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  • Offene Identität & zynische Untertanen

    1990 erschien eine gekürzte Version dieses Textes im Spiegel. Für die vorliegende Publikation habe ich die Originalversion erweitert und aktualisiert. Ihr Eintreten für Madonna, besonders die frühe Madonna, soll nicht zurückgenommen werden, erklärt sich aber teilweise auch aus dem Umfeld: der spezifisch schmunzel-misogynen und bornierten Berichterstattung des Spiegel über Popmusik im allgemeinen und Madonna im besonderen. Heute, wo anläßlich von zehn bis zwanzig nicht allzu verbreiteten Nazi-Rock-Platten in den bundesdeutschen Mainstream-Medien mehr denn je über Popmusik geschrieben wird, zeigen sich die fatalen Folgen dieser Ignoranz, die sich nun plötzlich mit ihrem selbstverursachten Ernstfall konfrontiert sieht und darüber in eine Hilflosigkeit verfällt, deren besonders trauriger Gipfel dann das Interview war, das der Spiegel mit der Gruppe Störkraft führte. Die Interviewer ließen sich, obwohl sie am längeren, redigierenden und inszenierenden Hebel saßen, von der Band mühelos rhetorisch ausmanövrieren, glänzten durch Ahnungslosigkeit (die Störkraft-Musik sei von Ska beeinflußt) und machten unbezahlte Werbung für eine Band, die sicher demnächst etwas Kreide fressen wird, um dann, wie vor ihnen die Böhsen Onkelz, die Charts zu stürmen. In gewissem Sinne ist dieser Erfolg rechter Bands aber auch ein fataler Erfolg jener Pop-Strategie, Mainstream-Medien, die ein Spiel, nicht durchschauen, zur Teilnahme an dem Spiel zu zwingen, ein Spiel aus dem Ernst geworden ist. Es reicht also nicht mehr, diese Pop-Strategie zu affirmieren und den Spiegel auszulachen oder zu kritisieren. Man war ja immer auch ganz froh, daß Zeit und Spiegel nix verstehen; das bestätigte in den Achtzigern das subkulturelle Selbstbild von den geschützten Kanälen und Informationsräumen. Auf der anderen Seite: Wäre der Spiegel so gut im Umgang mit Popmusik wie etwa der Standard, der Guardian, zuweilen die New York Times oder manchmal sogar Newsweek, hätte sich eben das strategische Niveau und die Welthaltigkeit von Pop auch in Deutschland steigern müssen. Das Niveau des Establishments bestimmt bekanntermaßen auch immer das seiner Gegner mit.

    Zur Strategie der Popmusik gehört es, daß immer ganz bestimmte Leute verstehen und ganz bestimmte andere nicht. „The men don’t know but the little girls understand“, wie Willie Dixon in seinem „Backdoor Man“ schrieb und Howlin’ Wolf und Jim Morrison später sangen. Dieser Strategie, etwa dem Spiegel gegenüber, bediente sich Madonna genauso wie später Störkraft. Damit ist diese Strategie an ihre Grenzen gekommen, wenn auch nicht völlig obsolet geworden. Madonna selbst hat diese Strategie in der Zeit, nachdem mein Artikel erschien, aufgegeben. Sie hat sich zwar immer noch präzise mit einem Underground identifiziert, der sich abgrenzt und tribalistisch auf Zusammenhalt setzt, aber sie hat gleichzeitig eine Gegenstrategie entwickelt: allen alles zeigen. Die Pointe dieser Strategie ist, daß man damit erst recht alles verhüllt. Einen letzten strategischen und künstlerischen Erfolg erzielte sie mit In Bed With Madonna, über den sich die Redakteure von Musik Express und anderen Männermagazinen wieder hämisch hermachten, während the little girls understood. Madonna hat sich mehr misogynen Müll von Männern und ihren Magazinen anhören müssen als Marylin Monroe, Marlene Dietrich und Mae West – einige ihrer Vorbilder – zusammen. Denn obwohl natürlich jeder männliche Journalist mittlerweile einigermaßen sicher an den Fallen seiner trotz gesellschaftlicher Ächtung resistenten frauenfeindlichen Ressentiments vorbeizutänzeln gelernt hat, ist keiner von ihnen dagegen gefeit, daß ihm seine tiefere misogyne Ideologie gnadenlos in die Sätze fuhrwerkt. So wird Madonna in Tempos nicht „exklusiver“ Geschichte aus Vanity Fair, zu der Helmut Newton sie nicht „entblättert“, zur „Masochistin“ – eine total geile, zur Zeit besonders angesagte Frauensorte, wofür die im US-Original „White Heat“ betitelte Geschichte in „Die Geschichte der M.“ umbenannt wird.

    Dem Spiegel fiel „Hausfrauensex“ und „Werbefilm für Gynäkologen“ ein, weil man ja dort auf schärfere bzw. „erotischere“ Sachen steht. Perverserweise gehört zur Misogynie heutzutage auch das Verteilen von schlechten Zensuren für die mangelnde Emanzipiertheit des Opfers („Repräsentant der Restauration“, „verklärtes Frauenbild“, ebenfalls der Spiegel, das Blatt der Subversion und des rasend aufgeklärten Frauenbildes), was der bekannten Struktur entspricht, die weiße Journalisten immer wieder schreiben läßt, irgendwelche schwarzen Stars, Politiker etc. seien nicht stolz genug auf ihre „Rasse“, machten Kompromisse mit den Weißen etc. Männer konsumieren Bilder sogenannter starker Frauen grundsätzlich nur dann mit Genuß, wenn in ihrem Mythos eine Bestrafung für die Stärke miteingebaut ist. Der Fall der Göttin, ihr tragisches Scheitern ist fest eingebauter Bestandteil aller männlichen Frauenkulte, von Maria Callas bis Tina Turner. Egal, ob die Bestrafung in einem pittoresken Drogentod, im ständigen Ausstellenmüssens der Wunden früher eingesteckter Schläge oder einfach in einem öffentlichen Unglück besteht, verursacht durch dieselbe „Leidenschaft“, dieselben „starken Triebe“, die zwar die Karriere ermöglicht haben, die aber, so der Mythos, unweigerlich am Ende Kontrolle über sie gewinnen und sie niederstrecken – als Einsamkeit, Alzheimer oder Alkohol, von Janis Joplin bis Greta Garbo.

    Doch aus diesen einzelnen Mythen wurde längst eine bei Industrie, Konsumenten und Kommentatoren gleichermaßen zäh geglaubte Ideologie, die das Gesetz verhängt, das von Frauen als Stars „Authentizität“ verlangt: die Aufgabe der Distanz zwischen Darsteller und Dargestelltem. Etwas, was von Mick Jagger oder Prince längst kein postmoderner Mensch mehr verlangt, und dessen Modell natürlich in dem Authentizitätskultus der Pornographie („Cum-Shots“) besteht. Entsetzlich ist vor allem, daß dieses Gesetz so stark und üblich ist, daß es etliche Protagonistinnen des Starke-Frauen-Mythos im wirklichen Leben erwischte.

    Das Wichtigste an Madonna ist, daß sie die Distanz zwischen ihren Inhalten und ihrer Person immer in den Mittelpunkt gestellt hat, so sehr, daß die Nichtidentität zwischen Show und Wirklichkeit wieder in gewissem Maße zu ihrem Inhalt wurde, daß dabei eine neue Identität herauskam. Nun allerdings nicht mehr zwischen einem reaktionären Mythos und seinem Opfer, sondern zwischen einer erkämpften, neuen Position und ihrer Autorin. Den ersten Artikel über Madonna in deutscher Sprache schrieb Lothar Gorris unter dem Titel „Uns leuchtet ein Stern“, für Spex, 11/83. Madonna ist da noch ein weißes Underground-Mädchen, das ungewöhnlicherweise über schwarze Musik und durch die Unterstützung schwarzer Radio-DJs einen mittelüberraschenden Club-Hit landet. Im selben Sommer hörte ich in New York ihr „Holiday“, das noch vor der ersten LP erschien, als eines der besten Disco-Stücke aller Zeiten, uplifting, utopisch, unwirklich – erlebt im Kontext der „Paradise Garage“-Mode. Das war der Sound einer West-Side-Discothek, der heute als einer der Vorläufer von House und Deep House klassisch geworden ist, wo man endlose Remixe von Peech Boys und S.O.S.-Band-Songs hören konnte, billigen, kräftigen, klaren Soul, dessen Produktion moderner und einfacher war als alle mitteleuropäische Computermusik.

    Aus dieser Ursuppe tiefen, heißen Trashs klang Madonnas Hymne an den einen Tag, den man sich vom Leben frei nimmt, wie die Nahtstelle zu den amerikanischen Massen im Tageslicht, klang wie der Morgen auf der Dachterrasse des „Garage“, wo schöne, schwarze Schwule zum Sonnenaufgang mit Orangensaft relaxten oder sich im Videoraum european art shit ansahen wie Schlöndorffs Blechtrommel mit Untertiteln. Ihr vom Spiegel als „mickrige Piepsstimme“ – als wär Stimmumfang je ein Kriterium irgendeiner Pop-Qualität gewesen – denunziertes billig-energisches Girl-Group-Organ war wie die erste Antwort der anderen, draußen auf den Straßen, an die Schönheiten der im dunkeln blühenden Dance-Kultur.

