusammen, möchte man dem entgegnen, wenn man nicht vom Klapptext erführe, daß er gerade das jetzt im wirklichen Leben getan hat. Er ist zurück an die Uni, arbeitet als Nachtwächter und schreibt so komische Bücher.

    Nehmen die Probleme des ganz normalen Mittzwanzigers bei Welt die typische Jungsprobleme-Gestalt an: Trinken, Sex, durch den Kopf assoziativ geisternde DEAD INFO und Fußball, so sind es bei JOHANNA WALSERS in Funk und Feuilleton hochgelobter Erzählung „DIE UNTERWERFUNG“ die klassische Mädchenverstörung. Frauen sind ja immer authentischer: Das Schallplattensammeln als zentrale Sublimierungsstrategie fällt aus und wird ersetzt durch ein Selbstmitleid, das schlau genug ist, sich nicht zu offen als solches zu erkennen zu geben. Diese Schläue nennen die Rezensenten Ironie. Ohne Schläue wäre es peinlicher und also besser geworden, aber auf mich hört ja keiner. Die Methode geht hier so: Alles ist grundsätzlich fremd. Das Selbstverständlichste wird als das Allerfremdartigste geschildert, aber nicht um das Allerselbstverständlichste in Frage zu stellen, sondern um sich selbst aus dem Allerselbstverständlichsten hervorzuheben, was aber wiederum so schüchtern und damenhaft geschrieben wird, daß niemand diese Absicht erkennt und verstimmt wird (außer mir). Wer nicht wie ich und meinesgleichen nur zu oft Zeuge dieser Variante weiblicher Selbstinszenierung geworden ist, wird, wie im Feuilleton zur Zeit einstimmig der Fall, diese Fremdheit gegenüber auf der Straße herumliegenden aufgeschlagenen Zeitungen und unmenschlichem, allzuunmenschlichem Hochschulbetrieb für das Ergebnis feiner literarischer Sensibilität halten. Die nicht zu leugnende Begabung, die Haltung der Fremdheit auszuziselieren und bis zum letzten verstörten Wort durchzustehen, erhärtet meine Vermutung, daß dieses Getue von der Autorin nicht als Lebenslüge, sondern ungemein authentische abgerungene Erfahrung verstanden wird. Sicher, es ist die vollendetste Jungfrauenlarmoyanz, die mir in der letzten Zeit untergekommen ist, und was ist gegen Affigkeiten zu sagen, die nicht im geringsten von ihrer eigenen Affigkeit zu wissen scheinen? So gesehen ein schönes Buch, geschickt in seiner Ungeschicklichkeit, aber dann in seiner „höflichen Selbstverleugnung“ (Neue Zürcher Zeitung) (ich sage nicht, daß ich entsetzlich leide, aber ich leide) bisweilen noch koketter als Wolfgang Welts „Peggy Sue“, und da es nicht einmal eine langweilig realistische Zumutung ist, sondern nur zu durchschaubar, noch weniger verstörend (falls das ein Ziel gewesen sein sollte).

    Obwohl er sich einige, man möchte fast sagen pastorale Ganzkurzgeschichten ausgedacht hat, sind in den beiden längeren Erzählungen in LORENZ LORENZ’ „DIE NACHT DES FEHLERS“ die meisten zutreffende Beobachtungen, das meiste überprüfbare Realität. Nun wäre ich der letzte, die Realitäts-Dosis in einer Erzählung zum Qualitäts-Kriterium zu erklären, aber Realität hilft ungemein gegen Verstiegenheiten und Lebenslügen. Der Rest sind gute Witze. Sein bis zum Separatismus getriebener bayerischer Nationalismus hat Lorenz nicht im Stich gelassen und liefert ihm das geeignetste Material, stellenweise lesen sich seine Geschichten wie Underground-Kir-Royal, was heißt: man nimmt sie, wie alles, was aus München kommt, auch nicht besonders ernst. Oder: Die werden halt nie erwachsen, also haben sie auch keine Probleme mit dem Weg dahin.

    An dieser Stelle könnte mir das Kompliment „gut gemacht“ fast noch einmal entschlüpfen, denn daß Lorenz in 20 Jahren der Gernhardt der letzten Tage werden könnte, liegt nicht so fern, aber dann fehlt eben doch die Disziplin, der Reichtum, die in der Welt des „Gut Gemachten“ nicht fehlen dürfen. Die Melancholie ist dagegen schon in Ansätzen zu erahnen. Was wir noch aus der „Nacht des Fehlers“ lernen: Wir leben in Scheiß-Zeiten, deren Facetten sich entweder kaum festzuhalten lohnen oder deren Beschreiber es nicht verstanden haben, sie soweit zu glorifizieren, daß es zu einer rechten Romantik reicht. Die Typen des Lorenz Lorenz, seine erfundenen Gestalten interessieren dich herzlich wenig. Was hat man mit diesen Konstrukten zu schaffen, die nicht konstruiert wurden, um etwas zu beweisen oder zu behaupten, sondern einzig und allein, um interessant, lebendig, facettenreich und gut gemacht zu erscheinen? Was mich interessiert, ist Lorenz, und der sagt in diesen längeren Geschichten nur, daß er Phantasie und Beobachtungsgabe hat, aber warum hat er die und wozu? Empfohlen seien die Pastoralen und Idyllen, wenigstens der „Titanic“-Redaktion.

    Womit wir im Zentrum des Gut-Gemachten angekommen wären. Eines der schwierigsten Probleme: daß Satire von Haus aus das Grauenvollste ist und wieso man sich trotzdem jedes Robert-Gernhardt-Buch kauft (kaufen muß). Nun, „Ich Ich Ich“ und „Glück Glanz Ruhm“ kann man auch, wenn man alles andere möglicherweise Vorzügliche dieser Bücher vergißt, allein wegen ihres kunst- und erkenntnistheoretischen Gehalts empfehlen und immer wieder lesen, bei „KIPPFIGUR“ geht es einem schon zuweilen auf die Nerven, daß diese Riesenmelancholie sich immer zur leisen, zwinkernden, in den besseren Kreisen so überaus konsensfähigen Form der gepflegten Ironie zwingt. Gerade weil Gernhardt durchaus Härte hat, stört einen diese ewige sprachliche Meisterschaft, dieser bis ins letzte ausgefeilte Drang, alles Elend, allen Reichtum, alle Fülle zu bändigen, zu anekdotisieren. Aber vielleicht ist eben das die Trauer und alles genau umgekehrt. Der Zwang zum Anekdotischen macht ihn melancholisch, und nicht die Melancholie zwingt sich zur Satire.

