„Junge Leute sind sehr konservativ, solange sie unter 25 sind, wollen sie immer das gleiche hören“, sagt David Thomas. Und ich gebe ihm recht, heutzutage jedenfalls nimmt der Jugendliche Reißaus, wenn Musik auch nur am Rande die Konventionen der europäischen Funktionsharmonik antastet.
Was bleibt von einer Band, die mehr als einmal die beste der Welt genannt wurde (Pere Ubu)? Hohe Pfeiftöne und Unterwasserszenen?
Aber damals, fahre ich fort, als ich so richtig jung war, da riß man sich doch um Lärm und Ausgeflipptes, man verehrte schließlich Captain Beefheart.
„Aber das Ausgeflippte war eben auch nur eine Konvention. Captain Beefheart ist zufällig von Wert, aber als ausgeflippt ging eben auch viel Scheiße durch.“
David Thomas hat für sein fünftes Solo-Album auf bewährte Mitstreiter aus alten Pere-Ubu-Tagen zurückgegriffen. Allen Ravenstine, der die unerhört hohen Pfeifsounds schon auf den ersten Ubu-LPs veranstaltete, ist, stoisch wie eh und je, zurückgekehrt, ebenso wie der strahlend blauäugige Tony Maimone am Baß, und mit den beiden diverse Ubu-Klassiker zur Auflockerung des möglicherweise allzu eigenartigen Thomas-Solo-Programms. David Thomas ist heute ein Begriff allenfalls für eine verschwindend kleine Minderheit der älteren Generation, und warum auch nicht, New Wave ist heute so alt, daß seine alten Helden zwar noch nicht wie die ganz alten Helden der Velvet-Epoche den Sprung zum Klassiker schafften, aber alt genug sind, daß sie erst einmal ein entbehrungsreiches Dasein als marginale Quasi-Free-Jazz-Figuren führen. Das ist ein Stadium, durch das man durch muß, bevor man zum Klassiker erhoben wird. John Cale hat auch jahrelang Scheiße gefressen, bevor er eines Tages aufwachte und alle von ihm beeinflußt waren.
Die David-Thomas-Solo-Alben waren nun allerdings wirklich alles andere als zugänglich. Die starke Bedeutung des Textes verhindert, daß die äußerst eigenartig instrumentierte Musik Eigenleben gewinnt, die glucksend-säuselnd-untermalende Musik verhindert, daß die Texte als etwas anderes als delirierender Surrealismus wahrgenommen werden, wo sie doch, wie auch zu Ubu-Zeiten, rührende, hochmoralische Fabeln, Abhandlungen, Lehrstücke über zeitlos Menschliches sind, verpackt in die altbekannten Lieblingsmetaphern des David Thomas: endlose Unterwasserszenen, Meerestiere, zugefrorene, erstarrte Breughel-Winterlandschaften, bekannt als UNICEF-Weihnachtskarten, die Alternative zu den Mundmalereien. Immer wieder Winter, immer wieder weites zugefrorenes Land, John Fords Amerika in der Spätphase, etwa im Wiedergutmachungswestern „Cheyenne“:
„Da, wo ich herkomme, ist das Klima sehr extrem, heiße Sommer und kalte Winter. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich den Winter liebe. Jeder hat so ein Zuhause, einen Platz, wo er hingehört. Das muß nicht notwendig der Ort sein, wo man geboren und aufgewachsen ist, aber es gibt immer einen Ort, einen ganz bestimmten Ort, wo man sich zu Hause fühlt, das sind bei mir diese Winterlandschaften. Dann sind Jahreszeiten natürlich immer nur deswegen interessant, weil sie andere Jahreszeiten ablösen. Der Winter ist gut, weil er den Herbst ablöst.“
Der Vorteil der mit alten Ubu-Freunden aufgefrischten Live-Band besteht nicht zuletzt darin, daß rund um David Thomas extrem entfaltete Persönlichkeit wieder ein Rahmen entsteht, eine klare Landschaft, gegen die sich die Urszenen und Dramen, die er erzählt, vorspielt, singt, konturiert abzeichnen. Die oft richtig jazzige, kleine Combo verkleinert die Willkürlichkeiten, die Eigengesetze, die großen Brüche in der Geschichte des David Thomas, den die zufällig gewählte musikalische Form nicht interessiert. Ihn interessiert es, bewegend und lustig zugleich zu sein, archaische Reaktionen.
