Viele Mitbürger haben sich besorgt an mich gewendet und gefragt, ob ich in der letzten Nummer nicht die schlimmsten, die bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften vergessen hätte. Nun, habe ich nicht, hier sind sie, aber sie sind nicht die schlimmsten. Ein Nachwuchsliberaler ist immer schlimmer als ein alter Liberaler, der bald sterben wird. Weizsäcker ist uralt und aus einer anderen Welt, man kann ihn vergessen, er ist nicht symptomatisch (wie Kohl). Seine Popularität ein ewiges und ekliges, aber zu vernachlässigendes Symptom wie Dixieland-Frühschoppen der FDP. So ist auch „DIE ZEIT“.
Anna von Münchhausen: „DIE PILLE HAT GEBURTSTAG“ steht in Rot als „ZEIT-DOSSIER“-Verheißung über der Nummer von diesem Donnerstag, wenn das nicht ehrlich ist, Journalisten zu beschäftigen, die den Namen des Lügenbarons tragen und nicht mal lügen müssen, um so etwas unendlich Langweiliges zu verzapfen. Jedes Jahr wird sie ein Jährchen älter, die Pille, wie der Heizlüfter, der Leifheit-Trockensauger, die Espresso-Maschine. Margarete von Trotta und ein André Müller fragen sich, ob die Welt besser wäre, wenn Politiker weinen würden (Buhuuuu. Sie weinten „DAS TEDDYBUCH“). Wer erinnert sich noch an die große „Darf-Blue-Boy-weinen?“-Debatte in der Spätsechziger-„Bravo“ um „High Chaparral“? So weit wie „DIE ZEIT“ heute, war „Bravo“ vor 20 Jahren allemal. Trotta haßt sich. Warum? Ihre Eifersucht (schon wieder ein Dr. Sommer-Thema). Die alte Kuh sagt, sie hätte schon zehn Mal den Fragebogen des FAZ-Magazins (den besten geistigen Warentest der BRD) zurückgeschickt, weil sie ihn schwachsinnig fände (Der Hund findet den Mond schwachsinnig). Disqualifiziert. Ausgeschieden. Der Rest der Nummer (Feuilleton) wird von älteren Herren vollgeschrieben: Wapnewski, Harig, Jens – die Weizsäcker des Geistes, allemal erträglicher, weil fossiler als die Kohls: Greiner.
Lustig wird’s beim „ZEIT“-Magazin. Da geht Eckhard Henscheid, der „ehedem durchaus verehrliche“ (Henscheid über einen anderen), Woche für Woche öffentlich vor die Hunde, macht sich zum Affen im Namen seines einzigen und kläglichen Gedankens, daß sprachliche Anachronismen schöneres Deutsch seien als Szene-Sprache (du meine Güte! Dabei hat er selbst stilbildend mit seinen schönen, alten Blähungen dazu beigetragen, daß dieser Slang die neue Szenen-Sprache wurde; vgl. Stadt-Magazine, insbesondere sog. „Kolumnen“.). Was Woche für Woche bei der Lektüre seiner Geistreicheleien übrig bleibt: Johannes Gross ist besser. Was man sich Woche für Woche fragt: Warum sagt dem bei „TITANIC“ (immer noch eine der drei besten Zeitschriften Deutschlands) keiner was? (Auch dort konnte man die „ZEIT-MAGAZIN“-Kolumne schon ahnen, anhand seiner Rubrik „ERLEDIGTE FÄLLE“. Meistens eben genau das und daher eigentlich nicht der Rede wert, dann wiederum aber doch zu blöd und unverschämt – auf die Tour gegen den jede Differenziertheit verdienenden höchst einzig- und eigenartigen Handke einzudreschen! Oder, wie einmal, was ich sehr übelgenommen habe, in einem Nebensatz gegen Jean Marie Straub).
