Kategorie: Archiv

  • David Thomas

    „Junge Leute sind sehr konservativ, solange sie unter 25 sind, wollen sie immer das gleiche hören“, sagt David Thomas. Und ich gebe ihm recht, heutzutage jedenfalls nimmt der Jugendliche Reißaus, wenn Musik auch nur am Rande die Konventionen der europäischen Funktionsharmonik antastet.

    Was bleibt von einer Band, die mehr als einmal die beste der Welt genannt wurde (Pere Ubu)? Hohe Pfeiftöne und Unterwasserszenen?

    Aber damals, fahre ich fort, als ich so richtig jung war, da riß man sich doch um Lärm und Ausgeflipptes, man verehrte schließlich Captain Beefheart.

    „Aber das Ausgeflippte war eben auch nur eine Konvention. Captain Beefheart ist zufällig von Wert, aber als ausgeflippt ging eben auch viel Scheiße durch.“

    David Thomas hat für sein fünftes Solo-Album auf bewährte Mitstreiter aus alten Pere-Ubu-Tagen zurückgegriffen. Allen Ravenstine, der die unerhört hohen Pfeifsounds schon auf den ersten Ubu-LPs veranstaltete, ist, stoisch wie eh und je, zurückgekehrt, ebenso wie der strahlend blauäugige Tony Maimone am Baß, und mit den beiden diverse Ubu-Klassiker zur Auflockerung des möglicherweise allzu eigenartigen Thomas-Solo-Programms. David Thomas ist heute ein Begriff allenfalls für eine verschwindend kleine Minderheit der älteren Generation, und warum auch nicht, New Wave ist heute so alt, daß seine alten Helden zwar noch nicht wie die ganz alten Helden der Velvet-Epoche den Sprung zum Klassiker schafften, aber alt genug sind, daß sie erst einmal ein entbehrungsreiches Dasein als marginale Quasi-Free-Jazz-Figuren führen. Das ist ein Stadium, durch das man durch muß, bevor man zum Klassiker erhoben wird. John Cale hat auch jahrelang Scheiße gefressen, bevor er eines Tages aufwachte und alle von ihm beeinflußt waren.

    Die David-Thomas-Solo-Alben waren nun allerdings wirklich alles andere als zugänglich. Die starke Bedeutung des Textes verhindert, daß die äußerst eigenartig instrumentierte Musik Eigenleben gewinnt, die glucksend-säuselnd-untermalende Musik verhindert, daß die Texte als etwas anderes als delirierender Surrealismus wahrgenommen werden, wo sie doch, wie auch zu Ubu-Zeiten, rührende, hochmoralische Fabeln, Abhandlungen, Lehrstücke über zeitlos Menschliches sind, verpackt in die altbekannten Lieblingsmetaphern des David Thomas: endlose Unterwasserszenen, Meerestiere, zugefrorene, erstarrte Breughel-Winterlandschaften, bekannt als UNICEF-Weihnachtskarten, die Alternative zu den Mundmalereien. Immer wieder Winter, immer wieder weites zugefrorenes Land, John Fords Amerika in der Spätphase, etwa im Wiedergutmachungswestern „Cheyenne“:

    „Da, wo ich herkomme, ist das Klima sehr extrem, heiße Sommer und kalte Winter. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich den Winter liebe. Jeder hat so ein Zuhause, einen Platz, wo er hingehört. Das muß nicht notwendig der Ort sein, wo man geboren und aufgewachsen ist, aber es gibt immer einen Ort, einen ganz bestimmten Ort, wo man sich zu Hause fühlt, das sind bei mir diese Winterlandschaften. Dann sind Jahreszeiten natürlich immer nur deswegen interessant, weil sie andere Jahreszeiten ablösen. Der Winter ist gut, weil er den Herbst ablöst.“

    Der Vorteil der mit alten Ubu-Freunden aufgefrischten Live-Band besteht nicht zuletzt darin, daß rund um David Thomas extrem entfaltete Persönlichkeit wieder ein Rahmen entsteht, eine klare Landschaft, gegen die sich die Urszenen und Dramen, die er erzählt, vorspielt, singt, konturiert abzeichnen. Die oft richtig jazzige, kleine Combo verkleinert die Willkürlichkeiten, die Eigengesetze, die großen Brüche in der Geschichte des David Thomas, den die zufällig gewählte musikalische Form nicht interessiert. Ihn interessiert es, bewegend und lustig zugleich zu sein, archaische Reaktionen.

    „Denn so sind die Menschen, oder? Bewegend und lächerlich, und Kunst sollte sein wie die Menschen, jedenfalls das, was wir machen. Eigentlich ist das keine Kunst, sondern Folk-Music. Pere Ubu war eine Folk-Band. Ich habe das immer wieder gesagt, aber die Leute haben mich nicht verstanden. Worum es in der Musik doch geht, ist Kommunikation von Herz zu Herz, Intimität, alles, was davon ablenkt, sollte man aufgeben. Und das ist Folk-Music.“

    Für mich ist genau das Blues bzw. schwarze Musik im allgemeinen, die Rettung der archaischen Kommunikation, natürlich da entstanden, wo Kommunikation am frühesten zu einem Gegenstand der McLuhantums wurde, wo sie am schnellsten, modernsten und nötigsten wurde. Der zivilisationsmüde Europäer wird zum Eremit, der zivilisationsmüde Amerikaner versucht die archaische Kommunikation zu retten. Wells-Fargos Pony Express. Die Kommunikation des Herzens. Das Herz ist ein Muskel, der nichts weiß, aber er garantiert Authentizität, weil er schlagen muß, man kann ihn nicht aus ästhetischen Gründen unterbrechen. Dazu ist es ein einsamer Jäger, begraben an der Biegung des Flusses.

