Autor: admin

  • Gisela Weilemann, Helmer v. Lützelburg, Dominik Graf, Johann Schmid, Wolfgang Büld: Neonstadt

    Daß ein Episodenfilm Münchner Filmhochschulabsolventen, der zudem Neon(urgh!)stadt heißt, mit grauslichen intellektfeindlichen Sprüchen für ein pseudodekadentes Publikum wirbt, und – Gipfel der Marketingpeinlichkeiten – ein koksschnüffelndes Mädel auf dem Plakat präsentiert, so ganz anders ist, nämlich gut, kann uns, mit Vorurteilen à la „Südlich von Hamburg beginnt der Balkan“ (Helmut Schmidt) belastete Hamburger, nur erstaunen.

    Schon der Vorspann, der auch später zwischen den einzelnen Episoden fortgesetzt wird, zeigt, wie ernst und unprätentiös Pop im Kino sein kann. Die mit geringen Mitteln gedrehte Folge von Spots, in denen ein ums andere Mal einer der Filmdarsteller in einer grotesken Frustsituation den Kehrreim von „Paul ist tot“ singt: „Was ich haben will, das krieg ich nicht / und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht“, ist als deutsches Musical optimal. Der Fehlfarben-Satz überschreitet darüber hinaus die spezifische Ratinger-Hof-Schwebel/Hein-Mythologie und sagt Allgemeines über unsere Generation von fetten Kindern.

    In Gisela Weilemanns Beitrag „Verliebt, Verlobt, BRD-igt“ (auch hier ist der Film tausendmal besser / charmanter / ergreifender als der abgeschmackte Graffiti-Titel) entwickelt, neben der angenehm zurückhaltend agierenden Christiane F. (deren Mitwirken vom Verleih über Gebühr werbewirksam ausgeschlachtet wird), die Regisseurin selbst tragikomisches Talent, wenn sie in einer Absteige auf ihren Freund wartet (ein lümmelhafter, gleichgültiger Bavaria-Punk) und ihn anpiepst wie eine Sprechpuppe: „Wie findest du mein neues Kleid?“ und noch ergreifender: „Leg dich auf mich drauf!“ Die Episode verliert sich schweifend und leichtfüßig an Ereignisse, die entweder überdeutlich inszeniert sind (Michaela May als Karikatur der Hawksian Woman im Disco Ambiente) oder von schwereloser Zufälligkeit getragen werden.

    Im Gegensatz zu Gisela Weilemann setzt Helmer von Lützelburg, der in „Star“ ein bewegendes, manieristisches Sozial-Drama um eine ungeliebte, einsame, dicke Telefonistin inszeniert hat, die sich zum Wochenende in ihrem anonymen Apartment in eine bizarre Schöne der Nacht verwandelt, auf absoluten Professionalismus. Vor dem unwirklichen Glück flieht die Arme panisch, und dennoch läßt der nette Postbote nicht locker. Besonders effektvoll ist der Moment, wo der als Sozial-Drama beginnende Film während des Schminkvorgangs den Schritt zum unwirklichen Douglas-Sirk-Melodram tut. Ein Film, der treffend mit dem Jimmy-Ruffin-Klassiker überschrieben ist, der hier zum Einsatz gelangt: „What Becomes Of The Brokenhearted?“

    Dominik Grafs „Running Blue“, ein deutsch-vernebelter Waffenschieber-MAD/BND-Komplott, den man allerdings nicht zu sehen bekommt, sondern stattdessen das Unbehagen des Helden an der Durchsichtigkeit der sich entziehenden Mächte – hier gefällt fast nur eine Szene im verrauchten Speisesaal einer bayerischen Pension, wenn sich der coole Hamburger Wolfgang Fink hysterisch über einen zu klein geratenen Eidotter beschwert.

    „Panther Neuss“ ist ein romantischer, leicht verrückter, pubertärer Rebell, wortkarg und poetisch. Eine rasendschnelle Story, die auch die Rapper-/Musiker-Talente des Hauptdarstellers Stefan Wood vorführt. Höhepunkt dieser Anthologie ist aber eindeutig Wolfgang Bülds clevere, routiniert-harte Tragödie „Disco Satanica“, die noch einem Brian De Palma zur Ehre gereicht hätte. Tod und Rache kommt über das verderbte Nachtleben wie eine alttestamentarische Plage.

    „Why I Love To Live Fast“ nannte Andy Warhol mal einen Essay – diese Filme zeigen, daß man gar nicht so viele Meter Film braucht, um wirklich große Spielfilme zu produzieren. Hello, Hans-Jürgen Syberberg!

  • Lou Reed – Hinter der blauen Maske

    Lou Reed soll ich interviewen? Nach New York soll ich fahren? Da müßte ich ja nur noch Bowie, Breschnew und Herbert Wehner treffen, und ich hätte alle Idole meiner Jugend abgehakt. Dann könnte ich ja direkt meinen Job an den Nagel hängen. Oder meine Memoiren schreiben? Oder mir ein schönes Leben in New York machen?

    Amerikanisches Generalkonsulat Hamburg, ein heller, klarer Morgen. Eis birst unter meinen Vierzig-Mark-Stiefeln, Ronald Reagan lächelt mir vertraut entgegen. (Me Ronald, you Bonzo. Red?) „Ah, ja, Journalist! Wen wollen Sie interviewen? Lou Reed, wer ist das?“ Dreht sich um, blickt fragend in die Runde der Datensichtgerät-Miezen. Da, ein heller amerikanischer Laut: „Den kennst du nicht? ‚Take A Walk On The Wild Side!‘“

    John F. Kennedy-Airport. Vorläufiges Ende meiner witterungsbedingten Hamburg-Hannover-Kopenhagen-London-New-York-Odyssee. Ich halte mich an nicht vorhandenen Säulen fest, während ich darauf warte, als Letzter in der Schlange, in das kleine Office des Immigration Officers gebeten zu werden. „Wen wollen Sie interviewen?“ Der lustige schwarze Immigration-Officer hält mich für einen Hochstapler, als er mein Journalistenvisum sieht. Ich ihn auch, er paßt nicht in die Uniform. Seine funkelnden Pupillen beschreiben seltsame Kurven auf der Iris. „Lou Reed??? Ich hab’ seit Jahren nichts von ihm gehört! Über Musik schreibst du also. Hey man, was läuft mit Reggae in Deutschland? Mögt Ihr Toots, hat Black Uhuru schon bei euch gespielt?“

    Basement Jack betrachtet die Folgen meiner mehrtägigen Schlaflosigkeit. „Wenn du willst. können wir ja noch was machen.“ Leider will ich. Es ist schon nach Mitternacht, und wir treiben noch bis in die Morgenstunden Sport im „Bowling Club“. Das absolute Hip-Vergnügen zur Zeit bei den New Yorkern. Ein Mann mit Kamera sucht die Kegelbahnen nach Berühmtheiten ab. Clement Burke verläßt lachend seinen Zuschauerposten, David Byrne flüchtet. Auf dem Klo wird schlechtes Kokain verschleudert, und nur einmal treffe ich alle Neun.

