1990 erschien eine gekürzte Version dieses Textes im Spiegel. Für die vorliegende Publikation habe ich die Originalversion erweitert und aktualisiert. Ihr Eintreten für Madonna, besonders die frühe Madonna, soll nicht zurückgenommen werden, erklärt sich aber teilweise auch aus dem Umfeld: der spezifisch schmunzel-misogynen und bornierten Berichterstattung des Spiegel über Popmusik im allgemeinen und Madonna im besonderen. Heute, wo anläßlich von zehn bis zwanzig nicht allzu verbreiteten Nazi-Rock-Platten in den bundesdeutschen Mainstream-Medien mehr denn je über Popmusik geschrieben wird, zeigen sich die fatalen Folgen dieser Ignoranz, die sich nun plötzlich mit ihrem selbstverursachten Ernstfall konfrontiert sieht und darüber in eine Hilflosigkeit verfällt, deren besonders trauriger Gipfel dann das Interview war, das der Spiegel mit der Gruppe Störkraft führte. Die Interviewer ließen sich, obwohl sie am längeren, redigierenden und inszenierenden Hebel saßen, von der Band mühelos rhetorisch ausmanövrieren, glänzten durch Ahnungslosigkeit (die Störkraft-Musik sei von Ska beeinflußt) und machten unbezahlte Werbung für eine Band, die sicher demnächst etwas Kreide fressen wird, um dann, wie vor ihnen die Böhsen Onkelz, die Charts zu stürmen. In gewissem Sinne ist dieser Erfolg rechter Bands aber auch ein fataler Erfolg jener Pop-Strategie, Mainstream-Medien, die ein Spiel, nicht durchschauen, zur Teilnahme an dem Spiel zu zwingen, ein Spiel aus dem Ernst geworden ist. Es reicht also nicht mehr, diese Pop-Strategie zu affirmieren und den Spiegel auszulachen oder zu kritisieren. Man war ja immer auch ganz froh, daß Zeit und Spiegel nix verstehen; das bestätigte in den Achtzigern das subkulturelle Selbstbild von den geschützten Kanälen und Informationsräumen. Auf der anderen Seite: Wäre der Spiegel so gut im Umgang mit Popmusik wie etwa der Standard, der Guardian, zuweilen die New York Times oder manchmal sogar Newsweek, hätte sich eben das strategische Niveau und die Welthaltigkeit von Pop auch in Deutschland steigern müssen. Das Niveau des Establishments bestimmt bekanntermaßen auch immer das seiner Gegner mit.
Zur Strategie der Popmusik gehört es, daß immer ganz bestimmte Leute verstehen und ganz bestimmte andere nicht. „The men don’t know but the little girls understand“, wie Willie Dixon in seinem „Backdoor Man“ schrieb und Howlin’ Wolf und Jim Morrison später sangen. Dieser Strategie, etwa dem Spiegel gegenüber, bediente sich Madonna genauso wie später Störkraft. Damit ist diese Strategie an ihre Grenzen gekommen, wenn auch nicht völlig obsolet geworden. Madonna selbst hat diese Strategie in der Zeit, nachdem mein Artikel erschien, aufgegeben. Sie hat sich zwar immer noch präzise mit einem Underground identifiziert, der sich abgrenzt und tribalistisch auf Zusammenhalt setzt, aber sie hat gleichzeitig eine Gegenstrategie entwickelt: allen alles zeigen. Die Pointe dieser Strategie ist, daß man damit erst recht alles verhüllt. Einen letzten strategischen und künstlerischen Erfolg erzielte sie mit In Bed With Madonna, über den sich die Redakteure von Musik Express und anderen Männermagazinen wieder hämisch hermachten, während the little girls understood. Madonna hat sich mehr misogynen Müll von Männern und ihren Magazinen anhören müssen als Marylin Monroe, Marlene Dietrich und Mae West – einige ihrer Vorbilder – zusammen. Denn obwohl natürlich jeder männliche Journalist mittlerweile einigermaßen sicher an den Fallen seiner trotz gesellschaftlicher Ächtung resistenten frauenfeindlichen Ressentiments vorbeizutänzeln gelernt hat, ist keiner von ihnen dagegen gefeit, daß ihm seine tiefere misogyne Ideologie gnadenlos in die Sätze fuhrwerkt. So wird Madonna in Tempos nicht „exklusiver“ Geschichte aus Vanity Fair, zu der Helmut Newton sie nicht „entblättert“, zur „Masochistin“ – eine total geile, zur Zeit besonders angesagte Frauensorte, wofür die im US-Original „White Heat“ betitelte Geschichte in „Die Geschichte der M.“ umbenannt wird.