    Mit großem Genuß lasen wir letztes Jahr den Fortsetzungsroman „HALT DURCH, STEFFI!“ von ACHIM SZYMANSKI, der nur sehr selten die falsche Harmonie des einverstandenen, gesinnungsmäßigen Lachens über den gemeinsamen Feind provoziert, sondern von Monat zu Monat geschrieben, sich völlig dem entfesselten Trash-Bedürfnis seines Autors hingibt. Wozu es gut ist, wenn man zu viele schlechte Romane gelesen hat und überhaupt nichts damit beabsichtigt. Sicher ein unwiederholbares Unterfangen: solche Bücher absichtlich geschrieben zu haben wäre eine schale Hölle, schon in der Buchausgabe verliert „Steffi!“, die Single-Sammlung ein wenig, wenn auch nicht sehr viel. Wenn es Psychobilly je als Literatur gab …

    HUBERT WINKELS Ausnahmezustand, Kiepenheuer & Witsch WOLFGANG WELT – Peggy Sue, Konkret Literatur Verlag JOHANNA WALSER – Die Unterwerfung, Fischer

    LORENZ LORENZ – Die Nacht des Fehlers, Trikont

    ROBERT GERNHARDT – Kippfigur, Haffmanns Verlag

    ACHIM SZYMANSKI Halt durch, Steffi!, Haffmanns Verlag

  • Annette Peacock – Der Mensch als Frau

    Der zweite Wandervogel. Die Komponistin, deren Musik niemand spielen kann, die mit einer Danksagung für den Klavierstimmer so gut auskommt, wie mit Glam-Rock-Größen. Und den Namen ihrer Band kann man nicht abkürzen: I Belong To A World That Destroys Itself.

    „Bitte macht die Tür zu! Ich kann diese Musik nicht ertragen. Wer ist das überhaupt?“ – „Keith Jarret, würde ich sagen.“ – „Genau, ‚Cologne Concerto‘.“ – „Na, der hat auch so seit gut zehn Jahren nichts Gutes mehr gemacht. Früher war er mal sehr von Paul beeinflußt.“

    Eröffnungssequenz einer Unterhaltung zwischen Annette Peacock, ihrer Tochter, Michael Ruff und mir. Vorher hatten wir uns schon im Vorbeigehen auf Gil Evans geeinigt (als den größten alten Mann des Jazz), den ich seit Jahrzehnten verehre, den Annette Peacock aber natürlich aus ihrer Neigbourhood kennt.

    Ich starre jetzt auf ein Foto auf der Coverrückseite der Schallplatte „Ballads“ des Paul-Bley-Trios. Paul Bley ist jener Paul, der Keith Jarret beeinflußt haben soll. 1967 haben Paul Bley, Piano, Gary Peacock, Bass, und Barry Altschul, Schlagzeug, New Yorks kühlste, freie Jazzer der Epoche, eine LP aufgenommen, die ausschließlich aus komponierter, festgelegter Musik bestand. Geschrieben von einer jungen Komponistin namens Annette Peacock, einst Garys Ehefrau, dann Pauls Freundin, der vorher mit der anderen Komponistin New Yorks verheiratet war, mit Carla Bley. In beiden Fällen haben die Ex-Frauen die Nachnamen der Männer bekannter gemacht. Gary Peacock ging eines Tages in Japan verschütt. Und von Paul Bley hat man seit den Tagen der Bley-Peacock-Synthesizer-Show, Anfang der 70er, auch nichts mehr gehört.

    „Ich bin eine Komponistin“, sagt Annette Peacock: „Zufällig singe ich und spiele Klavier, aber eigentlich nur, weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß andere Leute meine Musik nicht richtig spielen können.“

    „Ballads“ erwarb ich um 1972 aus dem Nachlaß eines zum Albanien-Hard-Core-Maoismus konvertierten jungen E-Musikers, neben einigen exzellenten Platten von Albert Ayler und Frank Zappa. In dieser reinen, von keinem erkennbaren Temperament beeinflußten Form mußten Annettes Kompositionen für den jungen Diedrich eine Irritation ersten Grades darstellen. Der Wahnsinn eben. Der Wahnsinn der Geduld. Auch wenn das Jazzer-Feeling der Zwang zum Swing in der Spielweise des Bley-Trios nicht zu überhören war, stehen die Peacock-Kompositionen doch wie völlig fremdartige Kristalle in der Gegend herum, ein erfrorener Blues, von dieser entsetzlich frühweisen Geduld im Fluß angehalten, die allerlangsamsten Melodien, aber keine seriellen Endlosigkeiten, sondern in ständiger Schlußakkord-Panik, die Gesänge dreier Jungfern im Feuerofen eben, die bemerkenswerteste Musik und durch keinen Code der Wildheit oder der Expressivität zu entschärfen. Nur zu naheliegend hier etwas spezifisch Weibliches zu ahnen, was ich mir aber in Anbetracht der ewigen Unverständlichkeit der enigmatischen weiblichen Seele für heute untersagen will.

    Ein Stück hieß „Ending“ und dauerte 17 Minuten, und man könnte sehr grob sagen, daß es genau das 17 Minuten lang tat: aufhören, verenden. Später hat Carla Bleys zweiter Mann, Michael Mantler, versucht Beckett zu vertonen, was ihm nicht annähernd so gut gelang wie Annette Peacock, die es nie versucht hatte.

    Um 1970 erschien in „Sounds“ ein Interview, das eine völlig veränderte Annette zeigt. Sie schwärmt von ihrer wunderschönen Tochter, mit der sie dann über ein Jahrzehnt unter Entbehrungen durch die Straßen ziehen sollte (die heute in ihrer Band singt und nebenbei komponiert, u.a. für – of all people – Chaz Jankel drei Titel für dessen neue LP) und spricht euphorisch von der Rückbesinnung auf die Wurzeln bei gleichzeitiger Auslotung neuer technischer Errungenschaften. In ihrer Küche in Manhattan stolpert der Interviewer über die Drähte ihres frühen unhandlichen Moog-Synthesizers, und bei Konzerten pflegte sie damals eben ohne aufzutreten. Das alles heißt natürlich nichts anderes als: Blues.

    Zusammen mit Paul entsteht die Bley-Peacock-Synthesizer-Show. Auf vage erkennbarer, aber dynamisierter, bei aller Esoterik aufgeladener Blues-Basis, also um die schwarzen Tasten herum, entsteht eine Musik, die vom Sound her an manches zwischen „Bitches Brew“ und „Soft Machine 3“ erinnern mag, aber vor allem bei allen Stücken, bei denen sich Annette durchsetzt und ihren dreckig-impressionistischen Gesang zum Einsatz bringt (oder ihre Kompositionen), ungleich unbändiger, sexueller, auf anziehende Weise verwahrloster als der beste Jazz-Rock dieser Zeit, andererseits auch in schwächeren Stellen konturenloser, ideenärmer. Die Spielereien mit Stimmverfremdungen und anderen frühen Synthesizer-Errungenschaften klingen heute nicht weniger rührend und charmant als eine Vox-Orgel. Neu waren die Texte, ein Song hieß: „I Belong To A World That Destroys Itself“.

    Heute nennt Annette ihre Band, bestehend aus Baß, Schlagzeug und ihrer Tochter als zweiter Sängerin, nach diesem fünfzehn Jahre alten Song: „Es ist das entscheidende politische Statement von mir. Ich habe so viele politische Texte geschrieben, aber eigentlich sagt dieser Satz alles, was zu sagen ist. Als Bandname eignet er sich so gut, weil man ihn nicht abkürzen kann.“ Nicht nur ihre Kompositionen und Texte, auch der Mensch Annette Peacock ist in zwanzig Jahren keinen Tag gealtert. Nur, daß neben ihrer resolut-ätherischen Schönheit jetzt die weich-verbindliche ihrer Tochter steht.