    Wenige Stunden später im sechsten Stock, in der Avenue Of The Americas bei der RCA, zu der Lou Reed nach einem Gastspiel bei der Arista zurückgekehrt ist. Für ihn steht eine Dose Ginger Ale bereit, für mich ein Kaffee, der so stark ist, daß der ins Zimmer tretende Lou Reed als erstes, meinen Zustand taxierend, fragt: „Epilepsie?“

    Doch Moment, Vorsicht. Wer kam da ins Zimmer? Lou Reed? Jene Sagengestalt, die mich schon seit 13 Jahren begleitet. Seit ich 1970 bei einem Freund das Velvet-Underground-Exemplar eines dieser Großen Brüder mit Durchblick in die Hände bekam und zu Hause auf meinen Cassettenrecorder Marke Quelle Universum überspielte, gab es trotz der verschiedensten Lebensphasen, Weltanschauungen, Ups and Downs nie einen Moment, in dem ich nicht Velvet Underground oder Lou Reed gehört hätte. Die Banane war damals noch ungeschält.

    Nach den vier exzellenten Velvet-Underground-Studio-LPs gab es für Lou Reed eigentlich nur einen über die verschiedensten Umwege führenden Kampf um den Rückgewinn der Größe, des Charakters, den er im Kontext von Velvet Underground, in der Umgebung des zurückhaltenden Genies John Cale, des Anglistik-Professors mit Rock’n’Roll-Neigungen Sterling Morrison und der ersten weiblichen Schlagzeug-Rebellin Mo Tucker entfalten konnte. Für den ihm auch der stumme Diener Doug Yule auf der letzten Platte, Loaded, die richtige Atmosphäre lieferte. Ein Charakter aber, der dann durch unendliche Brechungen und stilistische Verschiebungen lief, konvex und konkav, verzettelt in den diffusen Stilismen der Siebziger.

    Dabei entstanden mindestens ebenso viele Klassiker wie Flops. Monumente bitterer Zerrissenheit und schnöde, einfallslose Wiederholungen dessen, was er eben wußte. Da war die erste Solo-LP, eigentlich noch ein pures Velvet-Werk, mit dem grandioser „Ocean“, das es auch auf dem höchst empfehlenswerten, in Texas mitgeschnittenen Velvet-Live-Doppelalbum zu hören gibt: die adäquate Vertonung des „Unbehagens in der Kultur“. Dann kam Transformer. Eine grandiose Musik, aber eben Bowie-getränkt. „Lou Reed singt Bowie singt Reed“, schrieb ein intelligenter Kritiker. Bowie und Reed trafen sich in ihrer literarischen Freude an den kleinen Dingen, Bowie dramatisierte die New Yorker Coolness („Got a funny call today / someone died and someone married“) des Mannes, der alles gesehen, erlebt und überlebt hatte, mit britischer Schwulentheatralik. Es waren Klassiker, aber zerbrechliche Klassiker und die Platte war alles andere als essential Lou Reed, dennoch blieb sie seine berühmteste: „Hast Du schon das Cover von der neuen Platte gesehen. Nein? Ich zeig es dir. Meine Frau Sylvia hat es gemacht. Es ist das einzige Album-Cover, das sich bewegt.“ Lou Reed läßt sich von der RCA-Beamtin das Cover von The Blue Mask holen. In der Zwischenzeit versucht er mit zitternden Fingern, sein Ginger Ale zu öffnen. Das Cover zeigt das Titelbild von Transformer, blau in fluoreszierender Farbe (nicht so bei der deutschen Pressung), starr wie eine Totenmaske. Es ist die Maske, die Lou Reed nicht los wird, der Mythos des Transperformers, der in Wahrheit nur ein kurzfristiges, panisch zusammengestückeltes Zwischenimage war. „Du hast Recht. Es ist selten, daß ich das sage, aber genau das wollte ich mit diesem Cover ausdrücken.“ Heutzutage müßte dich eine andere Legende viel mehr belästigen. Velvet Underground war die Inspiration für tausende von Punk-, Post-Punk, Prä-Punk und Post-Post-Punk-Bands, die Titel der ersten beiden LPs wurden Millionen Male gecovert. „Ja, aber das ist mir egal. Ich war bei Velvet Underground, ich habe die Songs geschrieben. Also war es in gewisser Hinsicht meine Musik, die gespielt wurde, so wie auch heute durch die Zusammenarbeit von mir und anderen meine Musik entsteht. Deswegen ist das eben ein Teil meiner Geschichte, aber wie das andere beeinflußt, interessiert mich nicht.“ Wußtest du, daß vor kurzem die erste LP die erste Million weltweit verkauft hat? „Nein, wenn das stimmt, wäre es toll. Aber da siehst du’s. Velvet Underground verkaufte damals überhaupt nichts, und ich verkaufe heute schlecht. Du weißt, wenn ich gleich auf die Straße ginge und eine Kugel in den Kopf bekäme, dann würden die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen.“ So ist das mit den Mythen.