    Im richtigen Moment einen korrekt verwurzelten Underground-Sound in eine Massenpopmusik umzuschmieden, ohne das, was seine Wurzeln in die Genre-typischen Geräusche eingegraben haben, zu verraten, ist die einzige Berechtigung für große Pop-Karrieren: hier schwarze gay culture – der sie sogar bis zu ihrem „Vogue“-Video und In Bed With Madonna treu blieb –, Disco und Trash. Daß Trash, der einzige wirklich die achtziger Jahre bestimmende Zug der Kulturgeschichte, auch Massenkultur wurde, hängt direkt mit Madonnas Erfolg zusammen. Trash heißt, daß die Nähte und Nieten, die einen Song, einen Film zusammenhalten, die aus armseligen Produktionsbedingungen, Eile, Ungeduld, Trendhinterherrennerei entstandenen Mängel absichtlich oder unabsichtlich zur Schau gestellt, vor allem aber genossen werden. Genossen als unauslöschliche, unrelativierbare Spuren wirklicher Arbeit und wirklicher Verhältnisse (nicht als die große gefälschte, eklig augenzwinkernde teure Billigkeit, die heute Mainstream-Mode ist). Und dafür erweisen sich oft sehr billige, sehr japanische, sehr computerisierte Technologien als die besseren Speicher gegenüber den konventionellen Mitteln des individuellen Ausdrucks, der sich nicht eingesteht, Arbeit zu sein.

    In Madonnas Karriere floß zwar bald das Geld, das andere Produktionsbedingungen zuließ und half, den Verfall der musikalischen Seite ihrer Platten zu Ami-Mainstream zu finanzieren, aber daß nicht das unechte Dargestellte, sondern die echte Arbeit am Unechten, der Ort der Genuß einer Show ist, das Erfinden, Lügen, Posieren, nicht das Erlogene und Ausgedachte, blieb konstant.

    Daß Madonna eine Underground-Figur war, aus der Mitte der No-Wave-Szene der frühen Achtziger aufgestiegen, wurde dort nie vergessen. Madonna blieb dort eine vielinterpretierte und bearbeitete Erscheinung, deren Werdegang nicht, wie in den meisten vergleichbaren Fällen, als Verrat denunziert wurde. Sonic Youth, eine der intelligentesten Bands aus New York, nannte sich für eine Single mit einer Hip-Hop-Version des Madonna-Hits „Into The Groove“ nach ihrem Nachnamen in Ciccone Youth um und nahm später unter diesem Namen auch eine LP auf (The Whitey Album). Henry Rollins, militanter Feminist („Schneidet ihnen die Schwänze ab, steckt sie in einen Briefumschlag und schickt sie an Henry Rollins, P.O. Box, Männer sind Schweine!“) und Exsänger der US-Hardcore-Band Black Flag, verteidigte sie in einem Essay in der Zeitschrift Spin und die wichtige kalifornische Nachwuchsband Treacherous Jaywalkers veröffentlichte eine „Isla Bonita“-EP mit Gaststar Sylvia Juncosa als Madonna und einer umgetexteten Fassung von Madonnas altem Sommerhit:

    „… it all seems like yesterday not far away /Contras, famine and disease / All of nature in captivity / Nuclear bombs are falling, see? / La Isla Bonita / And when the Minutemen played / The sun would set so high / While jet fighter arsenal raped the sky / An American lullaby.“

    Sowas ist weder als Kritik, Parodie oder Denunziation zu verstehen, sondern als das Zuendedenken dessen, was in Madonnas Liedchen eh angelegt ist, was die einzige Nahtstelle zwischen Underground-Bewußtsein und Massenkultur im Ami-Pop von heute darstellt.

    Diesen Respekt erkämpfte sich Madonna damit, daß sie eines der Hauptanliegen der Achtziger-Jahre-U-Ground-Musik, das Offenlegen von Entstehungsbedingungen, die aktive Kritik der Kulturindustrie – nicht als esoterisches Schmollen, sondern als Entwickeln von Alternativen einerseits, wie auch immer geartetes, sich „subversiv“ verstehendes Arbeiten mit der Industrie andrerseits – mehr oder weniger offen zu ihrer Methode machte. Auf der mythologischen Seite, indem sie die Legende des karrieristischen, vor nichts zurückschreckenden Ehrgeizes, zum halb bewundernden, halb entrüsteten Beraunen freigab. Indem sie nie einen Zweifel daran ließ, daß die Verhältnisse nicht sauber sind, in denen Aufstieg stattfindet, aber klarmachte, daß man sich im Kampf um die symbolische Souveränität im Show-Biz ebensowenig mit der sauberen Wirkungslosigkeit zufrieden geben kann, die eine Moral des Nichtmitmachens diktiert (die in der Regel von Intellektuellen und Journalisten in Beamtenstellung oder bereits abgeschlossenen Karrieren verkündet wird): desperately seeking richtiges Leben im falschen.

    Das hat ihr wiederum von dem britischen Underground-Star der Achtziger, dem ehemaligen Smiths-Sänger Morrissey, den Vorwurf eingetragen, sie propagiere Prostitution. Seltsam, so was aus dem Munde dieses profilierten Oscar-Wilde-Kenners zu hören, wo doch Madonna unstrittig das Verdienst zukommt, die ganz normale Show-Biz-Prostitution überhaupt erst bekannt gemacht zu haben, als einen unvermeidlichen Aspekt ihrer Arbeit, der früher ignoriert oder eben aus der sicheren Distanz der Journalistenexistenz geschmäht wurde, die ihren Anteil Prostitutionsarbeit immer noch am erfolgreichsten zu verdrängen scheint.

    Madonnas zur Schau gestellter Genuß an ihren Triumphen, in offen als falsch kenntlich gemachten Verhältnissen, erlaubt es überhaupt erst, die Kosten und die Chancen von unvorhergesehener Souveränität im Pop im Zeitalter seiner totalen Industrialisierung zu verstehen und zu diskutieren. Wenn Madonna auf Prostitution anspielt, dann aber auch weil sie diejenige ist, die im Massen-Pop-Bereich, der ansonsten ein einziges kostenloses Pornotopia ist, die Bezahlung und Nichtauthentizität, die Anerkennung der entfremdeten Arbeit als entfremdete Arbeit statt der Verklärung als kostenlose, frei verfügbare Liebesdienste eingeführt hat. In dem Sinne, daß eine Prostituierte immer noch besser dran ist als die legal umsonst vergewaltigte Ehefrau.

    Weder ihre Show noch ihre Musik haben je die (beinahe) wahllos aus Tourismuswerbung, Fake-Hollywood, Fake-Entertainment, Computerwerbung (die Metropolis-Ästhetik in ihrem „Express Yourself“-Video stammt ja nicht aus dem Fritz-Lang-Film, sondern aus der Metropolis-Adaption der 84er Macintosh-Spots) und anderen dritten Händen abgestaubten Inhalte emphatisiert, sondern immer ihre eigene Arbeit als Medienereignis: auf der Bühne harte körperliche, im Video immer eine kleine Skandalsteigerung, eine Anspielung auf die Entstehung, Fabrizierung ihrer Mythologie, einen als inszeniert sichtbaren, vulgärpsychologischen Knoten, wie die unmasochistische Masochismusszene in „Express Yourself“.

    Natürlich tendiert auch dieses WORKING HARD FOR THE MONEY zu einer reinen Bestätigung der demaskierten, aber genutzten Verhältnisse zu verkommen, zur zynischen Variante des allamerican WER SICH ANSTRENGT, SCHAFFT ES AUCH. Lange ist es Madonna gelungen, kein Ziel jenseits dieser Exhibition des Genusses – vorhandene Strukturen zu bearbeiten, abzuarbeiten, auf sie (vorübergehend) einzugehen, sich ihnen zu unterwerfen und sie auszustellen – zu verraten. Kein Glück, kein höheres Ziel, keine der vielen die Kulturindustrie mehr verschleiernden Messages. Sie workt nicht nur HARD for the money, sie workt hard for THE MONEY, „die bare Münze des Apriori“ (Sohn-Rethel). Denn Trash ist die Kritik der kulturindustriellen Produktionsweise, deren Authentizitätsideologie die Scheinversöhnung der Widersprüche, u. a. von Handarbeit und Kopfarbeit (die Rock’n’Roll immer versöhnen wollte) verkündet. Das einzige Ziel von Trash kann also nur das Geld sein, das Hand und Kopfarbeit einst trennte: schnelles, exhibitionistisch ausgegebenes Geld, das sich zu den Geldverklärungen Ruhm, Glück, Message und Regenwaldrodungsverhinderung verhält wie „Hausfrauensex“, Prostitution und Kicks sich zu Kultur, Kulturindustrie und Politikersätzen verhalten.

    Doch statt an der Börse zu spekulieren sammelt sie inkonsequent und sentimental Kunst: den Kitsch von David Salle und die feministische Heldin Frida Kahlo. In vielem ähnelt die von Madonna verkörperte und propagierte Rolle den Girls und Frauen in den Comics der Brüder Jaime und Gilbert Hernandez, die in „Graphic Novels“ wie Heartbreak Soup, Duck Feet oder der Serie Love & Rockets einen achtziger Frauentyp schufen, der illusionslos, den Männern geistig und körperlich überlegen, abgeklärt und tough, sich immer wieder in inkonsequente, sentimentale Abenteuer stürzt, um in dieser Erfahrung hinter dem eigenen Bewußtseinsstand doch wieder die Bestätigung für die eigene Haltung zu finden.

    Die wie ein Vorbild für Madonna wirkende Mexikanerin Luba – eine Hernandez-Figur – hat eine schlechterweggekommene Cousine, die an einem schlimmen Rücken leidet. Deswegen hängt ein Bild von Frida Kahlo über ihrem Bett, die so übermenschlich stark so übermenschlich grauenhafte Rückenschmerzen und einen tyrannischen Ehemann (den berühmten Diego Rivera) ausgehalten hat, und dennoch eine weltberühmte Surrealistin wurde. Wer Madonnas letzte (1990) Bühnenshow gesehen hat, war vor allem von der völlig bizarr überquellenden Rückenmuskulatur, die sie sich erarbeitet hat, überrascht. Die Angst, daß das Kreuz nicht hält. Die Kreuze, die sie zu Beginn ihrer Karriere zur Weltmode gemacht hat, die ewigen Spielereien mit ihrer katholischen Erziehung – ganz klar, hier ist der Bruch in Madonnas Mythos.