„Denn so sind die Menschen, oder? Bewegend und lächerlich, und Kunst sollte sein wie die Menschen, jedenfalls das, was wir machen. Eigentlich ist das keine Kunst, sondern Folk-Music. Pere Ubu war eine Folk-Band. Ich habe das immer wieder gesagt, aber die Leute haben mich nicht verstanden. Worum es in der Musik doch geht, ist Kommunikation von Herz zu Herz, Intimität, alles, was davon ablenkt, sollte man aufgeben. Und das ist Folk-Music.“
Für mich ist genau das Blues bzw. schwarze Musik im allgemeinen, die Rettung der archaischen Kommunikation, natürlich da entstanden, wo Kommunikation am frühesten zu einem Gegenstand der McLuhantums wurde, wo sie am schnellsten, modernsten und nötigsten wurde. Der zivilisationsmüde Europäer wird zum Eremit, der zivilisationsmüde Amerikaner versucht die archaische Kommunikation zu retten. Wells-Fargos Pony Express. Die Kommunikation des Herzens. Das Herz ist ein Muskel, der nichts weiß, aber er garantiert Authentizität, weil er schlagen muß, man kann ihn nicht aus ästhetischen Gründen unterbrechen. Dazu ist es ein einsamer Jäger, begraben an der Biegung des Flusses.
„Der Blues ist keine heilige Kuh, Blues ist vor allem auch viel sexistischer Unsinn, Backdoor-Men-Musik, Lüge, Illusionen, er hat nur dieselben Kräfte wie alle Folk-Music, mich hat schwarze Musik nicht mehr beeinflußt als die Beach Boys. Worum es doch geht, ist folgendes: Immer wenn ich Opern höre, immer, egal wo, muß ich an meinen Vater denken, an ein bestimmtes Gefühl, das ich als Kind hatte, wenn mein Vater Opern hörte, ein ganz bestimmtes, definiertes Gefühl. Du hast genau dieses Gefühl, genau dasselbe, aber es wird von einer anderen Sache ausgelöst. Die Aufgabe der Kunst ist es, diese beiden Gefühle zu vermitteln, deines und meines.“
Und das ist der Punkt, wo Kunst in Religion übergeht. Wo man nicht mehr alleine für sich eine Madeleine ißt und anderen, per Kunst, nur formal, erklären kann: Dieser Keks, in Tee getaucht, löst diese und jene Erinnerung aus, meine Erinnerung, braucht euch nicht zu interessieren, meine Erinnerungen, aber es kann euch interessieren, wie das alles formal zusammenhängt, und ich untersuche es genau, und wie ich das tue, ist schön, mithin Kunst; sondern anders: Wir alle essen kollektiv eine Madeleine, eine magische Oblate, die uns alle verbindet, die in gleicher Weise unser aller Erinnerung, präzise die gleichen Gefühlswerte schafft. Das ist Religion, und ich glaube kein Wort, das ist C.G. Jung, kollektives Unbewußtes, bestenfalls Gospel. Aber wie Amerikaner immer wieder an C.G. Jung glauben, wie der Performer immer wieder zum Priester wird, das ist schön, das ist Kunst. Verstanden?
Im Gegensatz zu anderen, denen es reicht, vage daran zu glauben, als Performer ihr tiefstes Erinnern und Fühlen mit dem tiefsten Erinnern und Fühlen ihrer Zuhörer zu verbinden, schafft sich Thomas Versuchsanordnungen, er überprüft sich. Platte für Platte wird der Komplex Intimität durch Kunst, Kommunikation von Herz zu Herz untersucht, immer anhand bestimmter gegebener Themen. Er betont, daß jedes Stück immer auf eine bestimmte Platte gehört. Und wenn es dem aufmerksamen Textleser und Zuhörer vielleicht nicht sofort auffällt, Thomas ist mit „Monster Walks The Winter Lake“ beim Zentrum des Problems angekommen: Seine neue Platte handelt, so sagt er wiederholt, von der Ehe. Die Zweisamkeit, das ideale Versuchsgebiet für Untersuchungen über die Möglichkeit archaischer Kommunikation.
„Wenn ein Sandkorn in eine Auster gerät, entsteht eine Perle, wenn so eine Art Sandkorn in eine Ehe gerät, also zwischen die beiden Hälften, entsteht ein Monster, ein Monster, um das die Ehepartner herumkommunizieren. Sie geben nicht auf, aber sie treffen sich nur noch an der Peripherie, weil im Zentrum dieses Monster steht und wächst.“
Andererseits ist das Monster, das über die Hälfte der LP bestimmt („Monster Walks The Winter Lake“, „Monster Makes A Joke“, „Monster Magee, King Of The Seas“ und „Monster Thinks About The Good Days“), die Figur, die auf die Fähigkeit und den Anspruch des Künstlers David Thomas am besten paßt: lustig, lächerlich, unförmig, abstrus einerseits, ernst, bewegt, bewegend, gefährlich, rührend andererseits und beides zur gleichen Zeit – was nur live klappt.