Neulich hat ein Redakteur des „Zeit-Magazins“ bei Albert Oehlen und Werner Büttner angefragt, ob sie für sein Blatt den Roman „DAS GRAU DER KAROLINEN“ von Klaus Modick illustrieren wollten (indem sie das darin eine Hauptrolle spielende Bild nachempfinden). Ein Unroman mit Werbeleuten und Kunstfreunden („kein einziger guter Satz“, Büttner) und Bildern eines unbekannten toten Künstlers, die dieser auf den Karolinen versteckt hat und die so ein „beruhigendes“ Grau haben (daher der Titel), das den einen Kunstfreund einfach nicht losläßt („beunruhigt“). Während Büttner als alter Jurist noch überlegte, ob das Ansinnen des Redakteurs den Tatbestand der Beleidigung hinreichend erfülle und rechtliche Schritte angezeigt seien, fragte der Redakteur den absagenden Albert, ob dies (die Absage) nicht unkollegial gegenüber den Künstlern sei, die schließlich mitmachen würden. Toll, was? 1) dieser furchtbare Irrtum von der Kollegialität in der Kunst; 2) die Vorstellung, daß nicht der Streikbrecher, der eine Scheiße wider alle Moral doch mitmacht, unkollegial ist, sondern der mit Recht Streikende und 3) diese routinierte Ahnung von der Scheiße, die er da anrührt, die aus diesem Satz des Redakteurs spricht. Vor kurzem ist das Ding nun erschienen. Klaus Fußmann und – of all people – Dieter Asmus von der Gruppe Zebra haben die Illustration besorgt. Das Beste, was man über diese Künstler sagen könnte, ist, daß sie vielleicht wenigstens noch soviel Selbstbewußtsein haben (in ihrem Elend), daß sie gute Künstler wie Büttner/Oehlen hoffentlich wenigstens nicht leiden können und so auf deren Kollegialität (gemeinsam produzierte Scheiße macht stark) wahrscheinlich verzichten würden. Wegen des Rätsels braucht man das „Mag“ auch nicht mehr, denn es gibt ja jetzt „PERPLEX“.
Nach circa dreißig Minuten hat man die Donnerstagspresse durch, dann kann man wirklich anfangen zu lesen, im neuen MICKEY MAUS-HEFT: „‚Die Angst beflügelt den eilenden Fuß.‘ Ja, unsre klassischen Dichter! Die kannten das Leben“ (Gustav Gans auf der Flucht vor einem Tiger). Darauf Donald Duck: „Werd nicht poetisch! Dazu ist die Lage zu ernst.“ Recht hat er.
The Smiths sind die Band der Stunde. Mehr denn je. Die Stimme Englands jenseits von Hipness und Kult. Die aktuellen Vertreter der alten britischen Stärke, den Widerspruch zwischen Dandytum und Sozialismus vermitteln zu können. Bei aller scheinbaren Mickrigkeit. Der imaginäre Tod der Queen inthronisiert den gebrochenen Realismus Morrisseys als offizielles verbindliches Idiom der zeitgenössischen Popmusik.
Dandyism starts at home. Oder? Barbarism dagegen endet meistens auf der Straße oder in der freien Natur, während der Dandyism zu Hause bleibt. Ginge er auf die Straße, würde er bestenfalls zum amüsiert-unbeteiligten Studenten des menschlichen Dramas, im üblichen Fall aber haßt er die Menschen (und zieht schon mal ihre Vernichtung in Erwägung). Nur der englische Dandy ist natürlich wie alles aus England ganz anders, er ist der Linksverkehr der conditio humana, er fährt auf der falschen Seite, denn in England will der Dandy sogar, daß die Tiere am Leben bleiben.
Schlauberger könnten einwenden, daß sei eben das Dandyhafte an Morrisseys sozialer Seite, sozusagen, wenn der Dandy sozial-engagiert ist, tut er es eben für die Tiere, nicht für die Menschen, als gleichsam köstlich-subtile Perversion des Sozialen, als Sozial-Sodomie. Weit gefehlt. Morrissey kümmert sich auch um alles andere.
Soeben hat er eine Langspielplatte veröffentlicht, die heißt „The Queen Is Dead“. Dazu können wir uns viel denken. „Zehn Jahre Punk“ z.B. Also erst höhnisch sagen, daß Gott sie schützen soll, und das Gegenteil meinen (das ewige Heiligsprechen der Sex Pistols ist mindestens so nervtötend wie bei der vorangegangenen Generation der Umgang mit dem Erbe Jim Morrisons, den ich für meinen Teil übrigens zur Gänze rehabilitiert habe, falls das irgendwen interessiert) und zehn Jahre später einfach behaupten, daß sie tot ist, obwohl das doch gar nicht stimmt.
Alle verstehen natürlich auch die einfache Symbolik des Titels, die Queen steht für England, die Werte, das Alte, das nur noch als Illusion etc., mithin heißt der Satz „The Queen Is Dead“, wenn er schlau gemeint ist, „Kohl is alive“, ist aber wahrscheinlich gemeint wie „Thatcher is alive“. (Es ist nicht meine Art stundenlang LP-Titel auszuloten, ich heiße Diedrich, aber du kannst auch Heidegger zu mir sagen, nein, aber die Smiths sind selber schuld: ihr gemeines Talent für den umwerfenden Slogan verlangt die umwerfende Abarbeitung des umwerfenden Slogans – auch wenn man alles andere darüber vergißt –, bis nichts mehr vom Slogan übrig bleibt. So ist das mit rätselhaften Dingen: jeder will spielverderberisch kaputtmachen und lösen, aber die Rätsel wissen das und wollen das auch, denn das Rätsel, die Vieldeutigkeit, das Enigma – sie alle sind kleine Sadomasos.)