    (Nicht bei ihrer sexuellen Identität [„Verliebt in Jellybean?“, Bravo, 90, „Ich bin nicht lesbisch“, Bravo, 90, „Madonna ist wild auf Rob Lowe“, Bravo, 83, „Madonna liebt George Michael“, Bravo, 89, „Verliebt in Sandra?“, Bravo 88], über die bescheuerte Mutmaßungen anzustellen zwar der Job der Presse ist, deren Inhalt sich aber eben gerade darin erschöpft, für derlei öffentliche Erregung zu sorgen – wenn irgend jemand auf der Welt nicht masochistisch ist, dann Madonna). Nein, bei den katholischen Kreuzschmerzen endet der souveräne Tanz auf den demaskierten Verhältnissen, der aber ohne Inkonsequenzen nur eine wertlose Versuchsanordnung wäre, wie sie selbsternannte Pop-Konzept-Künstler à la Malcolm McLaren immer wieder erfolglos im Laufe der Achtziger versucht haben.

    Die achtziger Jahre aber sind vorbei. Der Inhalt von Madonnas Arbeit, niemals die Distanz zwischen Symbol und Realem aufzugeben, da das Reale immer mehr ist als jede Symbolisierung und dieses Verhältnis die Voraussetzung der Begierde, ist nicht nur in ihren neuesten Produkten (nur eines ist schlimmer als ein „nostalgischer“ Film: „nostalgische“ Musik) kaum noch zu spüren (auch wenn „Vogue“ noch mal klasse war), als verbindliche Pop-Aussage hat diese Formel abgedankt. Im elektronischen Zeitalter sind Pop-Mythen nicht mehr möglich. Die immer mehr zugänglichen Differenzierungstechnologien haben zu einer total ausdifferenzierten Underground- einerseits, und Dancefloor-Kultur andrerseits geführt, die keine übergeordneten Aussagen (außer von der Peripherie, wo Hip-Hop oder Ethno-Musik entsteht, und deren Gültigkeit für die Zentren sehr gebrochen ist) mehr zuläßt. Große Verfeinerung, aber auch Isolierung und elektronische Einsamkeit bestimmen die Lage der Pop-Kultur.

    Der letzte mögliche, fortschrittliche Pop-Mythos war der von den durchschauten, auf Distanz gehaltenen, beherrschten falschen Verhältnissen, dem Lachen und Tanzen auf dem Groove des Falschen, das etwas Richtiges, Souveränes, Wirkliches abwirft. Heute wollen die Leute wieder falsche Echtheit statt echter Falschheit. Sinéad O’Connors „echte“ Tränen vor der Videokamera und die darüber entflammte falsche Berührtheit der abgewichstesten Journalisten weisen auf eine Restauration alter Pop-Frauen-Rollen hin. Warum sollte die Wiederherstellung von Vorkriegsverhältnissen auch in der wirklichen Welt enden?

    So sah ich es 1990. Popmusik hat seitdem in jeder Hinsicht das verloren, was sie an Interventionschancen, potentieller, unkontrollierbarer und beschleunigender Wirkung einst versprechen konnte. Rockmusik illustriert und animiert Rechtsradikalismus und Präsidenteneinführungen: Der sogenannte mächtigste Mann der Welt umgibt sich mit Leuten wie LL Cool J, dessen Texte und das musikalische Genre, das er vertritt (Hip-Hop), von Tipper Gore, Ehefrau von Clintons Vize, seit Jahren erbittert bekämpft wird. Popmusik als Kultur eines Widerstands, Dissens oder einfach ausgeblendeter Kultur- und Weltteile hat sich längst aus dem Rampenlicht der Massenmedien verabschiedet und nutzt sie nur noch bei aggressiveren Varianten mit partikularistischen Interessen (Hip-Hop), die den alten Traum der Dauerparty für alle aufgegeben haben und für Rechte kämpfen. (Die Dauerparties haben sich derweil von jedem Sinn und Text endgültig und konsequent verabschiedet. Und Public Enemy antworteten auf das „Fight For Your Right To Party“ der Beastie Boys mit „Party For Your Right To Fight“).

    Dies ist für niemanden so ein Problem wie für Madonna, der letzten möglichen Verkörperung eines Mediensuperstars, der an die Möglichkeit erinnerte und auch selber an sie zu glauben vorgab, Popmusik als Subversionsstrategie einzusetzen, die das Recht auf Party und Ferien für alle (und nicht nur eingeweihte Undergroundler) symbolisch stark machen sollte. Mittlerweile haben alle möglichen Beobachter aus der amerikanischen Theorieszene mit der üblichen Verspätung der langen akademischen Leitung diesen alten Aspekt an ihr entdeckt. Nachträglich beglückwünscht man sie zu ihrer „offenen Identität“, den als inszeniert kenntlich gemachten Rollenwechseln, der von ihr vorgelebten Selbstreflexivität im Show-Biz, ihren emanzipatorischen Modellen weiblicher Identität, und Camille Paglia, Hyperessentialistin und Star der Gegenrevolution im amerikanischen Feminismus, hat Madonna so zur Heldin verklärt, daß dem Objekt der Verehrung schon unheimlich ist. Was konnte sie in dieser Lage tun? Wenn Madonna heute verkündet, ihr Fotoband Sex hätte eine aufklärerische Funktion und helfe, die allgemeine sexuelle Verspannt- und Verklemmtheit zu überwinden, verrät sie das Prinzip, das hinter ihrer eigenen letzten gelungenen Tat stand, dem Film In Bed With Madonna: daß nämlich die Zurschaustellung von als privat codierten Vorgängen – sei es als reality tv, Porno, Bekenntnis-Show – diese erst recht verhüllt, verbrämt und undurchdringlich macht. In Bed With Madonna ist ein großartiger Beleg für die Wahrheit, daß es kein Dahinter gibt, das darstellbar wäre, keinen Zugriff auf das Reale durch Symbolisierung. Die immer massivere Behauptung, etwas sei real, das in „Wirklichkeit“ Fernsehen ist, ist das große aktuelle Leitmotiv des zeitgenössischen Medienterrors. In In Bed With Madonna sieht man ein ums andere Mal, wie aus der Klatschpresse bekannte Motive des Madonna-Lebens (Familie, Sexpartner, Warren Beatty, schöne, junge, schwule Models etc.) auftreten und das Auftreten dieses vermeintlich geheimen Teils ihres Lebens nichts verändert: Die Inszenierung bleibt stabil und wird besonders da deutlich, wo scheinbar Unvorhergesehenes sich zeigt. Das scheinbar sensationelle Private wird immer gegen das offensichtlich Inszenierte gestellt, so daß das Inszenierte beider Ebenen klar wird.

    Ein Rest ist davon bei Sex noch zu sehen: bei den Fotos, die in irgendeiner „Wirklichkeit“ spielen, spürt man etwas von der Idee, das Entkleiden und Tabubrechen als großen zynischen Witz darzustellen. Doch das geschieht zu selten und zu subtil, um die viel zentralere Message zu entkräften: die Unterwerfung unter die Basic Instinct-Kultur und Masochismus-Propaganda. Der wesentliche Fehler an Sex ist nicht, daß man das nicht machen kann, sondern daß man das unter heutigen Bedingungen nicht mehr machen kann. In einer Welt und für eine Welt von entweder „zynischen Untertanen“, die alles wissen und kennen, jedes Zahnrad gewalttätiger Verhältnisse durchschauen, was sie aber nicht zu Interventionen veranlaßt; oder primären Adressaten und Opfern der neusten Formen von Authentizitätsterror. Ihr Publikum dürfte sich aus beiden Gruppen mischen, was für ein Live-Event noch eine interessante Voraussetzung sein könnte, nicht für eine Wichsvorlage.

    Dies ist nicht die „Schuld“ von Madonnas Konzept, von einem Stil, den man bei all ihren Medieninterventionen beobachten kann, sondern ein Ergebnis veränderter Verhältnisse die sie nicht mehr mitreflektiert. Der Hinweis auf die allgemeine Gekauftheit aller ermutigt niemanden mehr, mit seiner Aufgeklärtheit etwas anzufangen (offene Identitäten), sondern bestätigt zynische Untertanen (die laut Žižek, dem Erfinder des Begriffs, im Realsozialismus das System immer viel reibungsloser funktionieren ließen, als gläubige Parteikommunisten, die es bedrohten und destabilisierten). Der Hinweis, daß wir unter falschen Verhältnissen uns immer noch auf Spuren, Billigkeiten und Fehler als Residuen unserer Arbeit und Menschlichkeit verlassen können, greift nicht mehr, wo es solche Spuren in der Massenkultur kaum noch gibt, Produktionsverhältnisse sie nicht zulassen und Menschen sowieso nicht mehr gebraucht werden.

    Es geht Madonnas Angriff auf „Authentizität“ wie manchen Theorien Foucaults: Die Entdeckung des terroristischen Asbekts des Humanismus war nur so lange interessant und subversiv, wie die Wirtschaft noch Menschen brauchte, die zugerichtet werden mußten nach einem Bild vom „Menschen“. Den „Holiday“, den man sich nimmt, kann man haben: die Entlassungspapiere liegen im Personalbüro. Und wer seine Authentizitätspapiere fälscht, tut das nicht mehr souverän, sondern um als Asylbewerber vom reality tv anerkannt zu werden.

  • Medien? Theorie?