    Der Weg weg von den reinen Kompositionen führte über immer engere Kontakte mit dem zeitgenössischen Rock. Auf den z.Z. wieder erhältlichen 70er Alben „I’m The One“ und vor allem „X-Dreams“ wird Annettes Stimme cooler und dreckiger, und sie gestattet ihren immer zahlreicheren und bekannteren Begleitmusikern immer ausgiebigere Ausflüge in deren eigener musikalischer Sprache. Zwar bleiben ihre in all den Jahren kaum veränderten Vorstellungen von Akkordwechselverzögerungen erhalten, liegt der unverwechselbare Geist ihrer Musik über dem vielstimmigen Gespiele der Sessioncracks, aber sie gibt sich verträglicher den Erscheinungen der Zeit gegenüber:

    „Es waren alles Musiker, und Musiker sind eine andere Rasse“, so einerseits Annette über die Tatsache, daß sie sich mit Musikern immer besser verstanden hat als mit anderen Sterblichen. Andererseits: „Es gibt keinen guten Pianisten im Jazz, außer vielleicht Cecil Taylor. Wer sonst sollte es sein? Bill Evans ist tot. Was soll ich sagen: I’m the one.“ Nicht das letzte Mal, daß sie sich an diesem Abend über einen ihrer Songtitel erklärt. Und: „Die Pop-Musik hat absolut nichts geleistet in den letzten Jahren. Sie hat absolut keine Erneuerungen und Veränderungen geschaffen, nichts. Niemand hat das getan, außer mir. Das einzig Positive, was man über einen Pop-Komponisten sagen kann, ist, daß er sich in seinem Gebiet auskennt und eine gewisse Feinheit erreicht hat, aber nie, daß er darüber hinausgegangen ist.“ Und jemand wie John Cale (seine Versuche mit E-Musik, klassischen Arrangement-Methoden etc.)? „Das Beste, was er gemacht hat, war ‚Heartbreak Hotel‘.“

    Womit wir bei dem einzigen Pop-Star wären, den Annette Peacock verehrt, Elvis Presley, dessen Songs sie immer wieder gecovert hat. An diesem Abend trug sie einen Gürtel, dessen Schnalle die Buchstaben E-L-V-I-S bilden.

    1979 erscheint bei Aura, wo schon „X-Dreams“, Platten von Nico und Alex Chilton erschienen, ihr letztes Album auf einem fremden Label, „The Perfect Release“. Darauf das fast eine Seite umfassende „Survival“, ein Endlos-Rap über ihre Lieblingsthemen: Politik als persönliche Angelegenheit, persönliche als politische Angelegenheiten und das Überleben der Menschheit, fast tonlos gesprochen zu einem entspannten Jazz-Rock-Gedaddel, das über eine Viertelstunde den Akkord nicht wechselt: „Meine Musik ist sehr einfach.“ Auf dieser Platte duldet sie oder zwingt sich zur Zusammenarbeit mit den bislang gesichtslosesten Musikern ihrer Karriere. Waren früher Helden wie Mick Ronson und Chris Spedding, königliche Geschmacklosigkeiten wie Bill Bruford unter ihren Unterstützern, hat man hier den Eindruck eines geistesabwesenden Jazz-Rock-Kabaretts, das nur dazu dient, die soziopolitischen Romanzen, nun nicht mehr angedreckt, sondern wieder ätherisch gesprochen, nur noch völlig spacey und weise und weit weg wirken zu lassen, die Jazz-Grundierung.

    In den 80ern hat sie plötzlich eine eigene Plattenfirma, „ironic records“, und bringt zunächst Platten heraus, die große Bögen schlagen, konzentriert fast zwei Jahrzehnte Annette Peacock Kompositionen, in Ausgewählte-Werke-Ausgaben zusammenfassend. „Sky Skating“ enthält Kompositionen von 72 bis 78, neu und ganz allein eingespielt, einen Credit gibt es lediglich für den Klavierstimmer. Der reinen Form (die kreisenden, angehaltenen, hingehaltenen Melodien auf Flügel und Synthesizer, der abwechselnd gesprochene oder virtuos, aber unaufdringlich durch die Oktaven gleitende Gesang) entspricht eine Textauswahl vom Grundsätzlichsten: die Unmöglichkeit der Nähe („So Close Is Still Too Far“), die Dialektik zwischen ihrer Neigung zu ätherischen Träumen und den objektiven Erkenntnissen eines materialistischen Bewußtseins. Die Mischung, die ihre Quasi-Rock-Platten der 70er anrührten, mal kratzbürstig, mal gelegenheitsphilosophisch, ist der totalen Rein- und Klarheit gewichen, wunderschön und, obwohl sie jetzt schon lange in England lebt, wieder amerikanischer und eigentlich näher an dem Blues einer intellektuellen Avantgarde-Komponistin, als es der Fast-Glam-Rock ihrer RCA Aura-Periode war.

    Aber sie ist ja eine Komponistin, und sie rennt nicht wie ein offenes Messer durch die Gegend, an dem man sich schneidet. Sie hat all dies in den 70ern geschrieben. Je mehr man sich mit ihr beschäftigt, desto näher kommt man diesem Kern, daß das Genre Karrierenbeschreibung, das für Lebenschroniken von auf das äußere Auf und Ab fixierten, reagierend sich entwickelnden Pop-Personen entwickelt wurde, bei ihr nicht greift, höchstens für die Begleitumstände ihrer Musik. Als Komponistin war sie immer die gleiche, und ihre Arbeit in den 80ern war es, dies klarzustellen.

    Auf „Been In The Streets Too Long“ vereinigt sie unveröffentlichte Einspielungen aus allen Epochen bis 83. Zwei Versionen zum Beispiel von „So Hard It Hurts“, das auch schon das Paul-Bley-Trio spielte und das sie 1967 geschrieben hatte; einmal als langen Instrumental-Rock-Titel mt Bruford, Spedding und Co und einmal dezent und vocal mit einen Text, den es auch schon 67 gab, erschienen ist die LP 1983.

    „Erst seit ‚ironic records‘ kann ich von meinen Platten leben. Sie (zeigt auf die Tochter) kann auch ein Lied davon singen: Wir waren buchstäblich zehn Jahre lang auf der Straße. Sind untergekrochen, wo wir gerade konnten, und das war nicht schön. Erst jetzt können wir einigermaßen leben.“

    Daß die Plattenfirma „ironic“ heißen mußte, finde ich etwas unglücklich. Annette Peacock ist eben nicht Carla Bley, die ihr Publikum in letzter Zeit nur noch mit gut gemachten musikhistorischen Verweisen und Witzen beglückt, eine Virtuosin des Distanzierten. Neulich las ich in einer Stadtzeitschrift eine Hymne auf Annettes Ironie und daß Frauen sonst nie zur Ironie fähig sind. Ich sage: Lobet die Frauen! Was ist Ironie anderes als Feigheit, als ein Sich-Abfinden mit der Hofnarr-Rolle? Augenzwinkernd! Ekelhaft!