    „Der Blues ist keine heilige Kuh, Blues ist vor allem auch viel sexistischer Unsinn, Backdoor-Men-Musik, Lüge, Illusionen, er hat nur dieselben Kräfte wie alle Folk-Music, mich hat schwarze Musik nicht mehr beeinflußt als die Beach Boys. Worum es doch geht, ist folgendes: Immer wenn ich Opern höre, immer, egal wo, muß ich an meinen Vater denken, an ein bestimmtes Gefühl, das ich als Kind hatte, wenn mein Vater Opern hörte, ein ganz bestimmtes, definiertes Gefühl. Du hast genau dieses Gefühl, genau dasselbe, aber es wird von einer anderen Sache ausgelöst. Die Aufgabe der Kunst ist es, diese beiden Gefühle zu vermitteln, deines und meines.“

    Und das ist der Punkt, wo Kunst in Religion übergeht. Wo man nicht mehr alleine für sich eine Madeleine ißt und anderen, per Kunst, nur formal, erklären kann: Dieser Keks, in Tee getaucht, löst diese und jene Erinnerung aus, meine Erinnerung, braucht euch nicht zu interessieren, meine Erinnerungen, aber es kann euch interessieren, wie das alles formal zusammenhängt, und ich untersuche es genau, und wie ich das tue, ist schön, mithin Kunst; sondern anders: Wir alle essen kollektiv eine Madeleine, eine magische Oblate, die uns alle verbindet, die in gleicher Weise unser aller Erinnerung, präzise die gleichen Gefühlswerte schafft. Das ist Religion, und ich glaube kein Wort, das ist C.G. Jung, kollektives Unbewußtes, bestenfalls Gospel. Aber wie Amerikaner immer wieder an C.G. Jung glauben, wie der Performer immer wieder zum Priester wird, das ist schön, das ist Kunst. Verstanden?

    Im Gegensatz zu anderen, denen es reicht, vage daran zu glauben, als Performer ihr tiefstes Erinnern und Fühlen mit dem tiefsten Erinnern und Fühlen ihrer Zuhörer zu verbinden, schafft sich Thomas Versuchsanordnungen, er überprüft sich. Platte für Platte wird der Komplex Intimität durch Kunst, Kommunikation von Herz zu Herz untersucht, immer anhand bestimmter gegebener Themen. Er betont, daß jedes Stück immer auf eine bestimmte Platte gehört. Und wenn es dem aufmerksamen Textleser und Zuhörer vielleicht nicht sofort auffällt, Thomas ist mit „Monster Walks The Winter Lake“ beim Zentrum des Problems angekommen: Seine neue Platte handelt, so sagt er wiederholt, von der Ehe. Die Zweisamkeit, das ideale Versuchsgebiet für Untersuchungen über die Möglichkeit archaischer Kommunikation.

    „Wenn ein Sandkorn in eine Auster gerät, entsteht eine Perle, wenn so eine Art Sandkorn in eine Ehe gerät, also zwischen die beiden Hälften, entsteht ein Monster, ein Monster, um das die Ehepartner herumkommunizieren. Sie geben nicht auf, aber sie treffen sich nur noch an der Peripherie, weil im Zentrum dieses Monster steht und wächst.“

    Andererseits ist das Monster, das über die Hälfte der LP bestimmt („Monster Walks The Winter Lake“, „Monster Makes A Joke“, „Monster Magee, King Of The Seas“ und „Monster Thinks About The Good Days“), die Figur, die auf die Fähigkeit und den Anspruch des Künstlers David Thomas am besten paßt: lustig, lächerlich, unförmig, abstrus einerseits, ernst, bewegt, bewegend, gefährlich, rührend andererseits und beides zur gleichen Zeit – was nur live klappt.

    „Klar, dieses Element gehört mit dazu so wie Frankensteins Monster, das gleichzeitig rührend und lustig ist, aber meine Platte handelt nicht von einem Monster, sie handelt von der Ehe, das ist ihr Thema.“

    Ein theoretisches Monster?

    „Nein, ein Typ, sein Name ist ‚Monster‘.“

    David Thomas rudert mit seinen Armen, der warme, großherzige, hemmungslose Performer wächst über den Tisch, seine riesigen Hände stellen irgendeinen abstrakten Zusammenhang vor, nur wenige Zentimeter vor meinen Augen. Der Zusammenhang ist befriedigend dargestellt, er rutscht wieder rüber auf seinen Sitz, fällt in sich zusammen, die Augen fallen zu, ein enger Sehschlitz öffnet sich kurz, während ich die nächste Frage formuliere. Zur „Theorie der spontanen Ähnlichkeit“, mit der er die LP eröffnet und derzufolge, „alles wie etwas ist und irgendwas wie etwas anderes“ und die er dann, während des Songs, von seinen Musikern per spontane Assoziation überprüfen läßt, um zum Schluß selbst zu sagen:

    „I am like a Red Tin Bus / Made in Taiwan / People’s faces are painted on / but they’re painted on in an alarm / People who’d see me they’d say / Man who’s that crazy bus driver / sittin in that bus driver’s seat?“

    „Ja, man könnte meinen, daß ich nach dieser Theorie arbeite, aber ich habe auch viele andere Theorien dieser Art. Es war auch ein Witz. Halb ernst, halb Witz.“