    Medientheorie gibt es in Deutschland immer nur in einem sehr ideologischen Sinne. Entweder kommt unter diesem Namen ein kulturpessimistischer Slang daher, der sich ausschließlich über die Effekte von Medien beschwert (verdirbt die Jugend). Diese Medientheorie sieht nur Semantiken und allenfalls noch Frequenzen (zu viel Fernsehen und Computerspiele, zu viele Kanäle) und kommt aus einer rechten, kulturpessimistischen Tradition (auch wenn viele Linke sie teilen). Eine andere, „seriösere“ Medientheorie sieht die Medien nur als Hardware, alles andere seien nur semantische Halluzinationen (da seriöse Wissenschaftler sich für Halluzinationen nicht interessieren, allenfalls um sie als solche eben abschreiben zu können oder als Beispiele für die Funktionsweise der Hardware, kann diese Theorie weitgehend ohne Semantik auskommen). Diese Fixiertheit auf die Hardware und ihre Geschichte (Schriftsteller sind Effekte von Schreibmaschinen) verdankt diese Medientheorie natürlich auch der Banalität ihres kulturpessimistischen Konkurrenten. Ihre relative Unangefochtenheit verdankt sie eindrucksvollen historischen Forschungsergebnissen, viel Fußnoten und einem locker allwissenden Umgang mit der Software „Geistesgeschichte“. Diese Medientheorie kommt mit einem ähnlichen Gestus daher wie der ökonomistische Marxismus: Sie hat einen Urgrund entdeckt, der hinter allen Verhältnisse steckt, ein hartes, eisenhartes, stabiles, nicht zerlegbares Faktum, die Hardware eben, das nicht für den Urgrund zu halten unweigerlich in den Idealismus führe.

    Folgende Grundprobleme, die diesen deutschen Medientheorien zugrunde liegen, hat die Agentur Bilwet nicht:

    1. Medienpassivität
    2. Tendenzismus in allen Spielarten
    3. Historismus oder Theorismus
    4. Religiosität, Medienmystik
    5. Allwissenheit, Kohärenz, Legitimismus

    Bevor ich diese Fehler im einzelnen beschreibe und damit quasi ex negativo empfehle, ein Buch zu lesen, das sich von diesen Verengungen frei machen konnte, möchte ich den Grund nennen, der all diesen Fehlern zugrunde liegt. Es ist der Blick des Kaninchens auf den Paradigmenwechsel. Gerade Medientheorie oder was dafür gehalten wird, wird immer unter dieser Rubrik geführt und profitiert von deren furchteinflößendem Modernitäts-Imperativ. Wie kann man zum Beispiel Kunsthistoriker verunsichern? – immer noch, wenn man ihnen mit Medien droht. Wie kann man Lokalpolitiker erpressen? – wenn man mit Medienakademien, neuen Medien etc. winkt. Wie kann man Juroren, die Stipendien vergeben, nasführen? – wenn man „neue Medien“ einsetzt. Die neuen Medien haben dabei en passant die moderne Kunst und alle daran hängenden Betriebe aus ihrer Legimationskrise erlöst. Kein Stadtrat muß jetzt seiner mit „Das kann unsere Tochter auch“-Argumenten operierenden Ehefrau mehr erklären, warum er für diesen Scheiß so viel Geld ausgibt. Es sind die neuen Medien und wenn wir sie nicht fördern, verpassen wir etwas und die Japaner verspeisen uns roh zum Frühstück.

    Das Image von Medientheorien besagt, daß man alles, was man gewußt hat, vergessen müsse: Fast alle deutschen und deutschsprachigen Medientheorien verströmen dieses Fluidum von ganz neuen Verhältnissen, obwohl ihre Protagonisten meist nur vergessen, was sie unmittelbar zuvor noch gewußt haben (Marx und Adorno etwa), während sie das, was sie vor langer Zeit mal gewußt haben oder was ihre Lehrer und Väter gewußt haben, gerne applizieren (Heidegger, Jünger etc.). Diese Paradigmenwechsel-Mystik hat sicher zu tun mit den Vorbildern aller modernen Medientheoretiker wie McLuhan (aber auch Burroughs und Pynchon), die von der Space-the-final-frontier-Aufbruchs-Rhetorik der 60er und den Science-Fiction-Versprechungen der 50er geprägt waren. Zwar fragte Burroughs schon in den frühen 70ern per Graffiti an New Yorker Hauswänden: „Wo sind die Individual-Hubschrauber geblieben, die man uns versprochen hat?“, aber für die deutschen Medientheoretiker ist die totalisierende Geste, daß die Veränderung eines Parameters alles verändere, immer noch die vorherrschende Denkfigur. Entsprechend verbreiten sie gerne eine apokalyptische Dramatik, von der die Vielfalt an Perspektiven dieses relaxten Buches sich angenehm unterscheidet. So gibt es in ihm z. B. etwas, das das Außermediale heißt.

    Medienpassivität: Die Theorie über Medien tendiert dazu, die eigene Passivität zu legitimieren. Nur wer beispielsweise einen Piratensender betrieben oder auch die offenen Kanäle der Kabelanstalten lang genug genervt hat, kann sich die begrenzten, aber inspirierenden Einsichten vorstellen, die die Benutzung von Medien gewährt. Auch deren Unterschiedlichkeiten. Und vor allem die Unterschiede zwischen Senden und Empfangen. Daß man auch noch so perfekte Kriegsmedien stören und unterwandern kann, ist eine Erfahrung, die man eben machen muß, denken kann man das nicht; denn der reine Denker geht ja immer von perfekten Endzuständen aus und nicht von den immer auch von sozialen und Murphys Gesetzen bestimmten Realitäten. Dazu gehört aber nicht nur eine eigene Praxis, sondern vor allem auch die Beobachtung anderer illegitimer Anwendungen neuer und alter Medien durch Unbefugte. Mit einem freundlichen Gruß an Hacker ist es dabei nicht getan.

    Tendenzismus: Der Tendenzismus ist die medientheoretische Abart des Kulturpessimismus. Er kommt bei den Semantikern ebenso vor wie bei den Formalisten. Beide gehen davon aus, daß z. B. ein Kanal (MTV) die anderen 29 als Tendenz beherrscht und alles weitere, was Medien tun, anrichten, ermöglichen, bestimmt. Oder davon, daß die Umstellung unserer Zivilisation von Analog auf Digital jeden Blick auf die 1/0-Realität erübrige. Während Bilwets Buch ja schon bei der Mediendämmerung beginnt und Techno-Produzenten die Flohmärkte nach Analog-Geräten durchstreifen, Medienakademien lieber alte Bildhauer und Bauhaus-Typen engagieren und Privatsender pleite gehen, starren die meisten deutschen Medientheoretiker auf 1/0 wie Oswald Spengler auf die Sex Pistols. Auch der Tendenzismus ist natürlich ein Erbe einer bestimmten, sehr attraktiven marxistischen Denkfigur, die gerade von Professoren gerne verinnerlicht wird und alle persönlichen Abwendungen vom Marxismus überlebt hat: „Die Krise, die ich erlebe, ist die letzte.“ Was sich der Tatsache verdankt, daß die Berufung eben meist immer dann kommt, wenn man vom Leben selbst nicht mehr soviel erwartet, wobei man diesen biographischen Umstand gerne den Verhältnissen anlastet, indem man sie zu ökonomischen, ökologischen oder eben medienkulturellen Endzeiten erklärt.

    Historismus/Theorismus: Da Medientheorie, nicht nur in Deutschland, hauptsächlich von Akademikern betrieben wird, besteht die Neigung, deren klassische Domäne auch auf die Untersuchung von Medien zu übertragen: das Sammeln von historischen Daten und die Theoriebildung unter Auslassung der sozial und politisch kanalisierten Anwendungen. Dazu kommt das Bedürfnis nach einer antieklektischen Sauberkeit ihrer Disziplin, das besonders die Vertreter von Wissenschaften befällt, die erst frisch der Illegitimität entkommen sind, noch um die Anerkennung des Wissenschaftsestablishments kämpfen müssen. Wer Medien untersucht, darf demzufolge nichts mit Sozialwissenschaften zu tun haben und umgekehrt. So kommt keiner darauf, die Geschichte des Sozialismus als eine Software-Geschichte zu schreiben (wie Bilwet). Ebensowenig kann man den Umgang der Popmusiker mit elektronischen Medien beschreiben, wenn man in deren Mittelpunkt Jimi Hendrix stellt (der sich wiederum weniger über seinen Gebrauch elektronischer Medien erklärt als über die spezifisch afroamerikanische Medientheorie, das „Signifyin(g))“). Wer beobachtet, wie Rap-Musiker den Computer einsetzen, wird feststellen, daß sie mit dem zur Diskontinuität einladenden Sampler gerade Kontinuitäten herstellen. Wer jamaikanische Dub-Produzenten studiert hat, hat gesehen, wie das für die Additivität gebaute 4-Spur-Studio zum subtrahierenden Filter wurde etc. Ich nenne nur Beispiele aus meinem Bereich. Aber daß fast alle Medien immer das Gegenteil von dem bedeuten, was in der Gebrauchsanleitung steht, ist eben ein Faktor, der nur in der Praxis zu ermitteln ist.

    Religiosität, Medienmystik etc.: Die Medien sind den Leuten, nicht nur den Theoretikern, heute Gott. Es gibt kein Entrinnen und kein Verstehen, außer mystischem Verstehen (New Age). Diesem Tiefsinn macht – und das ist eigentlich das wichtigste an diesem Buch – Bilwet mit guter Stimmung ein Ende. Medien haben eine unüberschaubare Zahl an Aspekten, Möglichkeiten, Berechen- und Unberechenbarkeiten, keine Teleologie oder prinzipielle Tendenz. Sie haben mit allem anderen zu tun und man kann alle möglichen Schlüsse ziehen: benutzen, kaputtmachen, nicht benutzen, weggehen, manchmal weggehen, arbeiten, faulenzen, sich berauschen. Und das alles kann man mischen. Man kann auch eine Perspektive erarbeiten, die wieder – sozusagen von unten – totalisiert und zum Generalangriff starten: Medioklasmus, Viren. Man kann es aber auch lassen. Man kann auch darüber lachen.