    „Als die damals ‚So Hard It Hurts‘ aufgenommen haben, war ich nicht zufrieden. Es war nicht hart genug, tat nicht genügend weh.“ Das ist keine Ironie. Das ist bitterer Ernst. Und was ist das? „My heart is breaking / My body is aching / To be with you again / Don’t you know I’m leaving / And my soul is grieving / To loose my only friend“ („A Song To Separate“). Bitterster Ernst. Sein Name sei Blues. Der Titel ihrer neuesten LP sei Ironie: „I Have No Feelings“. Dazu Annette Peacock: „Eigentlich wollte ich sagen: keine Emotionen. Ich habe keine Emotionen, weil Emotionen so etwas Grobes sind, worüber man, je älter man wird, sich hinwegentwickelt. Aber der Satz ‚I Have No Emotions‘ hätte nicht gut geklungen.“

    Emotionen sind die Grundlage von Rock-Musik, Staatswesen, Faschismus und Jugendlichkeit. Alles, was ich heute nachmittag einmal ablehnen will. Kunst ist das Gegenteil. Sie muß immer so tun, als wäre sie nicht von dieser Welt, dann die Welt erkennen, sich von ihr stören lassen, diese Störung verarbeiten, um dann zu sich zurückzufinden, alles enthaltend. Das ist es, wo Annette Peacock heute angekommen zu sein scheint. Denn wenn man sie fragt, wo, in welchem gesellschaftlichen oder kulturellen Terrain sie eigentlich glaubt zu arbeiten, dann ist sie ehrlich genug, am Ende, nach längerer Überlegung, doch zu sagen: „Am äußeren Rand der Pop-Musik.“

    Und das ist richtig, denn obwohl sie das in der Pop-Musik seltene Phänomen einer Komponistin darstellt, bei der die gesetzten Töne für das Werk zentraler sind als Arrangement, Text, Präsentation, und obwohl der Grad an Sophistication, den sie und ihre Tochter menschlich wie künstlerisch erreicht haben, im Pop seinesgleichen sucht, ist ihr Idiom der Blues und nicht die europäische E-Musik, ist sie Amerikanerin.

    An diesem Abend in der Fabrik arbeitet sich die kleine Besetzung wieder durch Material aus zwanzigjähriger Komponistentätigkeit. Es gibt kein Altern beim Blues. Es gibt nur Durchhalten und Überstehen. Und das klingt dann für manche Ohren ironisch und esoterisch und ätherisch, aber es ist nur der Mensch. Der Mensch als Frau.

  • James – Das Gift der großen Künstler

    Morrisseys Lieblingsband – aber da gibt es noch mehr zu sagen. Z. B. wie aus Schweigen und Exorzismus eine schöne neue Musik entsteht. Oder wie Tim Booth unter Schmerzen ein Monster gebar. Aus Manchester, vom Ende der Welt (da wo die Sänger auf dem Kopf stehen), berichtet Diedrich Diederichsen.

    Es gilt die Band des Jahres anzupreisen (meine ehrliche Überzeugung!), und ich bin in Manchester (ha!) (Wo sonst?), und der Sänger der besten Band des Jahres steht auf dem Kopf, an so ein seltsames, drehbares Heimtrainer-Gerät angeschnallt: „Es ist gut für den Halswirbel, den ganzen Tag muß er den Kopf tragen, so kann er einmal ausruhen.“ Normalerweise darf ein Nick-Cave-Fan so etwas nicht ungestraft sagen. Er muß doch wissen, daß der faule Witz über den zu schweren Kopf des Poeten hier unmittelbar auf dem Fuße folgt (aber der Fuß ist ja in der Luft!).

    Ja, warum ist James für dieses Jahr das, was The Jesus And Mary Chain und Prefab Sprout für das letzte waren? Wer bin ich, Ihnen das zu sagen!

    So wie The Jesus And Mary Chain das Turner-Bild der Pop-Musik sind (also die Sichtbarmachung der Tatsache, daß Tiefe durch einen äußerlichen Trick entsteht, wie es Per Kirkeby in seinem Aufsatz für den Katalog der Eröffnungsausstellung des Museums Ludwig anhand von Turner so schön bewiesen hat), also der Anfang der ersten wahren Moderne dieser zutiefst im 19. Jahrhundert verwurzelten Kunstform Pop-Musik, so wie Prefab Sprout die größtmögliche Verfeinerung der alten Form und damit zwangsläufig ebenfalls den Beginn der Moderne darstellen, so sind James das erste Beispiel einer neuen Methode, eine Pop-Musik herzustellen, die in einem exorzistischen Prozeß alle vorgegebenen Bedeutungen und Anspielungen aus den sie zusammensetzenden Elementen herausgebrannt hat. Wodurch auch sie wirklich neu klingen. Wozu, wie zu zeigen sein wird, die gute Mischung aus Fanatismus, Naivität und Aufrichtigkeit gehört.

    Mach’ ihn fertig

    Ich muß bei der Kunst bleiben: James machen zunächst fein vertüftelte Zeichnungen in Formaten und mit Materialien, an denen nichts Besonderes ist. Und nebenbei verwenden sie zwar das lang vergessene Stilmittel der „intelligenten Stimme“, das ich nur von Van Dyke, Parks und Robin Williamson kenne und das feine, weiche, leise Stimmen meint, die sich ganz besonders schön anhören, wenn sie singen, was sie nicht singen sollten: Gröhl-Chöre, beschwörende Bässe, luftige Höhen, aber immer davonkommen mit ihren besserwisserischen Kehlköpfen. Und wenn Williamson bei frühen Incredible-String-Band-Platten z.B. versucht zu singen wie der Minotaurus, dann ist das sehr ähnlich Tim Boothes Momenten echter Verlorenheit in den Grüften der „Black Hole“. Aber auch die intelligente Stimme wie eben alles hört sich hier an, als hätte es noch nie abstrakte Zeichnungen gegeben, wie die Erfindung des Krickelkrakel.

    Tim Booth stammt aus einem Mittelklassehaushalt der legendär-versponnen-armen Grafschaft Yorkshire und ist 26, James Glennie (Baß) und Gavan Wheelan (Schlagzeug) sind vier Jahre jüngere Lads aus Manchester, die behaupten, bei der Gruppengründung vor vier Jahren noch nicht sprechen haben zu können. Der 29jährige James Gott ist später hinzugestoßen, nachdem sich sein Vorgänger zum Problem entwickelt hatte. Als man sich kennenlernte, hat man ein Jahr lang nur gespielt und nie miteinander gesprochen (ging nicht!): brachiale, wütende, wilde Sessions. Erst einmal haben sich alle gegenseitig umgebracht mit ihren Instrumenten, um dann die Waffen auch noch gegen sich selbst zu richten. Wenn einer einen anderen bei einem Zitat erwischte oder auch nur bei einem Anklang an etwas Bekanntes: Gib ihm Saures! Leg Lärm auf das Klischee! Mach ihn fertig, den sauberen Saftsack!