    Das mögliche Problem von David Thomas, wenn er denn eines hat, ist, daß er zwar ein Dichter ist, aber wie alle großformatigen, beleibten, extrovertierten Schauspieler abhängig von Kommunikation. Alles, was er schreibt, ist pure Lyrik, aber immer auch purer Dialog. Lyrik ohne Hermetik wird zur Komödie (in jedem Sinne des Wortes), deswegen ist er ein Spaßmacher, deswegen ist alles, was er macht, Predigt, moralische Fabel, Lehre, Unterweisung. Aber dann gleitet es immer weiter in die bizarren Gefilde eines Unterwassergeistes, und was sich für ihn wie Dialog anfühlt, ist in Wahrheit ein Monolog, der Monolog des Gedichtes. Das Monster der nicht universell verständlichen Sprache hat sich zwischen ihn und die Welt geschoben. Dichter sind allein, und Spaßmacher müssen sich immer dem Niveau der Anekdote anpassen. David Thomas ist zu ernst für die billige Befreiung durch die Pointe und zu humanistisch für die Einsamkeit des Dichters.

    Die Woodenbirds, seine Band, sind seit über zwei Monaten auf Tour, eine gewisse Katerstimmung wegen mangelnden Zuspruchs macht sich breit.

    „Was sollen wir schon anders machen, wir sind eine Folk-Band, wir machen, was wir machen müssen. Wir haben mit Kunst nichts zu tun, wir sind Folklore. Aber niemand versteht, warum eine Folk-Band einen Synthesizer hat.“

    Viele junge Leute fühlen sich heute als Folk-Band, ihr müßt nur klarer machen, daß ihr zu ihnen gehört.

    Ravenstine: „Meinst du, aber sag mir, wie!“

    Ich weiß es nicht.

    Mainmone: „Pere Ubu war doch eine sehr einflußreiche Band.“

    Ravenstine: „Sagt man, aber haben wir dafür irgendeinen Beweis?“

    David Thomas: „Pere Ubu das waren auch immer im richtigen Moment die richtigen Leute. Als Tony kam, war er genau der richtige Bassist, als Mayo Thompson viel später zu uns stieß, war er genau der richtige Gitarrist. So war das immer, deswegen waren wir so gut. Da wo wir herkommen, in Cleveland, hat man uns immer für Verrückte gehalten und tut das auch heute noch.“

    Und alles hat sich geändert und wird sich immer wieder ändern, Leute werden kommen und gehen, die Musik wird mehr oder weniger songartig, elektrisch, akkustisch, jazzig sein. Was bleiben wird, sind Ravenstines hohe Pfeiftöne und David Thomas Unterwasser-Metaphern.

  • Kunst muß nähen. Gebäude mit Schlitzen – Drei Bilder von Martin Kippenberger

    Avantgarde heute

    Viele haben lange darauf gewartet, daß er sich eines Tages beruhigen würde, daß er sich den landläufigen, biographistischen Ideen von der Künstlerseele fügen würde und einer, weit über seine greifbaren Werke hinaus, von ihm verbreiteten Unruhe, eine mindestens das greifbare Werk erfassende Reife folgen lassen werde.

    So wurde es vielfach begrüßt, als die „Häuser mit Schlitzen“, wenigstens durch den behandelten Gegenstand, die Motive, nämlich drei Bauwerke mit politischen Implikationen (‚Stammheim‘, ‚Betty-Ford-Klinik‘, ‚Jüdische Grundschule‘), der Annahme schmeichelten, Kippenberger hätte sich nun doch Anliegen gewidmet, die, wenn schon nicht auf Anhieb künstlerische Gewissenhaftigkeit, so doch eine fast schon staatsbürgerliche, mindestens aber alternative, was dasselbe ist, Bereitschaft erkennen lassen, denen ihr Spiel zu spielen. Was in diesem Falle heißt, Fragen zu stellen, die sich von selbst beantworten. Denn das tut ja in der Regel der ehemals ungestüme, reif gewordene Künstler.

    So könnte es sein, doch es ist nicht so, da es sich um Kippenberger handelt. Denn der hat z. B. gleichzeitig, unter anderem durch eine Fülle anderer Aktivitäten (Plakate für sich und andere, Kleidung, öffentliches Auftreten, Brasilienreise, Abschiedsparty, Verhalten, Bilder, Ausstellungen bei Hetzler und Klein), auch den humorlosen Zeitgenossen Scheinargumente an die Hand gegeben, die in seinem Zusammenhang vom „ewigen Provokateur“ sprechen und damit ihrer Minimaleinsicht Ausdruck verleihen, daß Provokation als einzige Legitimation von Kunst nicht die allerneueste Idee sei und auch durch Wiederholung an Effizienz verliere.