    Schließlich Kohärenz, Philosophismus etc.: In anderen Texten habe ich das Denken der 80er oft „Theorie“ genannt, um es als illegitimes Denken von den legitimen, universitär produzierten „Theorien“, die ich „Philosophie“ genannt habe, zu unterscheiden. Auch dieses 80er Denken, aus dem vieles der gängigen Medientheorie nach Überwechseln auf die universitäre Seite hervorgegangen ist, ist an seine Grenzen gestoßen. Die Agentur Bilwet wählt aber in ihrem Denkstil nicht die traurige Lösung, sich wegen der Probleme der illegitimen Theorie mit der legitimen Philosophie zu versöhnen, sondern treibt die illegitime Wissenschaft weiter. Sie hijacken alle möglichen Gesten der Ritter der Kohärenz, sie werden fast selber allwissend. Um dann, wie es sich für Medienexperten gehört (und auch für uns Leser gilt), die Geduld zu verlieren mit berechenbaren Ableitungen und woanders weiterzumachen, wo ein guter Gedanke aufgetaucht ist.

  • Achtung Baby

    Diedrich Diederichsen and Jutta Koether on Springtime for Hitler

    A television image from the reunified Germany of 1992–93: a long-haired, bearded man, beer can in hand, wearing a cowboy hat and a black leather jacket with fringes, repeats “They have to go, they have to go, they don’t have our German culture, they have to go.” In the background, a building burns; it is a dormitory for immigrants seeking asylum in Germany.

    This image – the neo-Nazi cowboy, obviously impressed with “American” culture – was perhaps the most monstrous in the series of images that have been broadcast, with increasing frequency, from eastern Germany since the attack on the Rostock dormitory last August. Monstrous because easily readable; yet at the same time incomprehensible. On the one hand a disoriented, even idiot figure, who knows nothing but his nationality. On the other, the idea, disorienting for Germans on the left, that not even long hair and a leather jacket – the left-wing “uniform” – necessarily stand for an antiracist, multicultural politics.

    Heiner Müller was the only distinguished writer of the old East Germany, the German Democratic Republic, who was critical of his government while still claiming a Marxist position – if one enriched by post-Modernist theory. He knew Michel Foucault, worked with Robert Wilson, and shared the sentiments of a Russian friend of ours who recently returned to the former Soviet Union after 15 years of exile: “There’s only one thing worse than socialism: capitalism.” Last year, Müller published his autobiography, Krieg ohne Schlacht – Leben in zwei Diktaturen (War without battle: life under two dictatorships), which explained eastern Germany to us in a new way – indeed, as if for the first time. Müller argues that the East German secret police, the Stasi, had mastered an intolerable discourse of blame. From athletes to avant-gardists, no one escaped the collective matrix of guilt. In the end, only one thing came out clean: the West. And when the Wall fell, the only thing left to the former citizens of the GDR was their German nationality.

    One can’t really call the end of the GDR a revolution, but if 1989 in Germany and 1789 in France have anything in common, it is that, in both cases, three years after the fact, the “real” character of the “revolution” became visible: in the case at hand, it took the form of an emergence of a powerful right-wing radicalism, treated by those in power as the justifiable excess of a rightfully enraged people. Today, Germany’s mainstream parties are carrying on a so-called “debate” about asylum, prejudging the question by the way they frame it: are German immigration laws too liberal? (The ruling Christian Democrats think so, and want to fix them by changing the constitution.) In general, politicians pay lip service to right-wing radicalism and xenophobic violence. The biggest joke: on November 9 (the anniversary of the opening of the East/West border, but also of Kristallnacht), the president and other government officials demonstrated against discrimination – as though they weren’t in a position to do anything about it; as though they weren’t in power.

    The asylum debate lends credence to the right-wing neo-Nazis, because it takes them seriously. It says that the problem is not the radicals but the foreigners, about whom the only question to be asked is whether they should be deported. Meanwhile the German police – so efficient, and so heavily armed, when they took on the leftist groups of the ’70s and ’80s – do nothing. Indeed, it is said that 15 percent of the force sympathizes with the radicals. The police beat up the leftist and independent demonstrators who try to protect the dormitories in the east, and charge them with the same offenses with which they charge the right-wing instigators of the violence.

    It is against this background that the German left and the liberal cultural establishment, divided first by reunification and then by the Gulf War, are trying to reestablish themselves. Many of their old figureheads have waned in strength, like Günter Grass; some of the most important have died, such as Heinrich Böll, Joseph Beuys, and recently Willy Brandt and Petra Kelly. Thus weakened, they face a new consensus: that Germany has to learn how to act like a nation. It has to find itself – has to send troops on United Nations missions and to cooperate in actions like the Gulf War. Both right-wingers and former left-wingers camouflage this attitude under the mask of liberation: the idea that we must be allowed to say this again, do that again. It was in this mood that Austrian politician Jörg Haider recently praised the work programs of the Third Reich; that an East German Christian Democrat told Ignatz Bubis, the chairman of Germany’s Zentralrat der Juden in Deutschland, the central council of German Jews, that his country was Israel, not Germany; that a writer recently spoke on a talk show about a succession of German social politicians – Bismarck, Hitler, Adenauer. In the same mood, left-leaning liberal philosophers settle their scores with post-Structuralism in weeklies like Die Zeit and Der Spiegel, and recommend the pragmatic Jürgen Habermas over the “neomarxist Derrida.” And there is a coalition in the liberal mainstream that fights against intellectualism, Modernism, and post-Modernism, and they are for nation, plain language, and Stammtisch-community.

    Multiculturalism has a completely different meaning here than in the USA, or even in England or France. The strategic casting of individual population segments in the role of “minority”, in order to heighten their cultural and political importance, is relatively unknown in Germany. The concept was brought into the national debate about ten years ago, by Heiner Geissler, then the general secretary of the Christian Democrats; but only a few cultural administrators, and mayors who wanted to give their cities some cosmopolitan flair, took it up. Now, an opposition to multiculturalism is being built by a bizarre coalition of left-wing humanists and right-wing German nationalists, who give the idea any meaning that suits them. Recently, skinheads warned a reporter on an east-German newspaper to give up her “multicultural” reporting, under threat of violence.

    On television, the very popular African-American talk-show host Ron Williams – who currently wears a cap with an X logo – has admitted to being afraid, especially for his son, who has grown up in Germany. To American friends, Williams had always maintained that Germans were less racist than Americans. But the color blindness he enjoyed in Germany may have been based less on an absence of racist attitude than on a lack of opportunity to vent it. In fact, aggression against foreigners is strongly linked to skin color: preferred victims are exchange students from Mozambique or Angola (invited to East Germany by the old GDR regime), African-American soldiers, Gypsies, southern Europeans, and Vietnamese. Whites from northern Europe and North America are generally still safe.

    The German love of African-American music has proven adaptable to the new racism. In the room of a young girl who had cheered on an attack on an asylum dormitory in Hoyerswerda, a television crew found posters of Michael Jackson and Prince. “The Germans always love their victims,” journalist Wolfgang Pohrt has written. Among the vigilantes in Rostock, some imitated New York b-boy outfits; many wore X caps. When ska singer Desmond Dekker plays in Germany, black Jamaicans perform on stage and right-wing skinheads dance in the audience. When neo-Nazis meet in bars, they sing blues songs with anti-Semitic lyrics.

    That is German culture today.

  • Trümmerarbeit

    Pornographie, Nazi-Rockbands, „Cop Killer“-Rapper – Aufruf zu, Verherrlichung oder Verharmlosung von Gewalt? Kunst? Rechts? Links? Alles dasselbe? Alles verschieden? – Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf der Frankfurter Tagung „Spielhölle – Ästhetik und Gewalt“, die vom 26. bis 29. November 1992 in Frankfurt/M. stattfand

    Ich saß einmal in einer Runde, die über das Thema „Ästhetik und Gewalt“ diskutierte und darüber, ob man dazu eine Veranstaltung machen sollte. Die Zuspitzung dieses Titels reichte von Themen wie „Prinzipielle Gewalt des Ästhetischen“ über „Falsche Ästhetisierung von Gewalt“ bis zu „Ästhetische Flucht aus gewalttätigen Verhältnissen“. Sensible Kunstverwalter sagten natürlich Sätze wie: „Ist nicht schon die Geburt ein Akt der Gewalt?“ Diese Unklarheit, der man bei dieser Veranstaltung dadurch aus dem Weg ging, daß man sich auf bestimmte kulturelle Produktionen einigte, die in letzter Zeit solche Diskussionen provoziert haben, verstärkt sich noch dadurch, daß gleichzeitig mit „Ästhetik und Gewalt“ allenthalben der alte Klassiker „Ästhetik und Ethik“ überall wieder diskutiert, um nicht zu sagen: begangen, wird.