Dem Spiegel fiel „Hausfrauensex“ und „Werbefilm für Gynäkologen“ ein, weil man ja dort auf schärfere bzw. „erotischere“ Sachen steht. Perverserweise gehört zur Misogynie heutzutage auch das Verteilen von schlechten Zensuren für die mangelnde Emanzipiertheit des Opfers („Repräsentant der Restauration“, „verklärtes Frauenbild“, ebenfalls der Spiegel, das Blatt der Subversion und des rasend aufgeklärten Frauenbildes), was der bekannten Struktur entspricht, die weiße Journalisten immer wieder schreiben läßt, irgendwelche schwarzen Stars, Politiker etc. seien nicht stolz genug auf ihre „Rasse“, machten Kompromisse mit den Weißen etc. Männer konsumieren Bilder sogenannter starker Frauen grundsätzlich nur dann mit Genuß, wenn in ihrem Mythos eine Bestrafung für die Stärke miteingebaut ist. Der Fall der Göttin, ihr tragisches Scheitern ist fest eingebauter Bestandteil aller männlichen Frauenkulte, von Maria Callas bis Tina Turner. Egal, ob die Bestrafung in einem pittoresken Drogentod, im ständigen Ausstellenmüssens der Wunden früher eingesteckter Schläge oder einfach in einem öffentlichen Unglück besteht, verursacht durch dieselbe „Leidenschaft“, dieselben „starken Triebe“, die zwar die Karriere ermöglicht haben, die aber, so der Mythos, unweigerlich am Ende Kontrolle über sie gewinnen und sie niederstrecken – als Einsamkeit, Alzheimer oder Alkohol, von Janis Joplin bis Greta Garbo.
Doch aus diesen einzelnen Mythen wurde längst eine bei Industrie, Konsumenten und Kommentatoren gleichermaßen zäh geglaubte Ideologie, die das Gesetz verhängt, das von Frauen als Stars „Authentizität“ verlangt: die Aufgabe der Distanz zwischen Darsteller und Dargestelltem. Etwas, was von Mick Jagger oder Prince längst kein postmoderner Mensch mehr verlangt, und dessen Modell natürlich in dem Authentizitätskultus der Pornographie („Cum-Shots“) besteht. Entsetzlich ist vor allem, daß dieses Gesetz so stark und üblich ist, daß es etliche Protagonistinnen des Starke-Frauen-Mythos im wirklichen Leben erwischte.
Das Wichtigste an Madonna ist, daß sie die Distanz zwischen ihren Inhalten und ihrer Person immer in den Mittelpunkt gestellt hat, so sehr, daß die Nichtidentität zwischen Show und Wirklichkeit wieder in gewissem Maße zu ihrem Inhalt wurde, daß dabei eine neue Identität herauskam. Nun allerdings nicht mehr zwischen einem reaktionären Mythos und seinem Opfer, sondern zwischen einer erkämpften, neuen Position und ihrer Autorin. Den ersten Artikel über Madonna in deutscher Sprache schrieb Lothar Gorris unter dem Titel „Uns leuchtet ein Stern“, für Spex, 11/83. Madonna ist da noch ein weißes Underground-Mädchen, das ungewöhnlicherweise über schwarze Musik und durch die Unterstützung schwarzer Radio-DJs einen mittelüberraschenden Club-Hit landet. Im selben Sommer hörte ich in New York ihr „Holiday“, das noch vor der ersten LP erschien, als eines der besten Disco-Stücke aller Zeiten, uplifting, utopisch, unwirklich – erlebt im Kontext der „Paradise Garage“-Mode. Das war der Sound einer West-Side-Discothek, der heute als einer der Vorläufer von House und Deep House klassisch geworden ist, wo man endlose Remixe von Peech Boys und S.O.S.-Band-Songs hören konnte, billigen, kräftigen, klaren Soul, dessen Produktion moderner und einfacher war als alle mitteleuropäische Computermusik.