    Diese Provokationskritik trifft allerdings naturgemäß nur auf Kunst um der Provokation willen zu, nicht aber auf Provokation um der Kunst willen. Letztere ist eine Technik, die ein wenig in Vergessenheit geraten ist, weil zuviele Künstler geglaubt haben, daß sie mit der ersten identisch ist (was bei schlechten Künstlern auch tatsächlich der Fall ist), und weil zuviele Künstler, ermutigt durch Zeiten, die schwachen Charakteren hemmungslosen Narzißmus nahelegen, nicht erkennen, daß diese Provokation um der Kunst willen, die einzige Chance der Kunst ist, unter Ausnutzung der Gegenstände-über-die-alle-reden (Themen, Namen, Wortspiele) – dieses Wiedererkennen der Gegenstände-über-die-alle-reden in der Kunst ist ja das, was wir hier Provokation nennen, weil es im Allgemeinen als Provokation empfunden wird, wenn Tagespolitik und die dazugehörigen Witze in der Kunst wiederkehren – nämlich, und unter Ausnutzung der durch die künstlerische Behandlung dieser Gegenstände gewonnene Schönheit, eine Aussage zu machen (über die von allen beredeten und darum wichtigen Gegenstände, gilt auch umgekehrt), die nicht relativierbar ist. Denn Kunst ist nicht relativierbar und Aussage ist normalerweise nicht Kunst. Beides zusammen ist die Chance, den Spuk des Pluralismus – und sei es für eine Sekunde der wahren Empfindung – ein Ende zu bereiten, ein Spuk, den die Herrschenden inszenieren, um von der Tatsache abzulenken, daß es zu jedem Sachverhalt immer nur eine richtige Aussage gibt, die ihnen aber logischerweise nicht nützen kann. So ein symbolisches Ende des Pluralismus in der Kunst (gefangen in einem Gebäude, das nur Eingänge hat) leistet der heutige Kippenberger und liefert darüber hinaus im nicht-symbolischen Zusammenhang einen Baustein. Für richtiges Denken. Auch und obwohl er manchmal sich selbst nicht zu glauben scheint.

    Unnötig zu sagen, daß Kippenberger, weil es ihm gelegentlich gelingt, oft sogar, in diesem Sinne zu arbeiten, wenig geschätzt wird, von denen, die sich von einem Künstler entweder staatsbürgerliche/alternative Verantwortlichkeit wünschen; wie auch von denen, die sich künstlerisch-technische Reife wünschen, von einem älter gewordenen jungen Künstler, in den sie möglicherweise mal etwas Hoffnung (oder anderes) investiert haben, weil er ihnen aussah, wie ein junger Überzeugungstäter (Dadaist), der sich erst einmal austoben müsse; wie auch von denen, die meinen, der Provokation, auch der, um der Schönheit willen, müde zu sein, in Wirklichkeit jedoch nur erleichtert sind, daß die Müdigkeit-an-der-Provokation ihnen einen scheinmodernen Vorwand liefert, auf jedwede Avantgarde verzichten zu können. In diesem Sinne freue ich mich, Kippenberger als einen der ganz wenigen legitimen deutschen Avantgarde-Künstler der Gegenwart bezeichnen zu können.

    Humanismus heute

    Darüberhinaus ist es wichtig folgende Frage zu beantworten: Was bedeuten die auf den Bildern dargestellten Gebäude wirklich? Der Begriff Gegenstände-die-von-allen-beredet-werden trifft auf alle drei Gegenstände zu, wobei die Standard-Definition von „alle“, nämlich sämtliche Leser von „Stern“ und „Bild“, nur im Falle der Jüdischen Grundschule modifiziert werden muß, da sie nicht nur als einzelnes, in konkrete zeitgeschichtliche Gegenstände und Vorgänge verwickeltes Motiv funktioniert, sondern darüber hinaus, wenn man sie in ihre semantischen Einzelteile zerlegt, ein ganzes Kaleidoskop von Bedeutungen frei gibt. Kollektivschuld; Springers Engagement für den Staat Israel, der neben unendlich viel Waffen offensichtlich auch Volksschulen baut; die gerade jetzt wieder massiv das Irrationale streifende Antisemitismus-Diskussion, namentlich im deutschen Fernsehen; allgemeines Bildungsdelirium an allen Fronten (Schulmodelle); sowie alle um den Begriff Kibbuz wuchernden Vorstellungen von alternativ erzogener, freiwillig orangenpflückender Pfadfinderbrut incl. den dazugehörigen, bereitwillig gegen Kost und Logis mithelfenden minderjährigen deutschen Vergangenheitsbewältigern.

    An ‚Stammheim‘ und ‚Betty-Ford-Klinik‘ kann man des Künstlers Gelassenheit erkennen und bewundern, der sich bei der Auswahl seiner Gegenstände eben nicht allein davon leiten läßt, was gerade in der für jeden Wachen attraktiven Sonne der Tagesaktualität schimmert. Stattdessen läßt er die gerade vergessenen (Stammheim war zum Zeitpunkt der Ausstellung noch vergessen), aber noch von alter Aktualität (also noch nicht historisch gewordenen), schorfgleich verkrusteten Gegenstände reifen, bis sie nur noch, einen geheimen Eingang haben, der ihm allein zugänglich ist, ihm die Gelegenheit gibt, auf seine Art von den Gegenständen Besitz zu ergreifen.

    In diesem Falle hat Kippenberger aber nicht nur auf diese Weise über die Gegenstände Macht gewonnen und sich schließlich in die Lage versetzt, über diese Gegenstände Aussagen zu machen, die nicht relativierbar sind, sondern er hat seine Methode der Machtübernahme über Gegenstände zusätzlich selber zum Gegenstand gemacht. Das tat er, indem er sich Stellen suchte, wo die Zeit und ihre Geschichte, sich in Gebäude verkrochen haben – nicht die Gebäude an sich machen etwas sichtbar, wie eine oberflächliche Interpretation meinen könnte; es steckt wer (oder was) in ihnen drinnen: Terroristen, Judenkinder, und prominente Alkoholiker und was sich logischerweise (nach der Logik der spätkapitalistischen Öffentlichkeit) um diese an Blendwerk rankt –, Gebäude darüber hinaus, die auf eine so platt-metaphorische Weise Kippenbergers Aneignungsstrategien ähneln, wie es sie nur dreimal gibt, mit einem Eingang, morphologisch: mit Schlitzen.