    In den Kreisen, die ich mal soziologisch unsauber Boheme oder „in ‚kreativen‘ Berufen beschäftigte Fraktion des neuen Kleinbürgertums“ nennen will, schien in den 80er Jahren Einigkeit darüber zu bestehen, daß Fragen der Ästhetik wichtiger seien als politische, ethische und moralische, bzw. daß diese in jenen aufgehoben seien, wie etwa bei Foucaults Lebenskunst-Begriff. Man scheint sich heute ebenso einig, daß eine solche Einschätzung nicht mehr tragbar ist. Überall kann man Ansätze beobachten, die zeigen, daß die Boheme um neue und tragfähige Politikbegriffe ringt. Um aber nicht die letzten zehn Jahre umsonst gelebt und vor allem nicht umsonst gedacht, publiziert und kulturelles Kapital angehäuft zu haben, konfrontiert man sein altes Paradigma mit möglichen neuen, natürlich in der Hoffnung, so viel wie möglich vom alten herüberzuretten. Ein Grund für die Ästhetik-Debatten der 80er lag darin, daß „Kultur“ (also das von Ästhetik so wie Politik von Ethik zu Regelnde – wenn man deutschen Idealismen folgt) einen wirtschaftlichen Boom erlebte, den technologische Entwicklungen forcierten. Dieser Kulturboom wurde auch dahingehend interpretiert, daß kulturelle Kommunikation gewisse politische Auseinandersetzungen aufgehoben oder gar intensiviert habe. Das Underground-Kultur-Universum begriff sich als ein gegen Establishment und Mainstream abgeschirmtes internationales Netzwerk. Persönliche Entwicklungswege, Übertritte vom ethischen ins ästhetische oder vom politischen ins kulturelle Universum schienen – wenn auch meist als Karriereschritte erkennbar – solche Überlegungen zu erhärten. Daß eine Politik der Lebensstile, auch und gerade bei den Radikalen Linken, zuletzt an Popularität gewann, zeigt etwa das Taufer-Folkerts-Dellwo-Interview in konkret 6/92. Es funktioniert nicht, die De-Politisierung zerknirscht zurückzunehmen und nur ein besserer Mensch werden zu wollen. Die beobachtbare Re-Politisierung der Boheme stinkt nach Zurückweichen vor einem Legitimierungsdruck, denn die De-Politisierung hatte neben schlechten auch gute Gründe (z. B. den ideologischen Anti-Amerikanismus der Linken, ihren Anti-Pop-Affekt, ihren Dünkel, ihren Elitismus, ihre weinerliche Vergreistheit etc. – eben die Bausteine ihres latenten Rechtsrucks).

    Es wäre zu einfach, in der Ästhetik-Epoche der 80er Jahre bloß Ästhetizismus oder Eskapismus zu lesen. Aber es ist richtig, daß sie unmittelbare politische Handlungsfähigkeit nicht zuließ. Aus dieser Erkenntnis heraus wurden allerlei Zusammenhänge gebastelt, die den Schluß nahelegen sollten, daß es doch eine politische Dimension gebe, und um diesen Nachweis zu erbringen, war man auch dazu bereit, mit dem klassischen Gegner sozusagen antagonistisch zu kooperieren: mit Zensurinstanzen und Jugendschutz zum Beispiel, die ganz versessen darauf waren, solche Zusammenhänge zu liefern. Die Kennmarke war der Begriff der Gewalt, gekoppelt mit Pornographie, Menschenverachtung, Rassismus. Nicht selten argumentierten die Instanzen des Gegners „links“. Vor kurzem gab es eine Debatte, die von einer Saarbrücker Grünen-Politikerin ausgelöst und von einem ziemlich ahnungslosen taz-Redakteur aufgegriffen wurde, die ganze Musikrichtungen diesen Vorwürfen aussetzte: Linksradikale Bands wie Napalm Death und Pinochet-Unterstützer wie Slayer wurden derselben Vergehen angeklagt. Die Grünen-Politikerin trifft sich sowohl mit ihren Gegnern als auch mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften an einem Punkt: Mangelnde sachliche Information und im Überfluß vorhandene emotionale Erregung führen zu einer bestimmten Vertrauensseligkeit gegenüber ästhetischen Vereinbarungen – hier: laut und hart = gewalttätig; dort: laut und hart = rebellisch oder gar = links. Natürlich ist beides falsch.

    Diese Kombination von Ignoranz gegenüber dem Kontext von Gewaltdarstellungen mit moralischer Entrüstung über sie ist es, die auch einen bestimmten Gewaltbegriff hervorgebracht hat, an dem sowohl Gegner als auch Anhänger kontroverser Kultur dieser Art festzuhalten scheinen. Dieser Gewaltbegriff ist nicht nur zu eng (er beschränkt sich darauf, Gewalt als akute, offene Gewalt zu beschreiben), er ist auch falsch, weil offene wie strukturelle oder symbolische Gewalt nicht nur nicht identisch sind mit ihrer Darstellung, nicht nur ein Verhältnis sind statt einer Substanz, sondern auch oft das Gegenteil, Gegenbild oder Gegenmittel zu diesem Verhältnis; natürlich aber auch ein Gegenteil, das in einer gewissen Komplizenschaft sich befindet. Deswegen ist es irreführend, solche „graphic violence“, wie man im angloamerikanischen Sprachraum sagt, von ihrem Kontext zu lösen: Ich plädiere dafür, das ästhetische Phänomen, von dem die Rede ist, lieber Drastik zu nennen. Und dann im Einzelfall davon zu reden, welche Beziehung drastische Kultur zu ihren Gegenständen hat.

    Begriffliche Paarungen wie „Ästhetik und Gewalt“ scheinen mit dem Hintergedanken gebildet zu werden, über die Herstellung eines Zusammenhangs jeweils die Zusammenhänge, aus denen die Begriffe stammen, aus dem Auge zu verlieren. Das ist an sich schon wieder eine ästhetische Operation. Ästhetische Produkte sind resultativ und können nur existieren, wenn sie ihren Entstehungszusammenhang ausblenden (darüber kommen sie auch nicht hinweg, wenn sie hin und wieder ausgewählte Aspekte ihrer Entstehung thematisieren). Es liegt im Interesse der Künste, sich ein besonderes Verhältnis zur Gewalt zuzusprechen (wie auch ein besonderes zur Politik). Sie verschaffen sich dadurch eine Legitimation, die jenseits des ästhetischen Feldes liegt und darum so wertvoll ist, daß dafür auch in Kauf genommen wird, sich über das jeweils Illegitime zu legitimieren. Dagegen ist gar nichts einzuwenden: Das Ästhetische ist immer noch einer der wenigen Kanäle, zu denen man sich relativ leicht Zugang verschaffen kann. Das Problem ist nur, daß die sich mit Gewalt paarende Ästhetik, indem sie ihr Problem mit der „graphic violence“ thematisiert, ihr Verhältnis zur strukturellen Gewalt und ihre eigenen gewalttätigen Binnenverhältnisse, also die Gewalt, die bei der Produktion von Stimulanz ausgeübt wird, ausblendet.

    Vor dem Gesetz ist die Darstellung von Gewalt an sich noch kein Problem. Sie wird zu einem Problem erklärt, wenn sie Gewalt „verherrlicht“ oder „verharmlost“: Wenn etwa zum Ausdruck gebracht werde, daß Zerstückeln erregend und schön sei oder wenn der Zerstückler ungestraft davonkommt, also offene Gewalt folgenlos bleibt. Mit einer bemerkenswerten Begründung hat jüngst der Bundesgerichtshof ein Urteil kassiert, das den Film The Evil Dead aus dem Verkehr gezogen hatte: Es handele sich bei den Opfern der Verstümmelungen deutlich erkennbar nicht um Menschen, sondern um Zombies, und, so führt der BGH aus: „Hätte der Gesetzgeber die Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt gegen Zombies unter Strafe stellen wollen, hätte er das in den Gesetzestext geschrieben.“ Es ist zwar nett von der höchsten Instanz, daß sie einen furiosen Film wieder zugänglich macht, aber doch seltsam, daß sie auf den ältesten Trick von Künstlern hereinfällt, sich der Zensur zu entziehen: den, die dargestellten Geschehnisse zu Märchen zu erklären. Nicht ganz unproblematisch auch die Differenzierung von Menschen und nicht ganz so richtigen Menschen. Schließlich sind ja auch die Zombies von menschlichen Schauspielern dargestellt worden. Und schließlich gibt es ja zur Zeit auch wieder Debatten darüber, wann lebende Menschen richtig leben und wann sie nicht mehr ganz so richtig leben und ihr Leben daher weniger schützenswert sei. 

    Abgesehen davon geht es aber noch um ein ganz anderes Problem: Künstlerische oder ästhetische Darstellung von etwas ist immer gleichzeitig dessen Verharmlosung wie dessen Verherrlichung. Verharmlosung, weil es ein Entkommen gibt, das kein Mitleiden und keine Katharsis aufwiegen können, und Verherrlichung, weil das Dargestellte nie seinen Charakter des Inszenierten vergessen machen kann, weil stets die um der Wahrnehmbarkeit, also der Ästhetik willen getroffenen Entscheidungen, die Form, das Resultat zu sehen und zu hören sind und nicht die Prozesse, die auch bei ästhetischen Produktionen von der Gewalt gesellschaftlicher Verhältnisse bestimmt sind. Verherrlichung und Verharmlosung sind geradezu Kriterien des Ästhetischen. Kunst oder Kultur liegt dann vor, wenn ein Zusammenhang oder ein Verhältnis mich entkommen läßt und ich das von Anfang an weiß. Alles andere, was mit ästhetischen Produkten geschieht, von ihrer Herstellung bis zu ihrer Rezeption, läßt sich diskutieren, kritisieren und bewerten. Dieser fundamentale Zusammenhang nicht. Er ist den ästhetisch unprofessionellen, aber gedanklich präzisen Gesetzestextern aufgefallen, die das Gemeinsame einiger exponierter Kunstwerke zu beschreiben hatten und nicht bemerkten, daß das, was sie beschrieben haben, das Gemeinsame aller Künste, wenigstens im traditionellen Sinne, trifft. 