    So ging es eine Weile. Dann sah man sich erschöpft an und wollte aus den Exorzismen Songs machen. Wieder wurde (ohne zu sprechen, alle Kommunikation lief musikalisch, da draußen in Manchester am Rande der Welt) gnadenlos alles Erkennbare, Identifizierbare ausgemerzt, dem geilen Phantasma des Eigenen hintergejagt, voll kindlicher Größe. Tim: „Schließlich waren wir uns sicher, alles Fremde vernichtet zu haben, und schrieben eigene Songs. Doch plötzlich merkten wir, daß es alte Kinderlieder waren, Weihnachtslieder und Nationalhymnen. Wir waren mit unserer Vernichtungs-Arbeit plötzlich bei unserer Kindheit angelangt.“

    Helfend kam die Realität dazwischen in Form erster Touren, darunter einer mit The Smiths, die dazu beigetragen hat, der Band das eine der beiden Klischees einzutragen, gegen das sie heute noch kämpfen: „Morrisseys Lieblingsgruppe“. Das andere heißt „Vegetarier“: „Ich esse kein Fleisch, zufälligerweise, deswegen würde ich mich doch nicht Vegetarier nennen, ich definiere mich doch nicht über meine Eßgewohnheiten“, sagt Tim, wortreich, inzwischen von dem Heimtrainer herabgestiegen, mit der leicht effeminierten Eindringlichkeit des britischen Narzißten: „Ich würde mich auch nicht ‚homosexuell‘ nennen, oder am Ende gar ‚heterosexuell‘, ich bin ja schließlich auch nicht meine Sexualität.“ Seltsamerweise erinnert er mich genau in diesem Moment an Boy George. Ich heiße Diedrich, ich bin Alkoholiker.

    Frankensteins Monster

    Während dieser Tour wurde dann plötzlich gesprochen. Differenzen in allen wesentlichen Fragen zwischen Politik, Religion und Musik entstanden, der Ausmerzungskampf im Dienste der Erneuerung verlagerte sich auf die diskursive Ebene. Vor allem Gavan nimmt grundsätzlich den politisch radikalen Standpunkt ein, während Tim sich seine poetisch-eigenen leicht versonnenen Gedanken macht. (Jetzt erinnert er mich an Moritz Rrr.) Ein Veto-System beginnt die inneren Kämpfe zu regeln, erste Übereinkünfte werden erzielt. Gavan würde den Miners-Streik lieber bedingungslos unterstützt haben, Tim rechnet Scargill taktische Fehler vor: „Man macht einen Kohle-Streik doch nicht im Frühjahr, wenn kein Mensch Kohle braucht.“ Gavan: „Die Regierung hat ihn dazu gezwungen.“ Tim: „Wenn man England für ein Anliegen gewinnen will, muß man Kompromisse machen, wenn man als Mohawk-Punk demonstriert, darf man sich nicht wundern, wenn die Mehrheit verschreckt ist!“ Gavan: „Man darf keine Kompromisse machen, man muß die Mehrheit zu sich herüberziehen, das ist doch genau wie in der Musik, du würdest doch unsere Musik nicht verändern wollen, um in die Charts zu kommen.“ Tim: „Wer weiß? Unsere Musik nicht, aber vielleicht sollten wir uns ein nettes Image ausdenken und nur in Leder auftreten.“ Ich: „Kleidung und Image ist wieder eine Kunst für sich, die nicht jeder beherrscht, seid doch froh, daß ihr die Musik erst mal bezwungen habt. Macht doch keine dummen Witze, Kinder!“ (Dabei liebe ich dumme Witze!) Alle: „Das wäre kein dummer Witz. Das würde passen, wir sind live eine düstere Band, wir machen zuweilen reine Lärm-Sets, wir können Heavy-Metal spielen.“ Und so weiter.

    Auf den Touren ging das weiter, was sprachlos begonnen wurde: alle eventuell erkennbaren, nachvollziehbaren Individualitäten der einzelnen Instrumente, alle Stellen, die zu viel über Traditionen, Herkunft und Werdegang verraten hätten, wurden nun wegdiskutiert: Das Monster James sollte außerhalb der nichtigen Individuen, die es geschaffen haben, wachsen, wirken und Landstriche der Häßlichkeit verwüsten: „Wir hätten uns auch Frankensteins Monster nennen können, aber unser früherer Gitarrist wollte, daß wir uns nach einem Gruppenmitglied benennen. ‚Tim‘ kam nicht in Frage, weil es dann die Band des Sängers gewesen wäre. ‚Gavan‘ nicht, weil man es dann für Heavy-Metal gehalten hätte, er selber war zu bescheiden, also haben wir uns nach Jim hier benannt, unserem Bassisten, es ist seine Band.“

    Hammerklausur

    Man unterhielt sich nächtelang auf diesen Touren und lernte zu formulieren, was man schon länger wußte. Worum geht es bei James? „Um unsere Beziehungen untereinander, um die Vertiefung unserer Beziehungen, darum, uns immer besser kennenzulernen.“ Aufgehen im Monster eben. Das Publikum brauchen sie dazu ganz im Sinne der Pete-Townshend-Auffassung, daß ein Rock-Konzert ein Scharmützel ist, die Band ein Kommando und die Verhältnisse innerhalb der Band die von Kriegskameraden, ein Bonmot dies, das James begeistert aufnehmen: „Klar, wir stehen an der Front!“

    Ja, aber das stehen alle Bands, dieses Gefühl, etwas Neuerfundenes vor sich zu haben, geben mir die anderen aber nicht, dieses beständige Ausweichen vor der Häßlichkeit, das in Wahrheit kein Ausweichen, sondern ein Überrennen ist: „So many traps have been laid / how can you avoid one“, singt Tim in „So Many Ways“. Und die Antwort ist ganz klar, du kannst dich um Häßlichkeiten nicht ewig panisch herumspielen, herumkomponieren, um nicht zu sagen herumdrücken (Wir sind ja nicht bei den Woodentops!); wenn man soweit gegangen ist, seine arbiträren Vorlieben bis auf den Grund der Kindergarten-Prägung vernichtet zu haben, kann man als Otto-Mühl-mäßig Neugeborener ALLES machen, und alles kommt frisch und neugeboren aus der psychodynamischen Hammerklausur herausgekrochen (inwieweit auch dies eine Falle ist, dürfte sich später herausstellen. Gedanklich ist es zwar unhaltbar, bzw. es ist vollkommen undenkbar, zu glauben, man könnte sich aus der Kulturgeschichte herausstehlen, aber dann wieder nicht: denn hier geht es ja nur darum, den persönlichen Ekel vor den bekannten Elementen auszumerzen, die Verwurstung der Elemente der Musik mit den Elementen des eigenen Lebens, die stumpfe innere Assoziationsmaschine zu töten, die in den scheinbar naturgegebenen konventionellen Zusammenhängen der Elemente steckt, um sie so frisch und anders zusammensetzen zu können. Wie anders könnte man übrigens fanatisch und naiv definieren? Zu glauben, das ein Gitarrenschrummschrumm und eine durch die Oktaven sausende Stimme etwas anderes bedeuten könnte plötzlich und damit auch noch recht zu haben. Da ist er wieder: der Trick, der Tiefe entstehen läßt. Und wenn der Trick Gruppendynamik heißt).

    Obwohl alles Produzierte zunächst häßlich ist, Produzieren immer die reine Häßlichkeit und Peinlichkeit, sich hervorwagen und so tun, als wäre es diesmal ausnahmsweise nicht häßlich. Aber nicht so billig à la Kann-man-wieder-machen, sondern mit einer Begründung (dem Exorzismus), der als Begründung theoretisch nicht reicht, aber das Billige verhindert und somit subjektiv für die Band funktioniert und dadurch auch zum objektiven Gelingen des Kunstwerks beiträgt: Genug gesagt?