    Das Dilemma der Bowie-Reed-Beziehung kulminierte in Berlin, einem Glamour-Album par excellence. Dies war eindeutig nicht Reed. Aber das Großartige an dieser Platte konnte nur aus dieser totalen, geisteskranken Umwandlung eines souveränen Straßenmenschen mit literarischer Ader und jüdischem Witz (Lou Reed heißt mit richtigem Namen Louis „Butch“ Firbank) in einen europäischen Decadent entstehen. Lou rettete jedoch noch jede Menge Amerikanismen, verfremdende Zynismen und Crooner-Mentalität in das Nachtcafé. Das beste Stück beider Glamour-Platten ist übrigens „Perfect Day“ von Transformer. Ich erinnere mich noch, wie damals in Sounds irgendein unsensibler Kerl die Streicher bemängelte. Die Zeit war noch nicht reif. „Perfect Day“ überschritt das ganze Netz kultureller Anspielungen, die Chanson-Poesie-Rock’n’Roll-Speed-Heroin-Pitigrilli-Brecht-Velvet-Bowie-GI-Benn-Disneyland-Verflechtungen, um im Himmel der Pop-Ewigkeit eine oder zwei unschätzbar wertvolle Tränen zu vergießen. Hör es dir an und ordne an, daß man es auf deiner Beerdigung spielt! Lou Reed driftete weiter im Kosmos zwischen Erbe, Zukunft des Rock’n’Roll, Nostalgie und Literatur (einige seiner stärksten Songs schrieb er vor Velvet Underground als junger Literaturwissenschaftsstudent, sie sind auf dem wunderbaren Bootleg The Velvet Underground etc. enthalten, wo man auch das köstliche Reed/Tucker Duett „I’m Sticking With You“ findet, den schönsten Velvet-Song nach John Cales Ausstieg). Zunächst erholt er sich mit einer der stärksten Brachial-Bands aller Zeiten: The Frost, deren wichtigste Mitglieder ihn längere Zeiten auf Tour begleiteten. Zwei schöne Live-LPs legen davon Zeugnis ab. Triefender Kitsch-Heavy-Drogenlärm, besonders gut zu hören auf Rock’n’Roll Animal. Danach geschah nicht viel Erwähnenswertes: Sally Can’t Dance, Coney Island Baby, Street Hassle, Rock’n’Roll Heart und wie sie alle heißen. Alles Platten mit ein, zwei Juwelen, aber ohne die Kraft, in die Geschichte der abendländischen Kultur eingehen zu können. Bemerkenswert war noch das Live-Doppel-Album Take No Prisoners, dessen Endlos-Ansagen euch ungefähr einen Begriff davon geben, wie schwer es war, Lou im Interview einigermaßen an das Thema zu halten, ohne daß er stundenlang von den technischen Details seiner Gitarre schwärmte. Aber Take No Prisoners hatte auch den tragischen Beigeschmack, den Karrieren haben, die mit Erschütterung beginnen und mit Amüsement enden. The Bells war ein schön chaotisches Sammelsurium von Fremdeinflüssen, von Don Cherry bis Nils Lofgren. Unvergänglich sind die Titel „All Through The Night“ und „With You“.

    Lou Reed schien sich in Kollaborationen zu verzetteln. Ein gewisser M. Fonfara pfuschte überall dazwischen. Mit grämlichen Arrangements deckte er z. B. die Platte Growing Up In Public zu. In letzter Zeit schien Lou den Spieß umzudrehen und schrieb ein paar Titel für The Elder, das letzte Werk von Kiss. Doch kommen wir zum historischen Einschnitt, der neuen LP The Blue Mask:

    „Ich hatte meine langjährige Band mit Michael Fonfara aufgelöst, weil ich es satt hatte, immer nur zu singen. Es war angenehm, mit dieser Band zu singen, aber ich wollte endlich wieder Gitarre spielen. Denn ich bin ein Gitarrist, und ich kann Gitarre spielen, und ich kann gut Gitarre spielen.“ Auf The Blue Mask läßt Lou Reed erstmals nach langer Zeit wieder sein unnachahmliches „European Son“-Kaputt-Solospiel wiederaufleben. Es scheint gereift, seltsam stimmig integriert in diese schlicht-effektiven Arrangements. Der Ausbruch ist nicht mehr ungezügelt, es ist ein kalkulierter, abgezirkelter Moment, in dem die Gitarre sich löst und für einen Moment die Pforten des jugendlichen Velvet-Wahnsinns öffnet. „Ich brauchte noch einen zweiten Gitarristen und fand ihn in Bob Quine. Ich hab mir all seine Sachen angehört, mit Richard Hell, mit Jody Harris und so weiter und mir wurde klar, daß er der beste Rock-Gitarrist ist, den wir heute haben. Ich bin überhaupt mit meinen Musikern überaus zufrieden. Es klingt lächerlich, aber ich bin mit der ganzen LP sehr, sehr zufrieden. Ich weiß, daß jeder, dem man die Frage stellt, welches seiner Werke er am besten finde, das jeweils letzte nennt. Aber in diesem Fall stimmt es wirklich. Ich war lange nicht so rundum zufrieden wie mit dieser Platte. Gute Musiker, gutes Cover, gute Studiobedingungen. Wir haben fast alles live im Studio aufgenommen, in strengster Klausur, bis auf ein einziges Mal völlig ohne Overdubs. Und ich habe jeden Kontakt zur Außenwelt verboten: Keine Freundin, keine Drogen, kein Alkohol. Vielleicht hört sich das aus meinem Munde etwas komisch an, aber es gibt für mich nichts Schlimmeres, als mit bekifften oder besoffenen Musikern zu arbeiten. Sie sind nie bei der Sache. Sie scheinen bei der Sache zu sein, aber sie machen immer Fehler. Irgendwann stellst du dann fest, daß so ein Musiker drei Tage braucht, um seine Gitarre zu stimmen. Ich habe all diese Faktoren ausgeschlossen.“

    Das Tolle an The Blue Mask ist der Widerspruch von Perfektion, gediegenem musikalischem Handwerk und rauhen Ausbrüchen, die Mischung aus Vierspur-Live-Charrne mit instrumentalem Feinsinn. „Eigentlich will man immer perfekt sein. Wir wollten das auch. Aber manchmal gehört es eben zur Perfektion, rauh und ungeschliffen zu sein. Sometimes the perfect man has to be rough. Eine Grenze sind natürlich meine Texte. Im Gegensatz zu anderer Leute Songs haben meine Texte, die man hören muß, verstehen muß.“

    Du hast jetzt alle Songs selbst geschrieben, ist die Phase der Kollaborationen für dich vorüber?

    „Oh nein, das interessiert mich nach wie vor. Bei der Kiss-Platte hatten wir eine Menge Spaß. Aber diesmal mußten es endlich wieder Lou-Reed-Songs sein, absolute Lou-Reed-Songs, eine absolute Lou-Reed-Platte. Deswegen bin ich auch so zufrieden damit.“