    Auf einer vordergründigen Ebene, die gleichwohl nicht zu verachten ist, denn es gibt bei Kippenberger immer eine vordergründige Ebene, die nicht zu verachten ist, im Leben wie im Werk, geben diese Bilder eine Antwort auf die Frage, die der Künstler mit seinem Ausstellungstitel „Was ist Ihre Lieblingsminderheit?“ stellte. Terroristen, prominente Alkoholiker und Judenkinder sind Kippenbergers Lieblingsminderheit. Nicht etwa, weil er den Terror liebt, der zur Schönheit führt, den Alkoholismus, wenn er die Prominenz heimsucht und die Judenkinder, weil sie als Kindheitsidentifikationsfiguren aus jeder Nachkriegskindheit eines jeden moralisch empfindenden Menschen nachklingen; diese Minderheiten sind darüber hinaus auf schön idiotische Art keine Minderheiten im Sinne des idiotischen Begriffs, der sich emanzipatorisch geriert und in Wirklichkeit nur zur totalen Spaltung jeder emanzipatorischen Bewegung geführt hat, weswegen er auch in linksliberalen Kreisen so beliebt ist.

    Deswegen, weil sie den Minderheitenbegriff fertig machen, werden diese Leute ja auch eingesperrt, was ihnen, unabhängig davon, ob sie vielleicht wirklich etwas falsch gemacht haben, wirklich noch etwas zu lernen haben oder wirklich noch etwas sich abzugewöhnen haben, einen heroischen Charakter verleiht. Dieses Heroische liegt aber außerhalb ihres verantwortlichen Handelns, außerhalb ihrer in den Medien gespiegelten irrealen Existenz; es liegt vielmehr darin, daß sie als Wirklichkeit, vielfach verrammelt und gesichert, bei nur einem Eingang, festgehalten werden, von einem Geflecht von Blendwerk und Sicherungen, jetzt wiedergefunden worden sind von der Kunst. Und das kann man sehen. Daß hinter einem symbolisch vollgepackten, verzurrten Paket von schwiemeligen Bedeutungen reales Leben west – das ist die humanistische Botschaft der Kippenberger-Kunst.

    Freilich hat diese Kunst das Leben als Gefangene der Bewußtseinsvernebelungen durch pluralistische Gefängnisse nicht allein durch ästhetische Maßnahmen befreien können, aber in diesem Fall hat Kippenberger eine grundsätzliche Allegorie über das Verhältnis der Kunst zum Leben als politischer Wirklichkeit geschaffen. Die Kunst kann allenfalls die symbolischen Gefängnisse darstellen, ihre strukturellen Gemeinsamkeiten (Schlitze) offenlegen, die Wirklichkeit und Leben vom Darüberreden, das Leben vom Diskurs abschneiden. Hier muß Kunst nähen.

    Realismus heute

    Daß Kippenberger das Hochsymbolische, Vielberedete, durch Mythisierung besonders unwirklich gewordene wählt, um die Wirklichkeit freizuschaufeln, haben wir gesehen. Wir stellen gerade in diesem Zusammenhang die Frage: Warum vertraut Kippenberger eher auf das gesprochene denn auf das geschriebene Wort?

    Kippenberger regelt seine Beziehung zum Diskursiven unter völliger Umgehung der Schrift. Selbst ins Bild geschriebene Sätze wurden von ihm bald auf Initialen verkürzt und der einzige Schriftsteller, den er schätzt, ist meines Wissens Peter Altenberg, aber wohl auch eher aus Zufall. Aus Zufall auch haßt er die Briefe Garcia Lorcas an Salvador Dali. Daß die Schrift etwas verraten könnte, was von seinem im Laufe der Zeit von ihm und für ihn genauestens ausgetüftelten Weg zur Wirklichkeit und zum Wissen, ist nicht seine Befürchtung, eher, daß sie auf zu wohlfeile Art ablenken könnte von dem, was wir provokativ genannt haben, also das Wiedererkennen von den Gegenständen-über-die-alle-reden. Denn dieses Reden geschieht ja in erster Linie schriftlich und daher ist jede Schrift Verwandter des Materials seiner Kunst im Rohzustand, also immer amorphes Leben, Gewese, das nach Form schreit, nach Bearbeitung, das zur Schönheit hingeführt werden will, niemals auf Anhieb schön sein kann. Deswegen mag Kippenberger keine Literatur, keine bürgerliche Bildung und liest nicht. Außer Wolfgang Bauer und den läßt er sich auch lieber vorlesen.

    Trotzdem hat Kippenberger der Literatur, da sie ja nun einmal eine Methode ist, der nachgesagt wird, zu ähnlichen Resultaten wie seine Kunst zu kommen, eine Chance gegeben. In dem Band „1984 – wie es wirklich war am Beispiel Knokke“ hat er eine ganz typische Form der Wahrheitsfindung auf die Literatur übertragen. Ein Buch, das sagen soll, wie es wirklich war und das ihn, Kippenberger, als Autor ausweist, läßt den Leser einen Text erwarten, der Kippenberger an weitest vorgerückter Stelle im Ringen um die Realität zeigt, ein Subjekt in größtmöglicher Nähe zum Objekt. Da er aber weiß, daß in einer Kunst, in der man noch nicht so zuhause ist, wie er in der bildenden, man sich als Anfänger meist erst um die Stärken und Vorzüge der eigenen Subjektivität betrügt, zugunsten von allerlei Flirts mit dem künstlerischen Material, hat er eine andere Person beauftragt diesen Text als Kippenberger zu schreiben (Annette Grotkasten), um den Wirklichkeitsgrad der Darstellung der Beziehung Kippenberger-Knokke zu erhöhen. Ähnlich ist er früher ja auch bei seinen Bildern vorgegangen. Was wir daran sehen können, ist, daß Kippenberger nicht nur ein Avantgarde-Künstler ist, sondern auch ein Künstler, dem es eingestandenermaßen um die objektive Darstellung der Wirklichkeit geht. Und der avantgardistische Techniken als notwendig ansieht, um die eingemauerte Wirklichkeit rechtmäßig freizustellen. Eine vor allen postmodernen Vernebelungstechniken selbstverständliche Haltung, um deren Wiederbelebung er sich ständig verdient macht.