    Lob der Krähe

    Ja, es gibt eine Ausnahme vom radikalgesamtdemokratischen Veto-System bei James, nämlich natürlich die Texte, also Sänger Tim, der eben doch am meisten sagt und der mir zum Beispiel „Scarecrow“ erklärt: „Crow war der Spitzname von Patti Smith, und die hat einmal gesagt, daß sie mit der Musik die Barrieren zwischen den Nationen vernichten wolle, und das war mir suspekt, also sie hat da sozusagen ein spirituelles mit einem Ego-Anliegen verwechselt, obwohl es mehr ein Witz ist, daß ich singe, ‚Don’t Mix Your Ego With Your Soul‘“. Ein typisch amerikanisches Anliegen, Weltherrschaft durch Rock’n’Roll. „Na ja, jeder bekiffte Künstler könnte so was sagen!“ Unnötig zu sagen, daß Produzent Lenny Kaye diesen Text geliebt hat, zumal die Patti Smith Band in dem Lied ein besonderes Lob abbekommt.

    Genie und Gesundheit

    Das ist ein supernettes Dilemma von Tim (eigentlich ist es gar keines). Er liebt die großen ausgemergelten Poeten, liebt Patti Smith, Iggy Pop, Nick Cave: „Aber ihr Lebensstil, grauenhaft!“ Das Wort Junkie spricht er nachgerade pikiert aus, nichts läge ihm ferner. Und schön auch, daß er Patti Smith verehrt, wie diese Bob Dylan verehrt, wie der Rimbaud verehrt, im Gegensatz aber zu Patti Smith, die daraufhin ihrerseits Rimbaud las und wieder einmal für eine Generation von Ami-Dichtern die Verantwortung trägt, die unsanft mit europäischem Erbe umgehen, nie eine Zeile Rimbaud in die Hände nahm. Er singt über „Johnny Yen“, weiß, daß dieser ein Burroughs-Charakter ist, kennt aber nur den Song von Iggy Pop, will nichts wissen von den Ursprüngen der Mythologie („Gedichte? Furchtbar langweiliges Zeug“), als Sänger der Band der Zukunft will er seine eigene unbelastete Mythologie schreiben, für diejenigen, die dann Patti Smith nur vom Hörensagen aus den Worten des großen Timothy Booth kennen und unter denen es einige Beflissene geben wird, die sich antiquarisch „Babel“ besorgen. Vielleicht.

    Es ist Timothys Hauptproblem, daß er so gesund und klar und selbstverliebt ist und nie in die Nähe einer ausmergelnden Laufbahn geriete, aber andererseits diese tragischen Dichter so verehrt und irgendwie und ohne das zu sagen, ein niedliches Schuldgefühl hat, weil er so untragisch ist. Man kennt das ja: Kann ich ein Genie sein, ohne den Tod zu meinen täglichen Trinkgenossen zu zählen? Was bin ich wert, der sich mir Satan noch nie persönlich vorgestellt hat? Ich wär gern Faust, aber Mephisto doesn’t live here anymore.

    Tim Booth passierte in seiner Jugend folgendes: Sein Vater lag im Sterben. Qual, Streß, Pubertät. Tim geht entnervt auf sein Zimmer, spielt die Cassette, die gerade im Recorder liegt, und Patti Smith singt ausgerechnet das lange, elegische „Birdland“, das mit den Zeilen beginnt: „As father died…“, um dann lange in Begräbniseindrücken zu schwelgen. Das war seine Initiation. Heute träumt er solche Sachen: „Ich seh all die Bilder meiner Helden, du kannst dir vorstellen, welche. Einige sind schon tot. Und eine Frau kommt zu mir und gibt mir einen Becher. Sie sagt: ‚Das ist das Gift, das alle großen Künstler zu sich nehmen müssen.‘ Und ich trinke es, und plötzlich wird mir klar, daß der Preis ist, daß ich so aussehen werde, wie diese Helden von mir, krank, zusammengeschrumpelt, eingefallen, und ich flehe die Frau an: ‚Nein, ich will nicht. Mach die Sache rückgängig!‘ Und sie: ‚Jetzt ist es zu spät.‘ Und, ich kriege die Panik. Da lenkt sie ein und öffnet meinen Mund mit einer riesigen Kneifzange und langt ganz tief in den Rachen und holt ein riesiges glitschiges Ding da raus, kindskopfgroß. So schnell hatte das Gift schon gewirkt … Später sah ich in dem Traum noch einmal alle meine Helden, und sie sahen so schrecklich aus …“

    Und das glitschige Ding war natürlich nichts anderes als der Embryo des Monsters James, der kleine pränatale James, der inzwischen längst geboren ist und läuft und kreischt und spuckt wie ein kleiner Punk-Rocker. Das neue Kind. Die Zukunft, James eben, der kleine ausgetriebene Teufel, der Kleine von Mephisto.

    „Trink mich?“

    Schließlich haben wir uns ausgesprochen, ich meine Sachen zusammengepackt und der French-Horn-Spieler ist angekommen, mit dem dann, wie ich höre, als ich vor dem Übungsraum auf das Taxi warte, gnadenloser Mantra-Jazz zusammengejammt wird. Was ist Kommunismus anderes, als daß jeder Faust sein darf, denke ich mal wieder, während das French Horn seine rätselhaften Schleifen zieht. Die Schwäne sterben in den Flüssen, aber die Enten werden von Tag zu Tag schöner.

  • Working Week – Das Herz der Kultur in der Mördergrube des Zusammenstoßes

    Uh, oh, Jazz, du ungelöstes Menschheitsproblem. Tausendundeine fragmentarische Novelle nach der anderen sonderte Shererazade Diederichsen schon zu diesem Thema ab, ringend mit den Engeln, Teufeln und Dämonen bis er Working Week traf, das große Ding (nicht nur) vom letzten Jahr. Musiker, Schicksale, Charaktere, Gedanken, die Antworten zulassen, auf diese größte aller Menschheitsprobleme. Es ist an der Zeit den Kopf aus dem Fenster zu halten – auch davon handelt diese Musik (just a little bit, just a little bit) …

    Working Week sind bestimmt keine Band, die es darauf anlegt, hip zu sein. Working Week ist ja eher eine intelligente Band, und als solche legt sie es darauf an, weder unbedingt hip sein zu müssen, noch ausdrücklich etwas dagegen zu haben; im Gegenteil, man ist ja so intelligent und links und sowohl Pop-Kultur- wie Richtige-Musik-geschult/bewußt.

    Oh, wie sie keine Fehler machen! Ihr großer Sieg: Durch sie ist Kompetenz hip geworden (wenn das keine contradictio in adiecto ist, darfst du Aristoteles zu mir sagen, oder Brösel). Dreimal dürft ihr raten (falls ihr es bei Erscheinen nicht schon wißt), von wem diese Band wohl eine Coverversion macht. Wie man weiß, sind sie nicht blöd und rennen in keine Fallen und machen also bestimmt nichts von Stan Getz, Charlie Parker, Aretha Franklin, John Coltrane – das wäre alles zu geschmackvoll-offensichtlich oder zu blöd. Auch der Backkatalog von Velvet Underground, David Bowie und The Jam ist vor ihnen sicher, ebenso natürlich zu Obskures wie Grachan Moncur III oder die musikalischen Versuche von Staatsschauspieler Richard Chamberlein. Schließlich sind sie nicht die Prefab Sprout des New-New-(Pop)-Jazz. Bleibt, mit zwingender Logik, nur Jimi Hendrix.