Aus dieser Ursuppe tiefen, heißen Trashs klang Madonnas Hymne an den einen Tag, den man sich vom Leben frei nimmt, wie die Nahtstelle zu den amerikanischen Massen im Tageslicht, klang wie der Morgen auf der Dachterrasse des „Garage“, wo schöne, schwarze Schwule zum Sonnenaufgang mit Orangensaft relaxten oder sich im Videoraum european art shit ansahen wie Schlöndorffs Blechtrommel mit Untertiteln. Ihr vom Spiegel als „mickrige Piepsstimme“ – als wär Stimmumfang je ein Kriterium irgendeiner Pop-Qualität gewesen – denunziertes billig-energisches Girl-Group-Organ war wie die erste Antwort der anderen, draußen auf den Straßen, an die Schönheiten der im dunkeln blühenden Dance-Kultur.
Im richtigen Moment einen korrekt verwurzelten Underground-Sound in eine Massenpopmusik umzuschmieden, ohne das, was seine Wurzeln in die Genre-typischen Geräusche eingegraben haben, zu verraten, ist die einzige Berechtigung für große Pop-Karrieren: hier schwarze gay culture – der sie sogar bis zu ihrem „Vogue“-Video und In Bed With Madonna treu blieb –, Disco und Trash. Daß Trash, der einzige wirklich die achtziger Jahre bestimmende Zug der Kulturgeschichte, auch Massenkultur wurde, hängt direkt mit Madonnas Erfolg zusammen. Trash heißt, daß die Nähte und Nieten, die einen Song, einen Film zusammenhalten, die aus armseligen Produktionsbedingungen, Eile, Ungeduld, Trendhinterherrennerei entstandenen Mängel absichtlich oder unabsichtlich zur Schau gestellt, vor allem aber genossen werden. Genossen als unauslöschliche, unrelativierbare Spuren wirklicher Arbeit und wirklicher Verhältnisse (nicht als die große gefälschte, eklig augenzwinkernde teure Billigkeit, die heute Mainstream-Mode ist). Und dafür erweisen sich oft sehr billige, sehr japanische, sehr computerisierte Technologien als die besseren Speicher gegenüber den konventionellen Mitteln des individuellen Ausdrucks, der sich nicht eingesteht, Arbeit zu sein.
In Madonnas Karriere floß zwar bald das Geld, das andere Produktionsbedingungen zuließ und half, den Verfall der musikalischen Seite ihrer Platten zu Ami-Mainstream zu finanzieren, aber daß nicht das unechte Dargestellte, sondern die echte Arbeit am Unechten, der Ort der Genuß einer Show ist, das Erfinden, Lügen, Posieren, nicht das Erlogene und Ausgedachte, blieb konstant.
Daß Madonna eine Underground-Figur war, aus der Mitte der No-Wave-Szene der frühen Achtziger aufgestiegen, wurde dort nie vergessen. Madonna blieb dort eine vielinterpretierte und bearbeitete Erscheinung, deren Werdegang nicht, wie in den meisten vergleichbaren Fällen, als Verrat denunziert wurde. Sonic Youth, eine der intelligentesten Bands aus New York, nannte sich für eine Single mit einer Hip-Hop-Version des Madonna-Hits „Into The Groove“ nach ihrem Nachnamen in Ciccone Youth um und nahm später unter diesem Namen auch eine LP auf (The Whitey Album). Henry Rollins, militanter Feminist („Schneidet ihnen die Schwänze ab, steckt sie in einen Briefumschlag und schickt sie an Henry Rollins, P.O. Box, Männer sind Schweine!“) und Exsänger der US-Hardcore-Band Black Flag, verteidigte sie in einem Essay in der Zeitschrift Spin und die wichtige kalifornische Nachwuchsband Treacherous Jaywalkers veröffentlichte eine „Isla Bonita“-EP mit Gaststar Sylvia Juncosa als Madonna und einer umgetexteten Fassung von Madonnas altem Sommerhit:
„… it all seems like yesterday not far away /Contras, famine and disease / All of nature in captivity / Nuclear bombs are falling, see? / La Isla Bonita / And when the Minutemen played / The sun would set so high / While jet fighter arsenal raped the sky / An American lullaby.“
Sowas ist weder als Kritik, Parodie oder Denunziation zu verstehen, sondern als das Zuendedenken dessen, was in Madonnas Liedchen eh angelegt ist, was die einzige Nahtstelle zwischen Underground-Bewußtsein und Massenkultur im Ami-Pop von heute darstellt.