    „Ich habe auch endlich den Sound gefunden, den ich seit Jahren gesucht habe. Es gibt da einen neuen Verstärker-Typ, den die Jungs vom RCA-Studio sich gerade zugelegt haben, der genau meinen Bedürfnissen entspricht. Ich habe endlich auf meiner Gitarre den Ton gefunden, den ich seit Ewigkeiten suche. Ich arbeite schon sehr lange an meiner Gitarre. Es ist die auf der Rückseite des Covers, du siehst sie dir gerade an, und du wirst keine zweite finden, die so aussieht und die so klingt. Es ist ein alter Telecaster-Hals, montiert auf einen neuen, eigens konstruierten Plexiglas-Korpus und einige eigentlich simple, aber unbedingt nötige technische Hilfsmittel.“ (Die genaue Beschreibung dieser Gitarre erspare ich euch. Sie dauerte eine eindrucksvolle Viertelstunde, was ungefähr vier Druckseiten entspricht.) „Weißt du, die Gitarristen dieser Welt sind ein fürchterliches Pack. Sie benutzen alle dieselben Instrumente, dieselben Hilfsmittel, dieselben Sounds. Sie spielen dieselben Soli. Sie sind langweilig und lächerlich. Du ahnst gar nicht, wie selten Leute wie Bob Quine sind, die bewußt Gitarre spielen. Ich werde mich als Kandidat zur Wahl des Gitarrenpräsidenten der Welt aufstellen, und du schickst mir fünf Dollar, dann erhältst du ein monatliches Info über meine Kandidatur und mein Programm. Mich regt immer furchtbar auf, was sie im Fernsehen erzählen. Diese Geschichte mit den Frostbeulen zum Beispiel. Daß man sofort ins Krankenhaus gehen soll oder so ähnlich, wenn man die leisesten Anzeichen spürt. Vorhin hab ich gedacht, was ist, wenn sie rechthaben. Man findet mich in der U-Bahn-Station und in der Zeitung steht: ‚Rockstar in Greenwich Village erfroren‘. Was für eine Geschichte. Aber man soll sich nicht aufregen, man muß versuchen, sich zu beruhigen. Wenn ich wirklich wütend bin, bleibe ich zu Hause, sonst könnte ein Unglück geschehen. Ich mache dann Tai-Chi-Übungen. Da mußt du dich so konzentrieren, daß du keine Zeit mehr hast, wütend au sein.“

    Lou Reed redet weiter über Details der LP-Produktion. Ich sinniere über das Problem, Idole zu treffen. Idole, das sind kleine Satelliten, die man aussendet. Ihre Aufgabe ist es, die Geschichte zu kreuzen, das objektiv Geschehene mit der persönlichen Lebensgeschichte zu verweben. Sie sausen durch das Universum der Zufälle und der fixen Verhältnisse. Und sie tun es ganz allein für dich. Deine Idole findest du immer da, wo du dein Leben sich mit der Historie schneiden läßt. Deine Idole sind deine Botschafter, deine Kundschafter und deine Generäle. Wenn sie versagen, läßt du sie einsam im All zurück, als ausgebrannten Weltraumschutt, andere benutzen sie vielleicht noch, aber du hast ein neues, verbessertes Modell. Lou Reed hat für mich immer funktioniert.

    Hier sitzt ein Rock-Musiker, ein Handwerker. Die profane Produktion hat bei ihm die Bedeutung erlangt, die alles Künstlerische, Geistige unter sich zu begraben scheint. Aber er ist eben zwanzig Jahre dabei. Er lebt mit Lou Reed. Lou Reed ist sein Idol, und was den ausmacht, braucht er nicht mehr zu reflektieren. Dafür ist seine Studio-Alchemie, seine jungfräuliche Blue-Mask-Produktionsweise sein neuestes Steckenpferd, Thema Nummer Eins, der große Sprung nach vorne: Sein erster einschneidender Beitrag für die Achtziger. „Machen wir uns nichts vor: wir schreiben 1982“, sagt er noch zum ungebrochenen Velvet-Kult. Aber als ich ihm vorschlage, daß The Blue Mask diejenige seiner Solo-LPs sei, die Velvet Underground am ähnlichsten sei, stimmt er zu: „Du hast heute zum zweiten Mal recht. Ich selber würde so ein Statement nie abgeben, aber da du es gesagt hast, brauche ich einfach nur ‚Ja‘ zu sagen und das tue ich.“ Der Satellit ist auf die Umlaufbahn zurückgekehrt. „Satellite’s gone, way up to Mars“. Das war TRANSFORMER. Und das war für lange Zeit der Weg, den Lou Reed ging.

    „Die neue Platte kannst du genießen. Da ist eine Gitarre, und du kannst hören, wie sie gespielt wird. Da ist eine Melodie. Ich liebe Melodien. Und du kannst sie wirklich hören.“

    Die lächelnde Klarheit des Alterswerks. Lou Reed, der Klassiker des Großstadt-Rock im Goethe-Jahr.

    Und er nimmt sich die Freiheit, all seine wesentlichen Themen noch einmal zu bearbeiten: Da wäre ein geistiger Übervater Delmore Schwartz, dem er schon 1966 seinen „European Son“ widmete. Der Literaturwissenschaftler, Lyriker, Essayist und Novellist war Lou Reed Professor, persönlicher Freund und Mentor. Lou hat den Tod des „ersten bedeutenden Mannes, der mir begegnete“ bis heute nicht verwunden. In „My House“ begegnet der Geist von „Delmore“ Lou und seiner Frau Sylvia in einer Art spiritistischer Seance. Das Stück ist typisch für Lou Reeds momentane Tendenz zum Privatisieren. Er heiratete in aller Stille besagte Sylvia und zog mit ihr in die Ländlichkeit vor den Toren New Yorks. Und er will nie wieder auf Tour gehen. In diesen Tagen wird er Vierzig. Die Größe und Brillanz von Blue Mask hat damit zu tun, daß uns Rückschau und Abschiedsgefühle untergejubelt werden. In „The Day John Kennedy Died“ schildert LR minutiös „einen Tag, den ich nie vergessen werde. Im Gegensatz etwa zum Alkoholiker-Lied ‚Underneath The Bottle‘ bin ich es hier wirklich, der spricht.“

    „I dreamed I was the President of these United States.“ Ein überaus amerikanischer Traum, der da entwickelt wird. „In Träumen beginnen Verantwortungen“ ist der Titel von Lou Reeds Lieblingsbuch. Autor: Delmore Schwartz. Ich bringe Lou auf die Palme, als ich ganz arglos frage, ob er die Einschätzung der Dead Kennedys teile, mit dem Tode der beiden Kennedys seien Amerikas Träume endgültig ausgeträumt: „Unsäglich, dieser Name. Das ist eine ganz geschmacklose, brutale, primitive Gruppe. Barbaren, Wüstlinge. Sollen sie nach Kalifornien zurück und an einer Tankstelle arbeiten, wie früher. Aber Unsinn, Leute an Tankstellen arbeiten wenigstens wirklich, dieses Pack ist noch schlimmer. Was soll dieser Name? Wenn sie das ausdrücken wollen, was du sagst, sollen sie sich meinetwegen Dead Ideals nennen. Auch wenn das eine ziemlich blödsinnige Attitüde ist: Warum machen sie überhaupt Platten? Egal: Ich fühle mich jedenfalls durch diese Gruppe beleidigt.