    Wenn man das nicht weiß oder nicht berücksichtigt, entwickelt man zu den dargestellten Vorgängen in drastischen ästhetischen Produkten ein besonderes Verhältnis. Man sieht sie nicht im Zusammenhang einer ästhetischen Strategie, sondern isoliert sie und bezieht sie auf ihr Korrelat in der Wirklichkeit (wo es sie meistens so wenig gibt wie Zombies). So kurz schließen alle Personen, denen ein intertextueller Zugang nicht zur Verfügung steht: verwirrte, junge oder in ästhetischen Dingen ungeübte Personen. Tun sie das aber eine gewisse Zeit lang und unter entsprechender Beobachtung durch die Medien, dann verselbständigt sich ihr Irrtum und gewinnt ein Eigenleben. So geschehen beim Gewaltbegriff der Splatter- und/oder Death-Metal-Kultur.

    Drastik war aus zwei Gründen ein Merkmal von gegen- und subkulturellen Formen der letzten 30 Jahre. Zum einen, weil damit vom gesellschaftlichen Zwangskonsens, den seit etwa dieser Zeit die Massenmedien totalitär verwalten, ausgeblendete Lebenstatsachen zur Sprache gebracht werden konnten. Zum anderen, weil unabhängige und ökonomisch schwache Kulturindustrielle immer gezwungen waren, durch Drastik Wettbewerbsnachteile zu kompensieren, und weil ihre mangelnde Perfektion als Spur „authentischer“ Produktion mehr oder weniger bewußt nachgefragt wurde. Konkurrenzkämpfe verschärften diese Bedingungen und sorgten dafür, daß befreiende und die Konkurrenzverhältnisse nur bestätigende Elemente immer schroffer aufeinandertrafen. Die Konsumenten/Rezipienten drastischer Produkte hatten immer weniger Gelegenheit zu „lesen“, was sie genossen. Auf der anderen Seite war ihnen irgendwie klar, daß nur unter solchen Produktionsbedingungen noch Spuren von gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellbar waren.

    Diese Produktionsbedingungen und die Gewalt, die in ihnen selbst herrscht, haben längst von den privilegierten Zirkeln der ästhetischen Avantgarde auf alltäglichere Bereiche übergegriffen. Das hat einerseits mit der Ausbreitung von Arbeitsverhältnissen zu tun, in denen sog. Kreativität, Einfallsreichtum, Stimmung und gute Laune, Optimismus, Innovativität, das beliebte Querdenkertum und auch eine gewisse Aufmüpfigkeit gefragt sind, sowie mit den darin herrschenden Konkurrenzkämpfen um die beste Laune, Stimmung, Kreativität und Aufmüpfigkeit; zum anderen damit, daß, je perfekter und nivellierender die technischen Bedingungen sind, desto mehr sog. Authentizität in diesem Konkurrenzkampf verlangt wird: möglichst echtes Leid. Das Modell für diesen Zusammenhang ist der Cum-Shot in der Pornographie. In dem Maße der Verfügbarkeit von Pornographie stieg die Bedeutung von symbolischen Echtheitsbeweisen, die deutlicher als alle Gewaltdarstellungen von den Gewaltverhältnissen in der Kulturindustrie sprechen. 

    Diese Entwicklung: Veravantgardisierung der Bürowelt einerseits, Installierung des Konkurrenzkampfes, Version Mittelklasse, also des individualisierten Konkurrenzkampfes, Gruppenbildung aus taktischen, nicht solidarischen Gründen, Absterben der Kollektivität bei gleichzeitiger Steigerung sog. Kreativität – diese Entwicklung beschleunigt verschiedene auseinanderstrebende Vektoren. Den Zugang zu Verfeinerungstechniken einerseits, die nicht nur im Konkurrenzkampf eingesetzt werden, sondern auch sozusagen bei sich selbst – was einen Boom von Empfindungswelten hervorbringt, die früher alleiniges Eigentum der Bourgeoisie waren. Zum anderen die Erfahrung, daß diese Verfeinerung nur dann belohnt und akzeptiert wird, wenn sie sich durchsetzt, das heißt, wenn man das frisch entwickelte Eigene gegen ein Anderes, von dem man sich dezidiert unterscheidet, absetzt und sich gegen es durchsetzt.

    Seit den späten 70ern spricht man über „Ästhetik und Gewalt“ im Zusammenhang mit Jugendkultur. Normalerweise würde man sagen: seit Punk-Rock, aber Punk ist nur eine von vielen Spielarten der neuen Drastik gewesen. Alles, was wir heute diskutieren: Splatter, Hardcore, Death-Metal und auch Gangster Hip-Hop begann in den späten 70ern und setzte sich im Laufe der 80er durch. Was haben diese so unterschiedlichen Formen von Drastik gemein? 

    In einer Musik wie der, die Charles Mingus oder John Coltrane in den frühen und mittleren 60ern gespielt haben, sahen europäische linke Kulturtheoretiker genauso wie amerikanische schwarze Nationalisten die höchste Entwicklungsstufe einer Kollektivität, die die einen als spezifisch schwarze Kollektivität, die anderen als Vorschein einer Utopie verstanden. In diesen Kollektivitätsbegriff war ein Arbeitsbegriff eingeschrieben, der ästhetische Produkte als prinzipiell unwiederbringliche, verschwenderische und freizügige Ergebnisse eines Prozesses begriff, der selbst durchaus mühselig sein konnte. Die schönen Momente waren bestimmte Freilassungen, Höhepunkte, die auf Dramaturgien basierten. Gleichzeitig enthielt bei aller Feierlichkeit die Musik von Mingus, Coltrane oder Cecil Taylor Elemente von Distanz, Coolness, Ironie, von einem Sich-Lustigmachen schwarzer Kollektivität über die Effekte abendländischer Funktionsharmonik und weißer Identität und Individualität.

    Das Mißverständnis dieser Coolness steht am Anfang einer langen Reihe europäisch-bürgerlicher Mißverständnisse afro-amerikanischer Kultur. Coolness kam in Europa nicht an als Spott über europäische Kultur, sondern als eine attraktive neue Form des bourgeoisen Habitus, als auch und gerade für nichtbourgeoise Jugendliche zugängliche Form der bourgeoisen ästhetischen Einstellung. In dem Maße, wie die Coolness falsch ankam, kam aber auch die Musik falsch an. Schon bei der frühen britischen Rezeption konnte man eine Konzentration auf einige spezifische musikalische Effekte beobachten, die man als geil empfand. Diese Effekte zählten, nicht der Prozeß ihrer Entstehung. 

    Diese besondere Bedeutung der Effekte korrespondiert mit dem Auseinanderfallen aller traditionellen Kollektivitäten und dem Entstehen neuer. Seit den frühen Tagen des Rock’n’Roll kann man beobachten, daß das kleine Nebengeräusch, der unwillkürliche technische Effekt, die Spur einer technischen Mangelhaftigkeit oder eine ostentativ eingesetzte technische Neuerung für den sozialen Erfolg einer Musik wichtiger waren als der Song. Der wichtigste Effekt, der sozusagen die Pop-Musik, wie wir sie kennen, erfand, war die mangelhafte Stimme: die vielen erst durch die Recording Technology der 60er möglich gewordenen kleinen, kaputten Stimmen wie die von Lennon, Dylan und Ray Davies und Neil Young. Effekte dieser Art dienten als Totems, um die sich neue Stämme, also neue kleine Kollektivitäten organisieren konnten.

    Eine weitere Entwicklung, die sich in den 60er Jahren erst zart andeutete, war die tendenzielle Arbeitslosigkeit in technologisierten Arbeitswelten. Doch schon im 60er Jahre-Splatter zeichnete sich deren erste Stufe ab: die tendenzielle Arbeitslosigkeit der Körper. Der nicht mehr tayloristisch vermessene und eingespannte Körper wurde sozusagen entlassen und entdeckte sich neu. Herschell Gordon Lewis und Professor Barnard begannen mit ersten Organentnahmen. Dieses neue Körperbild und das Eigenleben der Effekte sind die wichtigsten Voraussetzungen für die Kultur der Drastik, wie wir sie dann von Punk bis Techno, von Robocop bis Terminator verfolgen können. Ihr zugrunde liegt die Massenentlassung von Körpern und später ganzen Menschen aus Arbeitsverhältnissen, Kollektivität und Solidarität, mit anderen Worten: die falsche Realisierung von Freiheit, wie sie Neil Young beschreibt, wenn er über die Kinder von Crack-Müttern singt: „That is one more kid that will never go to school, never get to fall in love, never get to be cool, keep on rockin in the free world.“ Neil Young veröffentlichte das pünktlich zum Fall der Mauer und sagte präzise, was die neue technokapitalistische Freiheit zerstört: Das Soziale (school), seinen unvorhersehbaren Sonderfall (to fall in love) und die Möglichkeit des Widerstands durch Habitus (to be cool). 

    Kollektivität und noch allgemeiner: das Soziale sind politisch-ökonomisch wie technologisch bedrohte Zusammenhänge. Das in diesem Zusammenhang Wesentliche an ihnen ist, daß sie die Individuen in Räumen organisieren, in denen es Wege gibt, auf denen es zu unvorhersehbaren Begegnungen kommen kann. In dem Maße, in dem diese Räume im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne zu flachen monadisierten Konsumbeziehungen werden, bekommt der Effekt ein zusätzliches Eigenleben. Er dient nicht mehr nur als Totem-Sound oder -Logo, sondern wird zum individuellen Trip. In den späten 80ern häuften sich Bands, die aus bereits effektorientierter Musik der 60er und 70er wieder einzelne Effekte isolierten, die sie wiederholten, verschärften oder mit anderen in neue Zusammenhänge setzten. In dieser Musik, von Spaceman 3 bis zu My Bloody Valentine, aber auch in vielen Bereichen des Hip-Hop und der zeitgenössischen Tanzmusik, kommt gleichzeitig die Zerschlagung alter kollektiver Kulturen und eines Aufgehobenseins in Gegen- und Jugendkulturen zum Ausdruck, zum anderen aber auch deren radikal neue Möglichkeiten. 