„Klar, dieses Element gehört mit dazu so wie Frankensteins Monster, das gleichzeitig rührend und lustig ist, aber meine Platte handelt nicht von einem Monster, sie handelt von der Ehe, das ist ihr Thema.“
Ein theoretisches Monster?
„Nein, ein Typ, sein Name ist ‚Monster‘.“
David Thomas rudert mit seinen Armen, der warme, großherzige, hemmungslose Performer wächst über den Tisch, seine riesigen Hände stellen irgendeinen abstrakten Zusammenhang vor, nur wenige Zentimeter vor meinen Augen. Der Zusammenhang ist befriedigend dargestellt, er rutscht wieder rüber auf seinen Sitz, fällt in sich zusammen, die Augen fallen zu, ein enger Sehschlitz öffnet sich kurz, während ich die nächste Frage formuliere. Zur „Theorie der spontanen Ähnlichkeit“, mit der er die LP eröffnet und derzufolge, „alles wie etwas ist und irgendwas wie etwas anderes“ und die er dann, während des Songs, von seinen Musikern per spontane Assoziation überprüfen läßt, um zum Schluß selbst zu sagen:
„I am like a Red Tin Bus / Made in Taiwan / People’s faces are painted on / but they’re painted on in an alarm / People who’d see me they’d say / Man who’s that crazy bus driver / sittin in that bus driver’s seat?“
„Ja, man könnte meinen, daß ich nach dieser Theorie arbeite, aber ich habe auch viele andere Theorien dieser Art. Es war auch ein Witz. Halb ernst, halb Witz.“
Das mögliche Problem von David Thomas, wenn er denn eines hat, ist, daß er zwar ein Dichter ist, aber wie alle großformatigen, beleibten, extrovertierten Schauspieler abhängig von Kommunikation. Alles, was er schreibt, ist pure Lyrik, aber immer auch purer Dialog. Lyrik ohne Hermetik wird zur Komödie (in jedem Sinne des Wortes), deswegen ist er ein Spaßmacher, deswegen ist alles, was er macht, Predigt, moralische Fabel, Lehre, Unterweisung. Aber dann gleitet es immer weiter in die bizarren Gefilde eines Unterwassergeistes, und was sich für ihn wie Dialog anfühlt, ist in Wahrheit ein Monolog, der Monolog des Gedichtes. Das Monster der nicht universell verständlichen Sprache hat sich zwischen ihn und die Welt geschoben. Dichter sind allein, und Spaßmacher müssen sich immer dem Niveau der Anekdote anpassen. David Thomas ist zu ernst für die billige Befreiung durch die Pointe und zu humanistisch für die Einsamkeit des Dichters.
Die Woodenbirds, seine Band, sind seit über zwei Monaten auf Tour, eine gewisse Katerstimmung wegen mangelnden Zuspruchs macht sich breit.
„Was sollen wir schon anders machen, wir sind eine Folk-Band, wir machen, was wir machen müssen. Wir haben mit Kunst nichts zu tun, wir sind Folklore. Aber niemand versteht, warum eine Folk-Band einen Synthesizer hat.“
Viele junge Leute fühlen sich heute als Folk-Band, ihr müßt nur klarer machen, daß ihr zu ihnen gehört.
Ravenstine: „Meinst du, aber sag mir, wie!“
Ich weiß es nicht.
Mainmone: „Pere Ubu war doch eine sehr einflußreiche Band.“
Ravenstine: „Sagt man, aber haben wir dafür irgendeinen Beweis?“
David Thomas: „Pere Ubu das waren auch immer im richtigen Moment die richtigen Leute. Als Tony kam, war er genau der richtige Bassist, als Mayo Thompson viel später zu uns stieß, war er genau der richtige Gitarrist. So war das immer, deswegen waren wir so gut. Da wo wir herkommen, in Cleveland, hat man uns immer für Verrückte gehalten und tut das auch heute noch.“
Und alles hat sich geändert und wird sich immer wieder ändern, Leute werden kommen und gehen, die Musik wird mehr oder weniger songartig, elektrisch, akkustisch, jazzig sein. Was bleiben wird, sind Ravenstines hohe Pfeiftöne und David Thomas Unterwasser-Metaphern.