Diesen Respekt erkämpfte sich Madonna damit, daß sie eines der Hauptanliegen der Achtziger-Jahre-U-Ground-Musik, das Offenlegen von Entstehungsbedingungen, die aktive Kritik der Kulturindustrie – nicht als esoterisches Schmollen, sondern als Entwickeln von Alternativen einerseits, wie auch immer geartetes, sich „subversiv“ verstehendes Arbeiten mit der Industrie andrerseits – mehr oder weniger offen zu ihrer Methode machte. Auf der mythologischen Seite, indem sie die Legende des karrieristischen, vor nichts zurückschreckenden Ehrgeizes, zum halb bewundernden, halb entrüsteten Beraunen freigab. Indem sie nie einen Zweifel daran ließ, daß die Verhältnisse nicht sauber sind, in denen Aufstieg stattfindet, aber klarmachte, daß man sich im Kampf um die symbolische Souveränität im Show-Biz ebensowenig mit der sauberen Wirkungslosigkeit zufrieden geben kann, die eine Moral des Nichtmitmachens diktiert (die in der Regel von Intellektuellen und Journalisten in Beamtenstellung oder bereits abgeschlossenen Karrieren verkündet wird): desperately seeking richtiges Leben im falschen.
Das hat ihr wiederum von dem britischen Underground-Star der Achtziger, dem ehemaligen Smiths-Sänger Morrissey, den Vorwurf eingetragen, sie propagiere Prostitution. Seltsam, so was aus dem Munde dieses profilierten Oscar-Wilde-Kenners zu hören, wo doch Madonna unstrittig das Verdienst zukommt, die ganz normale Show-Biz-Prostitution überhaupt erst bekannt gemacht zu haben, als einen unvermeidlichen Aspekt ihrer Arbeit, der früher ignoriert oder eben aus der sicheren Distanz der Journalistenexistenz geschmäht wurde, die ihren Anteil Prostitutionsarbeit immer noch am erfolgreichsten zu verdrängen scheint.
Madonnas zur Schau gestellter Genuß an ihren Triumphen, in offen als falsch kenntlich gemachten Verhältnissen, erlaubt es überhaupt erst, die Kosten und die Chancen von unvorhergesehener Souveränität im Pop im Zeitalter seiner totalen Industrialisierung zu verstehen und zu diskutieren. Wenn Madonna auf Prostitution anspielt, dann aber auch weil sie diejenige ist, die im Massen-Pop-Bereich, der ansonsten ein einziges kostenloses Pornotopia ist, die Bezahlung und Nichtauthentizität, die Anerkennung der entfremdeten Arbeit als entfremdete Arbeit statt der Verklärung als kostenlose, frei verfügbare Liebesdienste eingeführt hat. In dem Sinne, daß eine Prostituierte immer noch besser dran ist als die legal umsonst vergewaltigte Ehefrau.
Weder ihre Show noch ihre Musik haben je die (beinahe) wahllos aus Tourismuswerbung, Fake-Hollywood, Fake-Entertainment, Computerwerbung (die Metropolis-Ästhetik in ihrem „Express Yourself“-Video stammt ja nicht aus dem Fritz-Lang-Film, sondern aus der Metropolis-Adaption der 84er Macintosh-Spots) und anderen dritten Händen abgestaubten Inhalte emphatisiert, sondern immer ihre eigene Arbeit als Medienereignis: auf der Bühne harte körperliche, im Video immer eine kleine Skandalsteigerung, eine Anspielung auf die Entstehung, Fabrizierung ihrer Mythologie, einen als inszeniert sichtbaren, vulgärpsychologischen Knoten, wie die unmasochistische Masochismusszene in „Express Yourself“.