    Essen, Trinken und Architektur

    Unsere nächste Frage an das vorliegende Werk bezieht sich auf folgende Bemerkung von Peter Paul Rubens, die wir neulich in einem englischsprachigen Werk fanden. Sie lautet: „The chief cause of the difference between the ancients and the men of our age is our laziness and life without exercise: always eating, drinking and no care to exercise our bodies. Therefore our lower bellies, ever filled by ceaseless voracity, bulge but overloaded, our legs are nerveless,and our arms show the signs of idleness. In antiquity on the contrary, all men exercised their bodies every day in the palaestra and the gymnasium – to say the truth even too strenously – ’til they perspired and were thoroughly fatigued.“

    Welche Rolle spielen Essen und Trinken in Kippenbergers Werk, in seinem Leben, in seinem Metaphern-Schatzkasten?

    Daß Abstrakta, Thesen von Kippenberger, aber auch Verarbeitungen von Gegenständen, über die alle reden, gerne in Nahrungsmetaphern auftauchen, ist eine Beobachtung, die jeder macht, der versucht sich Kippenbergers Idiosynkrasien zu nähern, neben der Beobachtung, daß er gut tanzen kann, ist dies die häufigste in diesem Zusammenhang. Wer sich näher mit ihm beschäftigt, wird darüberhinaus finden, daß Kippenberger italienische Teigwaren über jede andere Nahrung stellt: sie ist ihm einerseits unbegrenzter Speicher metaphorischer Schönheit, immer perfekt, als „Sozial-Pasta“ z. B., das Gute wie das Widerliche in die Kunst zu befördern, andererseits ißt er die Nudeln wirklich gerne, womit bewiesen wäre, daß Kippenberger kein kritischer Künstler im alten Sinne ist, keiner der gegen eine verabscheuungswürdige Welt kämpft, wie die Bezeichnung avantgardistischer Humanist ausgelegt werden könnte. Kippenberger liebt das Material, das Gerede, das Gedenke, dem er durch seine Aussagen einen zeitweiligen Garaus macht, er ist ausgesprochen fröhlich beim Zerstören, ein glücklicher Revolutionär ohne Selbstmitleid und schlechte Haut, er ißt die Nudeln wirklich gerne. Und spült sie mit irgendwas herunter.

    Zu Rubens können wir also sagen: Der Unterschied der großen Künstler heute zu Euch ist, daß sie den Geist der Übung, des corpore sana, der Disziplin in ihre Ess- und Trinkgewohnheiten übernommen haben, die Antike und das Barock versöhnt haben, um so das schlechte Gewissen abzuschaffen. Sie saufen und fressen wie zu Rubens’ Zeiten, aber sie schaffen sich das schlechte Gewissen durch eine Reihe von Ritualen, Disziplinierungen und durch den Transfer aller häßlichen Angewohnheiten in Form von Themen in ihre Kunst, vom Hals. Als Extraleistung schafft es Kippenberger so die Häßlichkeit der Künstlerrolle, aller, insbesondere aber dieser, so besonders hedonistischen Epoche zu karikieren und solidarisch zu denunzieren.

    In den dargestellten Gebäuden wird die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme aufs Schärfste reglementiert, sie sind eigentlich nur erbaut worden, um das natürliche, ungezwungene und durch allerlei willkürliche, selbstgewählte Rituale verschönte Essen und Trinken, durch fremdbestimmte Regeln zu erniedrigen, herabzusetzen, um damit also in Kippenbergers Verständnis den Urgrund von Kunst (Nudelnessen) zu vergiften, künstlerische Selbstverwirklichung in statu nascendi zu unterbinden. Dies ist die unreflektiert-menschliche Seite, die immer wieder Kippenberger-Bilder hervorgebracht hat, der simple, plumpe Aufschrei: „Bitte nicht nach Hause schicken!“

    Ähnlich wie bei Büttner, Kippenbergers Freund, der einst das Bild „Laßt mich nur hier liegen“ malte, eine zutiefst rührende Studie über Selbstmitleid, gibt es auch in allen Kippenberger-Bildern die Ebene, wo man sie als puren Sozialkitsch genießen kann, eine Empfindlichkeit, der er sich nicht schämt und die dafür sorgt, daß neben aller künstlerischer Weltaneignung, allen Werken noch ein Energie- und Empfindsamkeitsreservoir zu eigen ist, das uns auf sentimentale Reisen schicken will. Aber warum will das Kind, der Künstler nicht nach Hause?

    In diesem Sinne spielte auch die Architektur als Symbolspeicher in seiner Kindheit eine nicht zu unterschätzende. Rolle. Immer, wenn seine Eltern einen Ehekrach hatten, trugen sie ihn durch kleine architektonische Aktionen aus: Schmollte die Mutter, baute sie eine kleine Laube im hinteren Garten, in die sie sich zurückzog; der Vater pflegt zu reagieren, indem er ein Holzhaus in den vorderen Garten stellte, daneben ein Schild: „Vater’s Ruh“, Häuser mit Schlitzen.