    Falsch geraten. Es ist natürlich Captain Beefheart. Klasse, was, denn Captain Beefheart ist natürlich alles und supergut, und jeder weiß es, aber bestimmt kein Swing oder Jazz oder irgend etwas, was man, und wenn es ein Mißverständnis wäre, in „Absolute Beginners“ packen könnte. Aber andererseits ist er natürlich gerade Jazz („That’s right, The Mascara Snake, fast’n’bulbous“ -„Thight also“), in eben diesem höheren Sinne, in dem Working Week das Schöne, Gute und Wahre zu fusionieren vermeinen.

    Wie kommt es eigentlich, daß Simon Booth in fast allem, was er sagt, unrecht hat, aber trotzdem alles immer irgendwie hinhaut (er drückt sich nicht etwa unklar aus)? Wie kommt es weiterhin, daß Larry Stabbins in fast allem, was er sagt, weder recht noch unrecht hat, sondern faktische Fakten hinknallt (über deren normative Kraft Klügere als ich schon Bemerkenswertes gedacht haben sollen). Was ich sagen will, ist: Ein typischer Simon-Boothe-Satz ist z.B.: „Das einzige Konzept, an das ich glaube, ist das des Culture Clash.“ Ein typischer Larry-Stabbins-Satz ist: „Klar, das ist auch gut. Ich habe es schließlich schon seit Jahren gespielt, aber es paßt nicht zu dieser Band.“ Oder: „Klar, der ist auch gut, mit dem habe ich auch schon oft gespielt.“

    Nun will ich aus meinem Herzen keine Mördergrube machen: Ich hasse Culture Clashes, vor allem, wenn sie Konzepte sind. (Nicht nur, weil es immer einen Sieger und einen Verlierer gibt bei so was. Meistens siegt der Baum, Mensch und Auto bleiben auf der Strecke. Im Sterben wickeln sie sich um den Sieger.) Ich glaube, man sollte an sich arbeiten, und nicht an irgend etwas Fremdem herumpusseln, man kann sich ja was aneignen, aber dann wird es einem eigen und ist nichts Fremdes mehr, und es gibt keinen Clash, sondern pure friedvolle Schönheit und Sphärenharmonie. Ich meine, die Dinge sind ohnehin schon so schrecklich gemischt. Nur weil Faschisten und Schweine gegen Rassenmischungen waren und sind, muß man als progressiver Mensch nicht unbedingt alles andere mischen wollen. Bekanntlich ist dabei noch nie etwas Gutes rausgekommen (jedenfalls wenn es bewußt geschah: Zitat-Pop wurde scheiße, als er so hieß und sich auch so fühlte, und Jazz meets India war naturgemäß immer schon kacke, nicht kacke dagegen war’s, wenn einzelne durchgeknallte Free Jazzer – Sanders, Cherry etc. – für Bali, Indien oder Japan sich begeisterten und sich das Zeug zu eigen machten, beseelt und bescheuert, wie es sein muß.)

    Hockey aus Neuseeland

    Also wer clasht denn hier?

    Larry Stabbins, ein unglaublich sympathischer Free-Musiker, Duz-Freund von Brötzmann, der aussieht wie ein uralter Tennistrainer, der Prä-Tiriac/Bosch-Ära, ein Hockey-Nationaltorwart von Neuseeland, ein Cricket-Crack, der mit all diesen Eigenschaften, Lakonie und Korrektheit britischer Prägung, zeit seines Lebens ausgerechnet freie, improvisierte Musik gemacht hat. Weiterhin Simon Booth, der Jazz-Rock und Fusion immer gehaßt hat und Velvet Underground und Bowie und Marvin Gay liebte und wie alle Beteiligten von der Idee besessen ist, Brötzmann sollte zur Punk-Nacht im „100 Club“ aufspielen – Brötzmann wird ja immer vorgeschoben, wenn Jazzer beweisen wollen, wie frisch, radikal, jung und wahnsinnig ihre Musik noch im hohen Alter klingen kann – und er trägt eine modische Brille mit Kordel, lispelt sehr nett und verrennt sich in Idealismen („Musik ist eine internationale Sprache“), Lieblingsbuch: Die Autobiografie eines tschechoslowakischen Swing Waldhornisten, der erst von den Nazis und dann von den Stalinisten daran gehindert wurde, Jazz zu spielen (was Bosheit und Verschlagenheit von Nazis wie Kommunisten zirkelschlußmäßig ebenso beweist wie die Subversivität von Jazz).

    Als drittes Mitglied clasht dazwischen: Julie Roberts. Sie macht mich inkompetent (also hip). Ich verstehe nichts von dem, was sie ausmacht, ja was sie nicht nur ausmacht, was sie geradezu stolz und groß und dick und schön macht: Ich bin weder Frau, noch schwarz, noch Negerin, noch Sängerin, und von Soul habe ich auch keine Ahnung, jedenfalls von Soul, der von Frauen gesungen wird. Sie ist während des Interviews etwas mucksch, weil ich die ganze Zeit auf dem Problem herumreite, ob man etwas zusammenfügen darf, das Gott getrennt, oder nicht, und ob es nicht besonders perfide sei, Pop-Songs mit Jazz zu versetzen, wenn man Jazz auch noch zu allem Überfluß richtig spielen kann. Ihr prägnantestes Statement war, darauf zu bestehen, Working Week habe kein Image, man ziehe sich nur zufällig und höchst individualistisch und frei entscheidend so und so an, um dann mit den Worten, „ich muß man zum Ladies Room“, für eine halbe Stunde zu verschwinden.

    In der Zwischenzeit ist das Gespräch beim perfekten Song gelandet, besser: bei der Existenzberechtigung des Songs schlechthin (im Gegensatz zum Jazz, zur Improvisation, zur rechtmäßig-avantgardistischen künstlerischen Unverdaulichkeit des freien Jazz, dem Larry Stabbins fünfhundert Jahre lang gedient hat). Simon Booth wird seltsam euphorisch (während Larry Stabbins mit seinen Cricket-Fingern knackt), er richtet sich auf dem Sofa auf und zitiert Roland Barthes und sagt etwas über „Walk On By“ und die generelle Tatsache, daß Songs traurig, absolut herzzerreißend niederschmetternd, aber dann wiederum doch absolut schön und damit aufbauend, ermutigend sein könnten.