Natürlich tendiert auch dieses WORKING HARD FOR THE MONEY zu einer reinen Bestätigung der demaskierten, aber genutzten Verhältnisse zu verkommen, zur zynischen Variante des allamerican WER SICH ANSTRENGT, SCHAFFT ES AUCH. Lange ist es Madonna gelungen, kein Ziel jenseits dieser Exhibition des Genusses – vorhandene Strukturen zu bearbeiten, abzuarbeiten, auf sie (vorübergehend) einzugehen, sich ihnen zu unterwerfen und sie auszustellen – zu verraten. Kein Glück, kein höheres Ziel, keine der vielen die Kulturindustrie mehr verschleiernden Messages. Sie workt nicht nur HARD for the money, sie workt hard for THE MONEY, „die bare Münze des Apriori“ (Sohn-Rethel). Denn Trash ist die Kritik der kulturindustriellen Produktionsweise, deren Authentizitätsideologie die Scheinversöhnung der Widersprüche, u. a. von Handarbeit und Kopfarbeit (die Rock’n’Roll immer versöhnen wollte) verkündet. Das einzige Ziel von Trash kann also nur das Geld sein, das Hand und Kopfarbeit einst trennte: schnelles, exhibitionistisch ausgegebenes Geld, das sich zu den Geldverklärungen Ruhm, Glück, Message und Regenwaldrodungsverhinderung verhält wie „Hausfrauensex“, Prostitution und Kicks sich zu Kultur, Kulturindustrie und Politikersätzen verhalten.
Doch statt an der Börse zu spekulieren sammelt sie inkonsequent und sentimental Kunst: den Kitsch von David Salle und die feministische Heldin Frida Kahlo. In vielem ähnelt die von Madonna verkörperte und propagierte Rolle den Girls und Frauen in den Comics der Brüder Jaime und Gilbert Hernandez, die in „Graphic Novels“ wie Heartbreak Soup, Duck Feet oder der Serie Love & Rockets einen achtziger Frauentyp schufen, der illusionslos, den Männern geistig und körperlich überlegen, abgeklärt und tough, sich immer wieder in inkonsequente, sentimentale Abenteuer stürzt, um in dieser Erfahrung hinter dem eigenen Bewußtseinsstand doch wieder die Bestätigung für die eigene Haltung zu finden.
Die wie ein Vorbild für Madonna wirkende Mexikanerin Luba – eine Hernandez-Figur – hat eine schlechterweggekommene Cousine, die an einem schlimmen Rücken leidet. Deswegen hängt ein Bild von Frida Kahlo über ihrem Bett, die so übermenschlich stark so übermenschlich grauenhafte Rückenschmerzen und einen tyrannischen Ehemann (den berühmten Diego Rivera) ausgehalten hat, und dennoch eine weltberühmte Surrealistin wurde. Wer Madonnas letzte (1990) Bühnenshow gesehen hat, war vor allem von der völlig bizarr überquellenden Rückenmuskulatur, die sie sich erarbeitet hat, überrascht. Die Angst, daß das Kreuz nicht hält. Die Kreuze, die sie zu Beginn ihrer Karriere zur Weltmode gemacht hat, die ewigen Spielereien mit ihrer katholischen Erziehung – ganz klar, hier ist der Bruch in Madonnas Mythos.
(Nicht bei ihrer sexuellen Identität [„Verliebt in Jellybean?“, Bravo, 90, „Ich bin nicht lesbisch“, Bravo, 90, „Madonna ist wild auf Rob Lowe“, Bravo, 83, „Madonna liebt George Michael“, Bravo, 89, „Verliebt in Sandra?“, Bravo 88], über die bescheuerte Mutmaßungen anzustellen zwar der Job der Presse ist, deren Inhalt sich aber eben gerade darin erschöpft, für derlei öffentliche Erregung zu sorgen – wenn irgend jemand auf der Welt nicht masochistisch ist, dann Madonna). Nein, bei den katholischen Kreuzschmerzen endet der souveräne Tanz auf den demaskierten Verhältnissen, der aber ohne Inkonsequenzen nur eine wertlose Versuchsanordnung wäre, wie sie selbsternannte Pop-Konzept-Künstler à la Malcolm McLaren immer wieder erfolglos im Laufe der Achtziger versucht haben.