  • „Verzeihung, das ist schon der Ausgleich“. Über die neue Unübersichtlichkeit im deutschen Fußball

    Das Denken über Fußball läßt sich in drei Epochen gliedern. Für die Frühphase, den Enthusiasmus, die Vom-Ghetto-zur-Lotto-Annahmestelle-Philosophie, die fast knielangen Hosen, steht Sammy Drechsels Roman „Elf Freunde müßt ihr sein“. In dieser Welt ist Fußball Ausdruck von etwas. Eine Art Volkskunst, die unmittelbar und unbeholfen, aber reizend authentisch artikuliert, was das Volk aufrührt und umrührt, im Guten wie im Bösen. Das Personal dieser Zeit sind Sepp Herberger und Fritz Walter; denn nicht nur Filmleute, Richter und Wirtschaftskapitäne wurden nach dem Kriege nicht ausgewechselt, auch der Fußball hatte seine Kontinuität. Am Ende dieser Ära spaltet sich das Bewußtsein des Balles. Das stürmische, schnoddrig-kameradschaftliche, kryptoschwul-kryptofaschistisch, SA-hafte des deutschen Fußballs verschwindet, aber der Diskurs, den es produziert hatte, bleibt erhalten.

    Für die Ära Schön steht das Buch „Der Ball ist rund“ von Ror Wolf. Die hierin aufgenommenen Zitate, Sonette, Reportagen etc. machen klar, daß Sätze wie „Der Bessere soll gewinnen“, „Die Mannschaft starb in Schönheit“, „Der Uwe hat wunderbar gekämpft“ etc., die weiterhin das moralische Gerüst der Spielreportage abgeben, nicht mehr geglaubt werden, außer von Rudi Michel. Was wirklich geglaubt wird, sind die verklärten spät-buddhistischen Herberger-Weisheiten, die dieser formulierte, bevor er ins Nirvana einging. Ich will sie nicht wiederholen, jeder kennt sie und sie stehen hinter all den Pseudo-SA-Kampfparolen sozusagen als kollektiver Seufzer, als barocker Weltzweifel, als resignierter Fatalismus, der natürlich gerade in einer Zeit aufkommen mußte, als alles so wunderbar klappte im deutschen Fußball, als die deutschen Spieler mit Kampf und Technik Erfolge erzielten. So eine Euphorie hat ja immer ihre Dialektik, ihren Schatten, der, hier die Nichtigkeit menschlichen Strebens, Vanitas und dergleichen, natürlich gerade im Moment vollendet sinnvollen Erfolges, gerade im Moment des Sieges der Gerechtigkeit aufkommen mußte. Denn, der gerechte Erfolg (72, 74) ist nicht erlaubt im Fußball, nicht wirklich erlaubt, er war der Ausgangspunkt des archaischen SA-Fußball-Denkens. Aber mit den Jahren wurden natürlich jedem klar, daß die sittlich-moralische Botschaft des Fußballs die ist, zu erklären, daß es in der Welt prinzipiell ungerecht, zufällig und falsch zugeht und daß jedes Menschenleben nach 90 Minuten zuende ist. Fußball ist eine Erfindung von Albert Camus, der Mythos von Sisyphos ist der Regelfall: „90 Minuten überlegen gespielt und dann dieses dumme Tor!“

    Und als es dann für die Deutschen gerecht zuging, spürte das Volksempfinden im Reportermund, daß etwas nicht mit rechten Dingen zuging und verfiel der bei Deutschen schon immer populären Mischung aus Buddhismus und Existenzialismus. Es ist ja kein Wunder, daß als die wahre Glanzzeit des deutschen Fußballs der Schön-Ära nicht die Jahre der ungeteilten, gerecht erspielten Erfolge gelten, also EM 72, WM 74, EM 76, sondern die Ära der Schiedsrichterschweinereien, dummen Tore, italienischen Fouls, also die WM 66 und WM 70 und als das eherne Mahnmal für die Gefährlichkeit des kleinen Gegners das 0:0 gegen Albanien anno 68, nicht die folgenden Blamagen gegen Marokko, Algerien and the likes.

    Heute sind wir an einem Punkt angekommen, wo die Graumäusigkeit und Durchschnittlichkeit des deutschen Fußballs alles, was darüber gesprochen wird, zur völligen Referenzlosigkeit verurteilt. Da es aller Welt egal ist, wie die Mannschaft spielt, kann man weder wegen ihrer Erfolge an die Vergänglichkeit fußballerischer Schönheit weltschmerzlich erinnert werden, noch kriegt man die Katharsis ab, weil sie von Schiedsrichtern, Ausländern oder blöden Zufällen betrogen werden könnten, noch kann man auf irgendeinen sauer sein, weil sie seit entsetzlich vielen Jahren unsäglichen Leids zu allem Überfluß immer noch „gute Ansätze“ zeigen. Da aber dennoch aus leicht einsehbaren Notwendigkeiten über Fußball gesprochen werden muß, gibt es seit ein paar Jahren dieses Sprechen über Fußball, das so vollkommen verlogen, nein eben noch viel mehr als verlogen ist: Weder verweist es auf eine Realität (etwa die des vor allen Augen ablaufenden Spiels), noch auf einen zwar ungültig gewordenen, aber immerhin als Erinnerung an vergangene Zeiten verständlichen anderen Diskurs (also man kann auch nicht mehr sagen: der Reporter redet ja gar nicht von diesem Spiel, der redet ja von einem anderen Spiel. Nein, er redet von überhaupt keinem Spiel, er redet, weil ihn seine Hämorrhoiden zwicken, also redet er auch davon, oder?) noch verweist es auf irgendeinen Grund, warum gelogen wird, denn es wird ja nicht aus Interesse gelogen, um etwas zu verheimlichen oder etwas manipulativ durchzusetzen.