    Und schau dir doch an, was wir danach für Präsidenten gehabt haben: Johnson, Nixon, ein ganz gewöhnlicher Krimineller, ein gemeiner Verbrecher, oder Reagan? Das ist doch Alice im Wunderland, aber ins Stadium der Fäulnis übergegangen. Der Tag, an dem John Kennedy starb, war ein sehr trauriger Tag. Ich werde ihn nie vergessen. Heute versucht die rechte Presse, das Gedenken an Kennedy zu zerstören. Sie versuchen, ihm hintenrum Skandale anzuhängen.“

    Auch ich erinnere mich an den Tag, an dem John Kennedy starb. Ich war fünf Jahre alt, und in der Tagesschau sagte man, daß er schwer verletzt sei. Jemand stellte das Radio an. Ich verstand nicht, und dann sagten meine Eltern, er sei tot. Er habe Kinder in meinem Alter gehabt. Ich habe immer gedacht, daß ich Caroline Kennedy irgendwann kennenlernen würde. Damals begann die Medien-Konditionierung, der erste kindliche Umgang mit Idolen. Mein Hit war „Dominique“, dann Trini Lopez’ Version von „I Want To Be In America“ und endlich, der große Durchbruch: „I Want To Hold Your Hand“.

    Lou Reed empfiehlt noch ein paar Buchläden, die die Werke Delmore Schwartz’ führen („Er war der größte Joyce-Spezialist der Erde. In seinen Exemplaren von ‚Ulysses‘ und ‚Finnegans Wake‘ waren zu jedem Wort mindestens fünf Verweise angegeben.“). Und verabschiedet sich. Als ich zur RCA-Toilette gehe, kommt er kurz nach mir, lächelt säuerlich und schließt sich ein.

    Diverse Termine warten. Wilde Tage in New York stehen bevor. Ich sitze in der Sounds-Außenstelle und höre Solomon Burke. Hans setzt sein ganzes Honorar in unerschwingliche Soul-Raritäten um. Während ich dies schreibe, höre ich, wieder in Hamburg, einen Billig-Sampler mit Ben E. King. Das unvergleichliche „What’s Now My Love?“ und „Spanish Harlem“. Wußtet ihr, daß Coati Mundi alias Andy Hernandez jahrelang Sozialarbeiter in Spanish Harlem war? Über das tolle Interview, das wir mit ihm geführt haben, wird Hans noch berichten. Ebenso über die dB’s, mit denen ich diverse Geistesverwandtschaften entdeckte, werdet ihr noch einiges lesen. An jenem Nachmittag gibt’s noch einen Termin: In der Mercer Street wird, von einem obskuren Studio aus, eine Radio-Live-Performance von New Yorks Percussionwunder Liquid Liquid nach Frankreich übertragen. 2,5 Millionen Franzosen hören auf diese Weise Monat für Monat im staatlichen Rundfunk Sachen wie Bush Tetras, Polyrock etc. live aus New York. Die Möglichkeit wurde auch deutschen Anstalten angeboten, aber man war zu verschnarcht. Sollte dennoch ein deutscher Rundfunkmensch Interesse bekommen und diese Zeilen lesen, wende er sich an mich. Draußen vor dem Studio warte ich mit zwei typischen Hispano-jüdischen New Yorkerinnen, daß sich einer bequemt, die Tür zu öffnen. Just als die Tür aufgeht, entsteigt mein Interviewpartner von heute morgen einem Taxi. Ja, auch er soll live interviewt werden. Liquid Liquid hängen nach ihrer Show noch im Studio und machen sich über Lou Reed lustig. Als Salvatore Principato beim Telespiel danebenschießt, sagt Ed Bahlman, Manager und 99-Records-Organisator: „Lou hätte’s getroffen.“ Lou kriegt zwar kaum was von dem Gespött mit, ist aber dennoch sichtlich irritiert. Ein Erwachsener und vier freche Knaben.

    Ed Bahlman: „Freut mich zu hören, daß er ’ne gute Platte gemacht hat. Aber besonders wichtig ist er, glaube ich, nicht mehr.“

    Diese Insider verstehen eben viel zu viel von Musik. Wichtig ist für sie ein neuer Sound, sogenannte neue Töne. Sie verstehen nicht das eigentliche Wesen von Pop, wie man in der Wirklichkeit damit lebt. Als ich Ed Bahlman die Geschichte mit den Dead Kennedys erzähle, sagt er ganz versonnen: „Seltsam bei einem Mann, der die Musik so revolutioniert hat.“ Das stimmt. Wenn man es auf die blaue Maske bezieht, nicht, wenn man es auf den liberalen Privatier und jüdisch-intellektuellen Songwriter in der Mitte des Lebens bezieht, der sich hinter ihr verbirgt.

    An einem der folgenden Abende passierte folgendes: In einem dieser hippen Clubs, in die man ganz spät geht, viel Eintritt zahlt und dann jede Menge Berühmtheiten bestaunen, beziehungsweise mit ihnen reden kann, wenn man das Glück hat, vorgestellt zu werden, war es spät geworden. Sehr spät. John Lurie hatte über seine deutsche Plattenfirma geklagt, Nile Rodgers Hans, August Darnell und diverse Frauen umarmt, Billy Idol andere Frauen an sich zupfen lassen und Ken Lockie von einer LP mit Public Image erzählt. Glen O’Brien wollte mir die deutschen Rechte an seiner Kolumne verkaufen und und … Man wird der Stars müde, so interessant sie zu betrachten sind, wenn sie von ihren Produkten getrennt werden. Hier rennen sie alle auf die Toilette, wo ein, wie man mir sagt, von der Mafia und korrupten Bullen sorgsam organisierter, reger Handel mit weißen Pülverchen stattfindet. Connaisseure testen die neue Ware, während man in der anderen Ecke der kleinen Zelle arglos eine Stange Wasser in die Ecke stellt.

    Dann geschah es. Alle Augen gehen in eine Richtung. Die Konversation verstummt. Und nun dürfen alle kritischen Leser frohlocken. Kann er doch noch seinen Job an den Nagel hängen? David Bowie betritt leibhaftig den Raum. „Er geht sonst nie aus“, wird mir zugeraunt. Die Mädchen verlassen Billy Idol. Darnell und Rodgers gehen auf den Superstar zu. Zu dritt läßt man sich auf einer Chaiselongue nieder. Fünf bis zehn Mädchen zerren an Bowie. Etwas indisponiert und niedlich Verwirrung spielend, flirtet er zurück. Er drückt seine Stirn an eine Mädchenstirn. Durch die paar Worte mit Nile Rodgers fühle ich mich einigermaßen legitimiert, in der Nähe zu verweilen.

    Zu früh gefreut. Ich werde den Job weitermachen müssen. Bowie hörte mir zwar eine Minute höflich zu, ein paar Floskeln in einem für New Yorker Verhältnisse sehr gepflegten Englisch. Aber dann zerrte ihn die Mädchenschar gen Ausgang. Es war ein Fünf-Minuten-Auftritt. Billy Idol starrt einsam ins leere Glas.