Die achtziger Jahre aber sind vorbei. Der Inhalt von Madonnas Arbeit, niemals die Distanz zwischen Symbol und Realem aufzugeben, da das Reale immer mehr ist als jede Symbolisierung und dieses Verhältnis die Voraussetzung der Begierde, ist nicht nur in ihren neuesten Produkten (nur eines ist schlimmer als ein „nostalgischer“ Film: „nostalgische“ Musik) kaum noch zu spüren (auch wenn „Vogue“ noch mal klasse war), als verbindliche Pop-Aussage hat diese Formel abgedankt. Im elektronischen Zeitalter sind Pop-Mythen nicht mehr möglich. Die immer mehr zugänglichen Differenzierungstechnologien haben zu einer total ausdifferenzierten Underground- einerseits, und Dancefloor-Kultur andrerseits geführt, die keine übergeordneten Aussagen (außer von der Peripherie, wo Hip-Hop oder Ethno-Musik entsteht, und deren Gültigkeit für die Zentren sehr gebrochen ist) mehr zuläßt. Große Verfeinerung, aber auch Isolierung und elektronische Einsamkeit bestimmen die Lage der Pop-Kultur.
Der letzte mögliche, fortschrittliche Pop-Mythos war der von den durchschauten, auf Distanz gehaltenen, beherrschten falschen Verhältnissen, dem Lachen und Tanzen auf dem Groove des Falschen, das etwas Richtiges, Souveränes, Wirkliches abwirft. Heute wollen die Leute wieder falsche Echtheit statt echter Falschheit. Sinéad O’Connors „echte“ Tränen vor der Videokamera und die darüber entflammte falsche Berührtheit der abgewichstesten Journalisten weisen auf eine Restauration alter Pop-Frauen-Rollen hin. Warum sollte die Wiederherstellung von Vorkriegsverhältnissen auch in der wirklichen Welt enden?
So sah ich es 1990. Popmusik hat seitdem in jeder Hinsicht das verloren, was sie an Interventionschancen, potentieller, unkontrollierbarer und beschleunigender Wirkung einst versprechen konnte. Rockmusik illustriert und animiert Rechtsradikalismus und Präsidenteneinführungen: Der sogenannte mächtigste Mann der Welt umgibt sich mit Leuten wie LL Cool J, dessen Texte und das musikalische Genre, das er vertritt (Hip-Hop), von Tipper Gore, Ehefrau von Clintons Vize, seit Jahren erbittert bekämpft wird. Popmusik als Kultur eines Widerstands, Dissens oder einfach ausgeblendeter Kultur- und Weltteile hat sich längst aus dem Rampenlicht der Massenmedien verabschiedet und nutzt sie nur noch bei aggressiveren Varianten mit partikularistischen Interessen (Hip-Hop), die den alten Traum der Dauerparty für alle aufgegeben haben und für Rechte kämpfen. (Die Dauerparties haben sich derweil von jedem Sinn und Text endgültig und konsequent verabschiedet. Und Public Enemy antworteten auf das „Fight For Your Right To Party“ der Beastie Boys mit „Party For Your Right To Fight“).