    Wer es nicht glaubt, braucht nur einmal statistisch zu ermitteln, wie oft Reporter heutzutage einfach aus geistiger Absenz noch das Allerfaktischste dessen, worüber sie vorgeben zu berichten, durcheinander kriegen. Wie oft sie nicht einmal wissen, wie das Spiel steht: „Das ist der psychologisch wichtige Anschlußtreffer zu 1:2.“ Zweite Stimme (leise). „2:2“ Erste Stimme: „Verzeihung, das ist sogar schon der Ausgleich, der verdiente Ausgleich möchte man sagen, wenn man berücksichtigt …“

    Dies passiert ständig, und im gleichen Zug verlangt die offizielle Sportreporterkritik immer lauter nach enthusiastischen Reportern, als wäre die Leere des Diskurs durch die Lautstärke und Emotionalität eines Dieter Kürten aufzufüllen. Über nichts kann sich niemand aufregen. Horror vacui, kann ich da nur sagen, aber was Mexiko betrifft, verläßt man sich auf den Genius loci. Schließlich ist die deutsche Mannschaft hier schon einmal ganz fantastisch betrogen worden.

  • E=mc2

    Zeit was ist das eigentlich? Zeiten – ändern sie sich eigentlich? Ist die Frage so überhaupt erlaubt? Kehrt das Immergleiche getreulich immer wieder oder wiederholt sich die Geschichte nur einmal und dann als Farce?

    Daß die Zeiten sich änderten, dachte ich, als ich hörte, daß Simone de Beauvoir gestorben ist, und mir auffiel, wie lange es her ist, daß ich den früher für jedes sogenannte gute Gespräch unabdingbaren Satz gehört hatte: Wir wollen leben wie Sartre und Beauvoir. Heute will wohl kein Paar mehr so leben, daß beide sich austoben, aber oft zum Anhören klassischer Musik zusammenkommen, was angeblich haltbarer und wertvoller ist als jede sexuelle Beziehung. Besonders die Matthäus-Passion.

    Jeder kennt sicher die Angst, daß sich die Zeiten nicht ändern. Schließlich müssen wir alle sterben und wer hat nicht einen Horror vor der Vorstellung, daß sich die Zeiten die ganze Geschichte über ständig verteufelt geändert haben und ausgerechnet zu unseren Lebzeiten die Geschichte eine Pause macht. Ist es nicht nur so zu erklären, daß es neuerdings Philosophen gibt, die die Geschichte leugnen?

    Daß keiner mehr leben will wie Sartre und Beauvoir gab mir die Hoffnung ein, daß eben doch Zeiten sich ändern, jenseits der verzweifelt herbeigesehnten und herbeigewünschten Zeitlichkeit derer, die unter hörbaren Gehirnknirschen einem vermeintlichen Geist der Zeiten dienen. (Hier fehlt ein obligatorisches Faust-Zitat!) Dann sah ich in einer Ausgabe der „Zeit“, daß der Suhrkamp-Verlag sich traut eine neue Goldene-Worte-von-Herrmann-Hesse-Sammlung anzubieten, nunmehr statt des einbändig bescheidenen goldenen Breviers der Pubertät „Lektüre für Minuten“ eine protzige fünfbändige Ausgabe! Daraus schließen wir, daß die Nachfrage nach Hesse nicht gesunken ist und Pubertäten, im Gegensatz zu Paarbeziehungen von Twens, immer noch nach den gleichen Gesetzen verlaufen wie schon zur Zeit der Währungsreform. Die Zeiten ändern sich also nicht. Sie nehmen nur zu, sie werden dick und dicht, sie sind aus Milch und verhalten sich entsprechend der Chemie der Milch. Was schon Paul Celan ahnte, aber nicht genau wußte, denn er war ein Dichter und er liebte das Ungefähre (um Rilke einmal gegen den Strich, nämlich falsch zu zitieren). Die Zeit ist ein Käse, aber die „Zeit“ aus Hamburg ist mittlerweile so verschimmelt wie ein guter Roquefort und ich muß zugeben, daß sie mir Spaß macht, seit ein paar Monaten. Wie sie jetzt entdeckt haben, daß man Freud als Dichter und nicht als Wissenschaftler zu verstehen hat. Eine Entdeckung, die alle anderen vor 15 Jahren gemacht haben. Wie sie in aller Offenheit Hilflosigkeit eingestehen, indem sie per Annonce einen jungen Menschen suchen, der sich mit Pop, Rock, Jazz und so auskennt! Zu nett.

    Ich weiß jedenfalls, daß es Geschichte gibt. Ramón del Valle-Inclán hat es mir gesagt. Der ist vor 50 Jahren gestorben und war Bolschewik und Aristokrat. Logischerweise, denn Kommunismus ist nichts anderes als Aristokratie für alle und Aufgabe des Dichters ist es stets das Endergebnis seiner Bemühungen (als Bolschewik wie als Dichter) schon zu Lebzeiten in sich zu tragen. So gesehen braucht er weder vor dem Tod noch vor der Kefirwerdung der Zeiten Angst zu haben. Was auch Juhnke ahnt, wenn er Kefir trinkt. Auch ein Dichter, der das Ungefähre haßt.