    Sie sind alle keine Pop-Stars, diese Stars. Sie sind alle nur kurzfristig in der Lage, ein Gesicht mit einer Melodie zu verbinden, die meisten sind im besten Falle gute Handwerker und nette Menschen (Rodgers) oder leidenschaftliche Künstler (Darnell, Lurie). Der einzige full-time Pop-Star bleibt Bowie. Und Lou Reed bleibt der letzte ernsthafte amerikanische Lyriker, der nicht der Beatnik-Verwahrlosung hinterherträumt Es bleibt euch überlassen, was ihr wichtiger findet: Künstler, Schriftsteller oder Pop Stars.

    P.S.: Und die Nitecaps, New Yorks Antwort auf Dexys Midnight Runners, sind definitiv die kommende Band.

  • Pigbag

    Der Einfluß der britischen Band The Pop Group auf die gegenwärtigen Entwicklungen innerhalb der britischen Szene ist nicht hoch genug einzuschätzen. Ähnlich wie James Chance für New York, entwickelte die Pop Group für die englische Szene einen Stil, der die Rohheit des frühen Punk mit vielschichtigen Funk-Rhythmen und vom Free Jazz entlehnten atonalen Spielweisen verknüpfte. Nach drei hervorragenden, enorm einflußreichen LPs (inzwischen spielt in England jeder Funk) löste sich das Ensemble auf. Von den vier Nachfolge-Bands nehmen sich drei des musikalischen Erbes der Pop Group, auf zwar unterschiedliche, aber doch in allen Fällen folgerichtige Art und Weise an (Maximum Joy, Rip, Rig & Panic, Pigbag), während die brachial-parolenhaften Texte bei Marks Mafia aufgehoben sind.

    Pigbag ist die Formation, in der Simon Underwood, der als Bassist vor allem in den frühen Tagen der Pop Group wichtig war, das besagte Erbe verwaltet. Und das ist in jeder Hinsicht überraschend. Die erste bei dem unabhängigen Y-Label erschienene Single hielt nicht nur Einzug in die Discotheken des Untergrunds, sie plazierte sich auch monatelang in den Disco-Charts des amerikanischen Branchenmagazins Billboard und bescherte der Gruppe Dutzende von Firmen-Angeboten. Der zackige Afro-Funk-Marsch „Papa’s got a brandnew Pigbag“, getragen von einem eingängigen Bläser-Motiv, war der Gruppe aber zu diesem Zeitpunkt als Markenzeichen schon wieder zu einengend und man strich ihn aus dem Live-Programm. Pigbag bestehen darauf, ihre zwischen straffen Themen und wilden Improvisationen wechselnde Musik live stets aufs Neue zu entwerfen. Es ist auch keine Seltenheit, daß in den jeweiligen Clubs fremde Musiker sich der Band auf der Bühne anschließen und mitimprovisieren. Die rein instrumental arbeitenden Vollblutmusiker sind für jede Anregung offen, zu jeder Variante bereit, wenn nur die Verständigung klappt. Denn für Leute, die erst fragen müssen: „In welcher Tonart spielt ihr das gerade?“ hat man nur Verachtung. Da feiert der Jam-Session-Geist alter Jazzer seine Auferstehung.

    Inzwischen ist ebenfalls auf Y-Records eine zweite Single erschienen („Sunny Day“), die wie „Papa’s got a brandnew Pigbag“ auf der einen Seite eine sehr schwarze Tanznummer vorstellt, während die B-Seite („Elephants wish to become Nimble“) die freiere, jazzigere und verspieltere Seite der Gruppe vorstellt. Besonders bemerkenswert ist hier, wie Simon Underwood seinen bundlosen Funk-Bass mit einem virtuos gestrichenen, akustischen vertauscht und, wie einst Charles Mingus, vom Baß aus die Improvisation leitet.

  • Heaven 17 – Antifascho-Funk mit Hindernissen

    Wenn es zwei Plattenkritiken gibt, die ich bereue, sind es die Reviews der ersten und der zweiten Human-League-LP. Selten unentschlossener gewesen, selten größeren Quatsch zusammengeschrieben. Und wenn sonst ein Urteil spätestens nach zwei Monaten reift, ist mir bei Human League immer noch keine Idee gekommen. Und jetzt bei Heaven 17 soll alles klar sein?

    Daß künstlerische Klasse oft nichts mit Persönlichkeit, Genie oder Charakter, gar Integrität des Künstlers zu tun hat, ist eine alte Weisheit. Oft sind die größten Blödmänner mit irgendeinem partikularen Talent gesegnet, und andere, die die Welt wirklich verstehen, produzieren unentwegt nur Sülz und Schund. Künstler wissen nicht, was an ihnen gut ist, die Ausnahmen sind selten, und zu große Selbstkenntnis für die eigene Entwicklung sogar gefährlich. Selten hab ich aber schon in den vorliegenden Produkten so ein krasses Nebeneinander von blödester Verblendetheit, ja nachgerade schockierender Dummheit und großer Klasse gefunden wie bei den ersten beiden Human-League-LPs. Und auch Martyn Ware, der einerseits, wie ich, die zweite Seite der Heaven-17-LP Penthouse And Pavement als Fortsetzung seiner Arbeit an Human Leagues Travelogue begreift, aber andererseits Travelogue inzwischen prätentiös findet, kann nicht erklären, wie aus der verkifften Note dieser netten, traurig-schönen Melodien so plötzlich eine kämpferische wurde.

    Und ich weiß, daß die Welt nicht so einfach ist: Hier Martyn Ware und Ian Marsh, die klugen, Melodien schreibenden, politisch engagierten Heaven-17-Macher, dort die verblödete Restgruppe mit Modepopper Phil Oakey und Dia-Debilo Adrian Wright. Nein, so einfach ist das Leben nicht. Wir wissen das ja.

    Was auch den heutigen Human-League-Rest trotz eines Minimums an Einfällen hörbar und in Ansätzen reizvoll macht, ist dasselbe, was mich manchmal in eigentlich völlig verblödete Styling-Schüler-Cafés treibt: die glatte, saubere Oberfläche der Unbedarftheit, die ruhigen Flächen, die Unaufdringlichkeit eines erzblöden, aber hübschen Menschen, Urlaub von Argumenten und hektischer Sinnstiftung, billige Badeferien im polierten Land des Nichts, der Nichtse, der perlenden Schaumkronen des Spätkapitalismus. Hübsch, dumm und morgen vergessen, wem will man das übel nehmen?