    In der schwarzen Kultur hatte die Zerschlagung der Community-stabilisierenden Kollektivität noch wesentlich dramatischere Folgen als in den hiesigen Fußgängerzonen-Demokratien (deren Status quo mittlerweile allerdings auch bedroht erscheint). Im Hip-Hop werden gleichzeitig bis dato eher unbeobachtete Kunst- und Kulturtechniken urbaner afro-amerikanischer Tradition: gereimte Sprachwettbewerbe, Schmähreime, parodistisches Sprechen etc. zur Mainstream-Kultur mit starker politischer Wirkung. Die Kritik der liberalen Amerikaner an Hip-Hop äußert sich in der Regel als Kritik an Gewalt und benutzt dabei etwa denselben substantialistischen Gewaltbegriff wie Helmut Kohl, wenn der Rechtsradikalismus nicht „Rechtsradikalismus“, sondern „Gewalt“ nennt. Als ginge die nicht immer noch vom Staate aus. Aber auch dieser undifferenzierte Gewaltbegriff nimmt natürlich auch etwas richtig wahr, nämlich wie sich Gewaltverhältnisse heutzutage in marginalisierten Kulturen auch durch Gewaltdarstellungen abbilden bzw., allgemeiner, durch eine Ästhetik des Risses und der Diskontinuität, des Mißtrauens gegen die Leistungsfähigkeit des Signifikanten und die Wahrheit der Massenmedien. Eine zeitgenössische Kulturtechnik, die sich weltweit in Jugendkulturen beobachten ließ, verbindet sich im Hip-Hop mit spezifisch afro-amerikanischen Traditionen des Widerstands, des Mißtrauens und des Spotts.

    Auch dabei sind natürlich Mißverständnisse vorprogrammiert. Sie sind das Material, aus dem die internationale Popkultur besteht, und das nicht nur zu ihrem Nachteil. Solche Mißverständnisse sind der einzige massenkulturelle Trend, der den Segregationstendenzen der Weltwirtschaft einerseits und der Entwicklung der Arbeitswelten andrerseits etwas entgegensetzt, etwas, das kein sogenannter Kulturaustausch leisten kann. Aber die Mißverständnisse, die mittlerweile zu Nazis mit Malcolm-X-Kappen oder zu langhaarigen Lederjackenträgern, die im TV doitsche Kultur verteidigen wollen, geführt haben, sind über externe Sinnzuweisungen nicht zu kontrollieren. Meine Einschätzung der Chancen dieser Entwicklungen lassen mich im Prinzip noch die irrsten Applikationen begrüßen, nicht zuletzt, um dem gewöhnlichen Kulturpessimismus entgegenzuwirken, in dem es sich die Linke bequem gemacht hat und der viele Linke nach rechts hat driften lassen. Aber es ist natürlich nicht abzustreiten, daß die reine Versorgung mit Energie durch von Marginalisierten produzierte oder ihnen abgeschaute Kultur nicht per se ein interessantes Ergebnis, sondern auch grauenhafte Mißverständnisse hervorbringen kann.

    Diskontinuität und Riß, aufgereihte Effekte – das alles sind Momente einer Reflexion von Zusammenbrüchen, notdürftig zusammengekittet durch gerade verfügbare Konzepte von Identität (wie beim Gangster-Rap), von Nation (wie beim moslemischen Rap), oder von Politik (wie beim Malcolm-X-inspirierten Rap). In hiesiger Jugendkultur war aber die Musik der Effekte und Einzelereignisse immer auch eine Musik, die den Zusammenbruch affirmierte (u. a., weil sie ihn nicht zu fürchten hatte, aber auch, weil sie ihn auf einer molekularen, psychischen, familiären, perspektivischen Ebene längst erlebt hatte und dafür einen entsprechenden Ausdruck suchte). Die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Zusammenbruch spielte dabei keine Rolle, also die, die man früher „Sozialismus oder Barbarei“ nannte. Daß in einer Zeit, in der die erste Möglichkeit auf absehbare Zeit ausfällt, die Affirmation des Zusammenbruchs problematisch wird, berechtigt zwar nicht dazu, ihn nicht mehr zu thematisieren, aber es ist nötig, einen Blick auf die sozusagen molekulare Reaktion zu werfen, die hierzulande stattgefunden hat.

    „Molekulare Reaktion“ ist eine Anspielung auf einen Begriff des kürzlich verstorbenen Anti-Psychiaters und Anti-Kapitalisten Félix Guattari, der die Folgen, Weiterentwicklungen und Perspektiven der Gegenkulturen von 68 „molekulare Revolution“ taufte. Lange vor den heutigen Verhältnissen haben molekulare Reaktionen gegen die molekularen Revolutionen der 68er stattgefunden, die sich manchmal – wie bei der Warenaffirmation der New-Wave-Kultur – noch als strategisch berechtigt empfanden, mit denen in späteren Jahren aber keine Erinnerung mehr daran verbunden war, was man durch solche strategischen Korrekturen verändern und wie man eine Bewegung durch noch kleinere und feinere Verästelungen verbessern und erweitern wollte. Gothic-Träume, Plattencover mit Sütterlinschrift und reaktionäres und rechtsradikales Gedankengut in deutschen poststrukturalistischen Kreisen, die aus der Linken hervorgegangen sind (Matthes & Seitz!), sind nur Symptome einer molekularen Entwicklung, die die Voraussetzung dafür geschaffen hat, daß für jedes Entgrenzungs-, Befreiungs-, Spontanitäts-Ereignis heute mindestens zwei Lesarten vorliegen, wovon die eine „Barbarei“ ist. Die Ursachen und die Energie dieser Entwicklung aber liegen in der falschen Aufhebung von Bindungen, die nicht mehr durch bessere Verhältnisse ersetzt werden konnten. Man hatte Waffen, die für den Kampf im Sozialen und für das Soziale entwickelt wurden, aber man hatte nicht damit gerechnet, daß man auch dem Sozialen den Stecker rausziehen kann, indem man anderswo etwas einschaltet. Die Konsequenz auf der molekularen Ebene war die langsame Verelendung der „Befreiung“ und ihrer Semantik, auf der molaren die immer spektakuläreren Erfolge rechter Gramsci-Leser – von der Jungen Freiheit bis zur FAZ – im Kampf um kulturelle Hegemonie.

    Die Ästhetik des Risses und der Diskontinuität ist im Hip-Hop keine Bejahung des Zusammenbruchs, sondern ein Arbeiten mit dessen Trümmern. Die im Gangster-Rap beschriebenen und genossenen Gewaltdarstellungen knüpfen an die erwähnten Traditionen städtischer männlicher Kultur an und sind auch darin natürlich geprägt von Gewaltverhältnissen, aber selbst darin versuchen sie eher noch Zusammenhänge herzustellen als Zusammenbrüche zu affirmieren. Der Zusammenhang an sich ist allein kein Wert, aber dieser Unterschied ist entscheidend, wenn man Phänomene wie Splatterfilme und Death Metal einerseits, die – mehr oder weniger akkurat und mehr oder weniger gut – vorhandene Gewaltverhältnisse als Zusammenbruch darstellen, und Rap, der in allen seinen Spielarten Zusammenhänge stiften will, welcher Art auch immer, nicht verwechseln will. Hinzu kommt, daß selbst die schlimmsten Gangster-Rapper sich gemäß einem Modell verstehen, einem Entwicklungsmodell, wie es die Karrieren von Malcolm X oder Iceberg Slim vorführen: die berühmte Reihe Gangster – Moslem – Politiker. Dies sind nur Andeutungen von der Komplexität der Bedeutungen des Gangster-Rap. Beurteilen und kritisieren kann man immer nur in Zusammenhängen. Schwarze Intellektuelle, die gewisse Gangster-Raps als erste Schritte von Bewußtseinsbildung in zerstörten Communities beschreiben, lehnen dieselben Produkte ab, wenn sie im großen Rahmen von der US-Mainstream-Kultur rezipiert werden und so zu Re-Stereotypisierungen führen. Günther Jacob brachte das Problem, bezogen auf den hiesigen Rahmen der Hip-Hop-Rezeption, auf den Punkt, als er sagte: Man kann zu Vergewaltigungsphantasien nicht tanzen. Damit meinte er natürlich: man sollte nicht. Man kann nämlich, und das ist – in a nutshell – das ganze Problem. Wer sich beim Tanzen nicht das Textblatt aushändigen läßt, kann nur musikalisch keinen Unterschied feststellen.

    In der Drastik-Kultur als der Zuspitzung der Effekt-Kultur sind Kommunikation und Austausch nicht mehr das, was wir als solche gewohnt sind. Was in dieser Kultur unternommen wird, ist, mehr oder weniger absichtlich, der Versuch, etwas an deren Stelle treten zu lassen. Daß, was unter den Verhältnissen diverser Zusammenbrüche und Medienrevolutionen sich entwickelt, immer auch von diesen Zusammenbrüchen spricht, ist klar. Um die Produkte kritisieren zu können, muß man mit ihren Rahmen arbeiten: Was innerhalb dieser Community funktionieren kann, funktioniert in jener nicht. Da gibt es keine Generallinie. Noch wichtiger ist aber vielleicht, zu rekonstruieren, wie auf eine molekulare Revolution eine molekulare Reaktion folgen konnte. Nur auf dieser Ebene ist sinnvoll von Gewalt zu sprechen. Auf einer Ebene, wo man zunächst eben an das klassische Wort von Brecht erinnern muß: Was ist schon die Ermordung eines Mannes gegen seine Einstellung? Heute muß es natürlich heißen: Was ist schon Crack-Sucht gegen eine Entlassung?