Dies ist für niemanden so ein Problem wie für Madonna, der letzten möglichen Verkörperung eines Mediensuperstars, der an die Möglichkeit erinnerte und auch selber an sie zu glauben vorgab, Popmusik als Subversionsstrategie einzusetzen, die das Recht auf Party und Ferien für alle (und nicht nur eingeweihte Undergroundler) symbolisch stark machen sollte. Mittlerweile haben alle möglichen Beobachter aus der amerikanischen Theorieszene mit der üblichen Verspätung der langen akademischen Leitung diesen alten Aspekt an ihr entdeckt. Nachträglich beglückwünscht man sie zu ihrer „offenen Identität“, den als inszeniert kenntlich gemachten Rollenwechseln, der von ihr vorgelebten Selbstreflexivität im Show-Biz, ihren emanzipatorischen Modellen weiblicher Identität, und Camille Paglia, Hyperessentialistin und Star der Gegenrevolution im amerikanischen Feminismus, hat Madonna so zur Heldin verklärt, daß dem Objekt der Verehrung schon unheimlich ist. Was konnte sie in dieser Lage tun? Wenn Madonna heute verkündet, ihr Fotoband Sex hätte eine aufklärerische Funktion und helfe, die allgemeine sexuelle Verspannt- und Verklemmtheit zu überwinden, verrät sie das Prinzip, das hinter ihrer eigenen letzten gelungenen Tat stand, dem Film In Bed With Madonna: daß nämlich die Zurschaustellung von als privat codierten Vorgängen – sei es als reality tv, Porno, Bekenntnis-Show – diese erst recht verhüllt, verbrämt und undurchdringlich macht. In Bed With Madonna ist ein großartiger Beleg für die Wahrheit, daß es kein Dahinter gibt, das darstellbar wäre, keinen Zugriff auf das Reale durch Symbolisierung. Die immer massivere Behauptung, etwas sei real, das in „Wirklichkeit“ Fernsehen ist, ist das große aktuelle Leitmotiv des zeitgenössischen Medienterrors. In In Bed With Madonna sieht man ein ums andere Mal, wie aus der Klatschpresse bekannte Motive des Madonna-Lebens (Familie, Sexpartner, Warren Beatty, schöne, junge, schwule Models etc.) auftreten und das Auftreten dieses vermeintlich geheimen Teils ihres Lebens nichts verändert: Die Inszenierung bleibt stabil und wird besonders da deutlich, wo scheinbar Unvorhergesehenes sich zeigt. Das scheinbar sensationelle Private wird immer gegen das offensichtlich Inszenierte gestellt, so daß das Inszenierte beider Ebenen klar wird.
Ein Rest ist davon bei Sex noch zu sehen: bei den Fotos, die in irgendeiner „Wirklichkeit“ spielen, spürt man etwas von der Idee, das Entkleiden und Tabubrechen als großen zynischen Witz darzustellen. Doch das geschieht zu selten und zu subtil, um die viel zentralere Message zu entkräften: die Unterwerfung unter die Basic Instinct-Kultur und Masochismus-Propaganda. Der wesentliche Fehler an Sex ist nicht, daß man das nicht machen kann, sondern daß man das unter heutigen Bedingungen nicht mehr machen kann. In einer Welt und für eine Welt von entweder „zynischen Untertanen“, die alles wissen und kennen, jedes Zahnrad gewalttätiger Verhältnisse durchschauen, was sie aber nicht zu Interventionen veranlaßt; oder primären Adressaten und Opfern der neusten Formen von Authentizitätsterror. Ihr Publikum dürfte sich aus beiden Gruppen mischen, was für ein Live-Event noch eine interessante Voraussetzung sein könnte, nicht für eine Wichsvorlage.
Dies ist nicht die „Schuld“ von Madonnas Konzept, von einem Stil, den man bei all ihren Medieninterventionen beobachten kann, sondern ein Ergebnis veränderter Verhältnisse die sie nicht mehr mitreflektiert. Der Hinweis auf die allgemeine Gekauftheit aller ermutigt niemanden mehr, mit seiner Aufgeklärtheit etwas anzufangen (offene Identitäten), sondern bestätigt zynische Untertanen (die laut Žižek, dem Erfinder des Begriffs, im Realsozialismus das System immer viel reibungsloser funktionieren ließen, als gläubige Parteikommunisten, die es bedrohten und destabilisierten). Der Hinweis, daß wir unter falschen Verhältnissen uns immer noch auf Spuren, Billigkeiten und Fehler als Residuen unserer Arbeit und Menschlichkeit verlassen können, greift nicht mehr, wo es solche Spuren in der Massenkultur kaum noch gibt, Produktionsverhältnisse sie nicht zulassen und Menschen sowieso nicht mehr gebraucht werden.
Es geht Madonnas Angriff auf „Authentizität“ wie manchen Theorien Foucaults: Die Entdeckung des terroristischen Asbekts des Humanismus war nur so lange interessant und subversiv, wie die Wirtschaft noch Menschen brauchte, die zugerichtet werden mußten nach einem Bild vom „Menschen“. Den „Holiday“, den man sich nimmt, kann man haben: die Entlassungspapiere liegen im Personalbüro. Und wer seine Authentizitätspapiere fälscht, tut das nicht mehr souverän, sondern um als Asylbewerber vom reality tv anerkannt zu werden.