    Anders Heaven 17, deren Einsatz viel größer ist. Die schwermütigen Human-League-Melodien mit ihrem europäisch-tiefsinnigen Flair im Marschgepäck, gründen sie ausgerechnet eine Produktionsfirma nach dem Modell der Chic-Organisation und flirten mit Funk und (!) großer Politik. Und sie schneiden glänzend ab. Das erste Stück, das sie schreiben, wird der ganz große Glücksfall. Lassen wir Martyn Ware erzählen: „Human League verschlang auf Tour ungeheuer viel Geld, wir hatten nur ungenügende Umsätze, um diese Kosten zu decken. Wir wollten uns einschränken, aber Phil Oakey wollte den großen Erfolg. Da ich den größten Teil des Materials geschrieben hatte, gab er mir die Schuld an unserem Problem, nicht ganz nach oben gekommen zu sein. Er versuchte, mich hintenrum aus der Gruppe zu schmeißen, doch Ian Marsh warnte mich und entschloß sich, zu meiner Überraschung, mit mir zusammen die Gruppe zu verlassen und eine Songschreiber-Partnerschaft zu starten. Daraus wurde dann B.E.F. (British Electric Foundation), unsere Firma. Wir schlossen einen Vertrag mit Virgin, der uns drei Jahre lang verpflichtet, mit drei Gruppen LPs zu machen. Im ersten Jahr mit der ersten, im zweiten Jahr eine mit der ersten und eine mit der zweiten und im dritten Jahr die dritte der ersten, die zweite der zweiten und die erste der dritten Gruppe. Heaven 17 wurde diese erste Gruppe. Glenn Gregory wurde unser Sänger; er sollte damals schon Human-League-Sänger werden, was daran scheiterte, daß er nicht in Sheffield lebte. Der erste Song, den B.E.F. schrieb, sollte eine Art Hommage und auch Parodie der englischen Disco-Chart werden. Wir sahen uns die Titel durch und sammelten all diese Funk-Slang-Ausdrücke, die immer wieder auftauchen: Groove, get down, thang, good time dancing etc. Schließlich hatten wir einen schnellen Funk-Titel fertig und er hieß ‚We Don’t Need That Groove Thang‘. Wir waren bester Laune und sahen fern und hatten eine Party, und plötzlich hatte ich Schnipp! – eine Idee: ‚Wir machen noch eine Prise Pop Group dazu‘. Die Pop Group hatte damals Furore gemacht mit Songtiteln wie ‚How Much longer Do We Tolerate Mass Murder?‘, total überdrehte, absurde Polit-Texte. Das paßte irgendwie zu den anderen Funk-Absurditäten wie Groove und Thang. Und als ich sagte: ‚We Don’t Need This Fascist Groove Thang’, haben wir uns bepißt vor Lachen. Es war ein großer Spaß. Zwei Tage später wurde Reagan gewählt, und der Song bekam eine völlig neue Wahrheit. Wir haben ihn etwas aktualisiert, und er war plötzlich hochpolitisch, wurde im Radio verboten, rechte Organisationen schickten uns Drohbriefe, und wir bekamen Angst vor Schlägerkommandos.“

    Martyn Ware ist in der Tat ein recht intelligenter Mensch, auch wenn er sich unmöglich anzieht (wahrscheinlich gerade deswegen), fast sind die Dinge etwas zu klar bei ihm. Ich fand beim „Groove Thang“ so besonders gelungen, daß die musikalische Sprache den politisch-historischen Drive des amerikanischen Neo-Heavy-Stupid-Conservatism so treffend nachzeichnete und gleichzeitig im Untergrund und sonstwo zum Tanzen benutzt wurde. Ware: „Es war ein guter Widerspruch in sich. Wir hatten einen der radikalsten linken Songs gemacht, und die Leute haben dazu getanzt statt zu sinnieren und dann zusprechend zu applaudieren.“ Der Durchbruch der Agitation auf den Tanzboden. Großstadt-Gesinnungs-Guerilleros in leicht verunglückten Junior-Chef-Anzügen. Eine wichtige Geschichte bei B.E.F./Heaven 17 scheint ihre Welteroberungsstrategie zu sein, ihr Gestus als weltumspannende, geheimnisvolle Firma, allgegenwärtige Agenten der Subversion. „Sicher hast du recht, unser Image als Firma spielt eindeutig mit solchen Phantasien. Andererseits sind wir wirklich eine Firma. Ian und ich sind B.E.F., ein Unternehmen, das Songs liefert, Produktionen übernimmt, Auftragsarbeiten durchführt und mehrere Gruppen führt. Wir wollen unser Unternehmen auch erweitern, weitere Songschreiber mitarbeiten lassen, die Buchhaltung an Spezialisten abgeben etc. Ich finde es wichtig, daß man von dem herkömmlichen Selbstverständnis der meisten Rock’n’Roll-Bands wegkommt. Unsere Idee, eine Firma zu bilden, ist ein Schritt dahin. Wir wollen nichts mit diesen elenden Mythen zu tun haben, die durch die Touring-Routine gebildet werden. On the road und der ganze Scheiß.“

    Ihr distanziert euch auch von dem Habitus der engagierten Band, die ihren Protest als persönlich, subjektiv, von innen kommend, vorführt, die sich außerhalb der Produktionsverhältnisse stellen zu können meint und quasi als unabhängige Stimme des Menschen die Mißstände anprangert, sich also völlig in idealistischen Illusionen verheddert. „Klar, ein Aspekt des Firmen-Image ist, daß wir nicht verhehlen, selbst ein profitorientiertes, kapitalistisches Unternehmen zu sein. Insofern sind wir viel radikaler als die meisten sich aufrührerisch gebärdenden Bands, die noch in der Protest-Tradition der Sechziger stehen. Erstens nennen wir Dinge beim Namen und zweitens sind wir offen, was unsere eigenen Produktionsbedingungen betrifft.“

    Was ließ Heaven 17 nun den gemütlichen Sessel hinter dem Mischpult mit hanseatischen bzw. bayrischen Monsterdiscos tauschen? Schließlich gibt es allenthalben genug Arbeit. Nicht nur, daß die Gruppe von ihren Songs auf Singles, 12-inchs, Cassetten als B.E.F. ständig diverse Versionen veröffentlicht (manchmal recht überflüssig), darüber hinaus hatte man gerade für die Disco-Tänzer mit Ballett-Ambitionen Hot Gossip eine LP mit eher dürftigen Resultaten zusammengestellt, benannt nach einem Heaven-17-Erfolgstitel, Geisha Boys And Temple Girls (Ware: „Sicher, die Vocals sind etwas dünn, aber es war eine Auftragsarbeit und sehr lehrreich. Daß dabei unsere eigenen Songs wiederverwendet wurden, war nicht unsere Idee, Hot Gossip wollte das so.“), und sich gleich darauf an eine neue Platte gemacht, die im Moment ihrer Diskotheken-Tour zu zwei Dritteln fertiggestellt ist. Die Ware/Marsh-Lieblingsoldies werden von Prominenten zu B.E.F.-Backing neu interpretiert. Dabei scheinen B.E.F. in der Auswahl der jeweiligen Sänger über ebensoviel Humor wie Menschenkenntnis zu verfügen. Sandie Shaw singt ein Cilla-Black-Liedchen (Erinnert sich einer an Guy Pellaerts geniales Cilla-Black-Gemälde in Nik Cohns Rock Dreams, ein Meisterwerk des sozialistischen Realismus?). John Foxx schlüpft in die überaus passende, wenn auch leicht zu hoch gegriffene Rolle des ewigen Greiners (mit Stil!) Roy Orbison. Und das Soul-Meisterwerk „Ball Of Confusion (That’s What The World ls Today, Hey Hey!)“ von dem Temptations harrt noch eines Sängers, aber da der im Moment kontraktlose James Brown kurz vor einem Abschluß mit Virgin steht, soll seine Teilnahme schon fast sicher sein.