    Aber eben genau das ist es, was Jazz nicht ist, denke ich, und so sage ich zu Booth, Jazz sei eben nicht einsetzbar, Jazz ist verdammt noch mal Kunst, Alte-Männer-Kunst, aus Prinzip unkonsumierbar. Wenn man Jazz hört, kann man ihn nicht aufessen, es bleibt immer ein Rest, und deswegen ist aktueller und somit atonaler Jazz nie erfolgreich (ist also nichts mit Crossover-Crosseulture: Wenn man den Kids Jazz nahebringt, macht man Pop, den man Jazz nennt, und den hören sie ja sowieso. Oder man injiziert Jazz-Soli in ungefährlichen Dosen. Booth widerspricht auch hier, und Stabbins bringt auch hier die Fakten. Gerade in Deutschland und Japan wären die puren Jazz-Einlagen ihrer Konzerte bei den Pop-Kids über die Maßen gut angekommen, ja in Japan hätten sie mit 16jährigen gejammt, die aus dem Hut zaubern konnten wie der junge Parker).

    Frankensteins Tochter

    Es ist ein widerlicher Gedanke, aber er muß raus: Es gibt zwei Schönheiten. Die Pop-Schönheit, unverdient, verführerisch und verschwenderisch wie die Jugend selbst (geliebter Frühling meiner Tage, wie voller Anmut strahlst du), und die Kunst-Schönheit, und die muß verdammt noch mal verdient sein. Ein junges Mädchen mit einem schönen Gesicht – immer gut. Eine junge Frau mit einem schönen Gesicht muß sich diese Schönheit verdient haben, sonst ist sie Maruschka Detmers. Wenn man nun aber Larry Stabbins heißt und sich die Kunst-Schönheit von Alte-Männer-Unverdaulichkeiten verdient hat, kommt man doch nicht auf die Wahnsinnsidee, sich als Orson Welles plötzlich für Sue Lyon zu halten.

    (Natürlich gibt es auch noch die Alte-Männer-Pop-Schönheit von Cale und – da wäre er wieder – Captain Beefheart – aber wir hatten uns ja geeinigt, daß der Jazz ist –, aber die kommt hier nicht in Frage. Ach welch Qual und Uneinsichtigkeit meinerseits, hatte ich mir doch früher immer gewünscht, nicht allein zu stehen mit dem Gedanken, daß Marvin Gaye und Cecil Taylor große Musiker seien, warum muß ich diesen Gedanken heute, wo er breit durchgesetzt ist, wieder bekämpfen? Wegen seiner Verwässerung? Wegen der Musik, die mit ihm sich legitimiert? Aus greisenhafter Renitenz und Besserwisserei?)

    Aber er hält sich ja gar nicht für Sue Lyon, eher für Dr. Frankenstein. Denn ist nicht Working Week die erste Band, der die Jugend, flirrend vergängliche Schönheit (Pop, Songs, Schmachtfetzen) künstlich herbeizuschaffen, kraft Kompetenz im Labor konstruiert zu haben, gelungen ist. Kraft einer Kompetenz, die übers Spielenkönnen hinausgeht, die mit einer exzellenten Kennerschaft der wichtigsten Musiker bei den drei Musikern aufbaut (Free Jazz, Bowie/Velvet, Soul). Keiner der drei ist unbedingt auf einem dieser drei Gebiete ein Groß-Meister, aber kein anderer hat auch bislang versucht, diese drei Gebiete zusammenzubringen, und zwar nicht Clash-Konfrontation-Provokation-mäßig, sondern additiv (was naturgemäß immer die schönste Verschmelzung ist: die additive). (Gretchenfrage: Kommt es zum dialektischen Umschlag?, Gretchen ab.)

    Also Fusion doch gut? Nein, aber Fanatismus. Echter Musik-Fanatismus, nicht ein Konzept treibt seltsame Blüten, nicht die von den zufälligerweise nebenbei noch als intel lektuelle dilettierenden Musikern nachgereichten Ideen, sondern Musiker-Fanatismus, ideenloser.

    Noch ein Problem. Jazz wächst und entwickelt sich. Manchmal bleibt etwas als Formel stehen und wird Pop. Das ist nicht nur okay, sondern schön, und die Geburt von Rock’n’Roll, Soul etc. verlief genauso (Hallo Jazz, alter Mephistopheles!). Dann gibt es den Versuch, den Jazz, seine Methode, sein E-Musik-haftes Wachsen und Entwickeln in die Pop-Musik zu integrieren (Chicago), um sie kulturell zu erhöhen, was nicht funktioniert (es ist in etwa so idiotisch, wie wenn Maler ihr Publikum mitmalen lassen würden), und es gibt die Pop-Musik, die aus sich selbst heraus anfängt zu delirieren (zu wachsen), was wiederum schön ist: Soft Machine, Beefheart. In Simon Booth verbindet sich Typ 1 mit Typ 3 aufs netteste (auch wenn er blöderweise Charlie Mingus’ Autobiographie für sexistischen Unsinn hält, auch hier hat Stabbins wieder das bessere Argument, er meint, Mingus hätte sie nicht selbst geschrieben), und er haßt Typ 2 („Ich hasse Mahavishnu und Brand X, aber ich mag McLaughlins erste Solo-LP, ‚Extrapolation‘.“ Ich auch.).

    Noch zwei Meinungsverschiedenheiten. Booth und Stabbins mögen die Ornette-Coleman/Pat Metheny-Platte und zitieren einen befreundeten Journalisten mit den Worten: „The acceptable face of fusion.“ Ich hasse diese Platte, Cecil Taylor auch: „Ornette is dancing on his head.“

    Zweitens: Sie hassen „Absolute Beginners“. Ich finde, daß dieser Film wenigstens ganz schnafte die britische Pop-Lebenslüge untermauert, aller guter Pop/Jazz/Soul sei britisch und sie hätten keinen R&B, Blues, Rock’n’Roll aus USA gebracht, sie hätten ihre eigenen Schwarzen (Ska, Bluebeat). Rock’n’Roller seien zynische Faschisten.

    So gesehen, finden sie den Film dann doch wieder gut, weil sie es politisch wichtig finden, daß die Amis englische Soul-Platten kaufen.

    Ein herrlicher Lattenschuß

    Noch ein echtes Problem, das aber mein Problem bleiben sollte, weswegen ich es wenigstens soweit für mich behalten will, daß ich es in Klammern setze: (Ich habe noch nie ein Stück von Working Week wirklich gut gefunden; immer ganz gut zwar, auf dem richtigen Wege, schön gedacht, herrlicher Lattenschuß, knapp vorbei, da hätte Toni Schumacher sich umsonst gestreckt, wenn der Ball nur ein paar Zentimeter …, schön durchgesetzt, aber zu unplaziert im Abschluß, herrliches Solo, aber nicht präzise genug, eben nicht Soft Machine, sondern allenfalls fanatisch und gut genug, Beefheart und viele, viele andere richtig einzuschätzen. Warum Working Week, wenn ich mir genauso gut erst Dionne Warwick, dann „Pale Blue Eyes“ und dann „Air Above Mountains (Buildings Within)“ von Cecil Dingsbums auflegen kann? Ich weiß warum, wegen live. Und live habe ich sie noch nie gesehen, und deswegen bin ich ja inkompetent und Kompetenz als frankensteinmäßiges Mittel künstlich-ideenmäßiger Konstruktion von Schönheit ist ja das Leitmotiv des Artikels).

    K.O.M.P.E.T.E.N.Z. / Ja das ist doch wirklich nett / dafür geh ich jetzt ins Bett / und esse noch ein Brot mit Mett, äh, kannst auch Otis zu mir sagen.