    Und vieles mehr. Klar, daß man dabei Spaß hat. Laß John Foxx greinen, schiebe die Schach-Figuren des Pop-Alltags hin und her. Laß Adam Ant „ABC“ von Jackson Five singen und Kim Wilde ein paar Shocking-Blue-Nummern. „Das Spiel mit Menschen-Schicksalen“, sagte Dr. Mabuse 1922.

    „Daß wir jetzt auf Tour gehen, ist ein Kompromiß. Wir wollen keine Konzerte, wir wollen in einer funktionierenden Disco auftreten, wo vor uns getanzt wurde und nach uns getanzt wird. Wir verstehen uns da nur als ein kleiner Bonbon zwischendurch, der für uns natürlich Promotionzwecke hat. „Mit prophetischen Fähigkeiten gesegnet“ wende ich ein, daß es funktionierende Discos in Deutschland nicht gibt. Es mag gerade noch hingehen, wenn man in München im „Why Not“ auftritt, wo auch ansonsten eine Musik gespielt wird, die mit der neuen Tanzerei zu tun hat, wo es also auch sonst möglich wäre, Heaven 17 zu hören. Dies geht aber nicht in Hamburgs „Trinity“, wo normalerweise nie ein Heaven-17-Fan auftauchen würde. Die, die dann kommen, während Heaven 17 im Schneegestöber im Taxi sitzen und über die Bedeutung des Wortes „Funk-Taxi“ kichern, erwarten ein Konzert, Rock’n’Roll-Konzert, Stimmung. Mindestens die Verdoppelung der Wirkung, die die Platte zu Hause auf sie hat. Die Ware Stimmung für DM 12, mindestens eine Stunde. Die wenigsten wissen, daß auch sonst in diesem Laden an Wochenenden 10 Mark Eintritt genommen wird und sich ihr Eintrittspreis folglich so zergliedert: DM 10 für die Ware Disco (Studio-54-Nachbau, ehemals als Tanztempel konzipiert – in Hamburg kann es keine Tanztempel geben), DM 2 für die Ware Konzert. Die Empörung über die drei wäre sicher geringer gewesen.

    Was haben sie sich zu Schulden kommen lassen? Mit aufgerissenen Augen, Mäulern, Körperöffnungen steht die Menge starr, frontal auf die Bühne fixiert und wartet. In England tanzt man zu diesem Zeitpunkt bereits (zu besserer Musik, versteht sich). Die drei kommen auf die Bühne, „Ah-Oh-Ah!“, und sehen sich mit der unmöglichen Aufgabe konfrontiert, diesen Block von Masse zu bewegen. Und das mit präparierten Tapes, eher linkischen, aber niedlichen Gesten und mit zwei dünnen und einer guten Gesangsstimme, mit der sich Glenn Gregory, von der Situation verunsichert, oft versingt. Die Tapes waren z. T. neu arrangiert (tolle Bläser bei „The Height Of The Fighting“ und ebenso lustige kreisende Bewegungen mit der rechten Hand, die in einem gereckten Zeigefinger endeten beim Kehrreim: „Hey-La-Ho!!!!!“), aber das wurde bei diesem halbstündigen Fiasko kaum bemerkt. Die Leute fühlten sich verarscht. Ich hasse dieses Wort und die ihm zugrunde liegende grundnörgelige Geisteshaltung, die vor allem zum Ausdruck kommt, wenn ein Hamburger dieses Wort ausspricht: Ffeoscht. Heaven 17 wollten, nein, besser B.E.F. wollte sein Produkt Heaven 17 vorstellen, so wie der Mann von der Hamburg-Mannheimer seine Produkte vorstellt. Dies finde ich eine grundsympathische, nette Idee. Anti-Rock, Anti-Helden, nett.

    „Wir hassen die Barrieren, die ein Rock-Konzert aufbaut. Dieses Einem-Künstler-Lauschen, der ganze Mythos des Progressiven, der Leistung, des Könnens auf der Bühne. Das ist das Gute an der neuen Tanz/Disco-Bewegung. Daß diese Barrieren niedergerissen werden, daß diese kleinbürgerlichen Kunstideen verschwinden. Gute Tanzmusik ist eben nicht das Eigentum einer Klasse. Ich habe nicht mal Vorurteile gegen Boney M. O.K., bis jetzt haben sie nur schlechte Platten gemacht, das weiß ich auch. Aber sie sind nicht schlecht, weil sie Boney M. sind. Morgen könnten sie eine tolle Platte machen, und dafür will ich offen sein.“ (Martyn Ware).

    Was Heaven 17 vergessen, ist, daß auch ohne Rock’n’Roll-Mythen, auch in der Disco, auch im allerneuesten Zeitalter, auch im Jahre 2000, keine Bühnenpräsentation funktionieren kann ohne Fluidum, ohne irgendeine Form von Suggestion, von Kommunikation, von Kontakt. Heaven 17s Live-Gig war nicht so völlig ohne, aber nahe dran, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, kurz davor, nur noch eines zu bedeuten: ein kleines Zeichen dafür, daß die Musik, die vom Band kommt, von Heaven 17 stammt. Man reißt aber keine Barrieren nieder, indem man sich selbst verschwinden läßt.

    Trotzdem war das Hamburger Publikum doof, aber das hat andere Gründe. Konzertzuschauer sind eben Kunden. Kunde sein, ist immer etwa peinlich, was in dem oberpeinlichen Akt des Umtauschens einer nicht zufriedenstellenden Ware gipfelt. Kaufen ist peinlich. Sich beschweren ist peinlich. Am allerschlimmsten ist das Nörgeln. In diesem Gestrüpp von entwürdigenden Peinlichkeiten der Konsumgesellschaft treten Heaven 17 die Flucht nach vorne an. Und stolpern ab und zu.