Das mit Kohl und Thatcher will ich kurz erklären (dann kommen wir wieder auf das Dandy-mit-Labour-Parteibuch-Problem zu sprechen und dann auf die Texte im allgemeinen, auf das, was Morrissey dazu sagt, auf die Musik und zum Schluß auf den „Pun“ als alles einwickelnde Crux, Nahtstelle der britischen Zivilisation von William The Conqueror bis Gary Lineker):
Jeder hat also das Gurkentruppenfinale gesehen, komplett mit Gurkenkanzler in Gurkenbananenrepublik-Stadion mit Dritte-Welt-Bourgeoisie-Prachtkulisse, das dann ein militärisch besiegtes, hochverschuldetes Land gewonnen hat. Wacker gekämpft, die Gurkentruppe, ganz ohne Koketterie und Faible für DIE ANDERE MEINUNG: ich hatte sie wirklich gerne, die wackere Gurkentruppe, und ich kann das Renegatengerede eines Bernd Schuster, von wegen gut, daß wir verloren haben, nicht mehr hören, es war nicht gut, aber meinetwegen gerecht, aber eigentlich auch das nicht, denn der deutsche Fußball war gerade im Begriff, wider alle Zufälligkeiten, die den Fußball und seinen Reiz als Allegorie des Lebens (in dem auch alles zufällig ist) ausmachen, eine Kontinuität einzuführen, eine Regel, die Regel vom WILLEN und von der Verläßlichkeit des SPEZIFISCH Deutschen im Fußball, was bequem und schön gewesen wäre, so als hätte man im Leben einfach den Tod abgeschafft. Egal.
Auf jeden Fall war das Gurkenszenario real. Illusion dagegen eine Woche später der weiße Wunderknabe Becker, der Herrenmensch-Präsident, die deutsch-englische Freundschaft und über allem eine Queen, die alles Deutsche ins zweite Glied zurückstufte. Die Queen ist wirklich das einzige Staatsoberhaupt der Welt (neben Gorbatschow, Gonzalez und Castro), das vollkommen zu Recht eines ist, und nebenbei das netteste, das einzige wahre eben (und wie das einzig Wahre immer: eine schöne Illusion). Wie sie beim Gala-Essen die Fenster öffnen ließ und bemerkte: „Es ist mir egal, wenn David Steel die Vorhänge ins Gesicht wehen.“ Wie sie ihre herrliche Familie herumkommandiert, wie sie Thatcher haßt und sich nur mit Harold Wilson verstand, der ihr seine Pariser Nachtleben-Erlebnisse zu beichten pflegte. Wie ihre Schwiegertochter immer strahlender, während Fergie von Tag zu Tag murkeliger wird, wie also die Geschichte auch hier sinnvoll moralisch-ethisch einwandfrei waltet, indem sie dem liebenswerten Trottel Charles die nettere Ehefrau und dem haltlosen Playboy Andrew ein vollschlankes Murkelchen zukommen läßt. Wie dieser Trottel dann mal wieder in London irrlichtert, in einen Pub gerät und dort mit dem Wirt über seine liebste Radio-Show(!) chattet (Wo leben wir?), der „Prince Of Ales“ (The Sun) in einem Pub mit dem Namen „Windsor Castle“! „Properly named“, weiß er zu bemerken. Was meint er, die Frotteehandtücher, die statt Bierdeckeln auf der Theke liegen, wie in allen Pubs? Kennt jemand eigentlich seine selbstgemachten Super-8-Slapstick-Stummfilm-Albernheiten mit dem Prince in der Hauptrolle (ich schweife ab)?
Gut, das ist also Illusion, damit ist auch die Pop-Welt Illusion, Doppeldeckerbusse, Linksverkehr und was sonst so dieses Land zusammenhält, alles Illusion? Wahr sei dagegen Maggie Thatcher. Die Frau, die sich immer mit der Queen herumschlägt, eigentlich doch nur die andere Seite der Medaille dieser britischen Feminokratie. „I have the best job in the world“, kontert sie der Queen: „Plus I’m elected“. Sie repräsentiert die Tatsache, daß die DDR ein höheres Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt hat als Großbritannien, genauso inadäquat wie Willy Brandt den Radikalenerlaß. Beide stehen für erfolgreiche Exekution ihrer Ideen, aber das Einzige, was Maggie Thatcher bislang erfolgreich exekutiert hatte, waren argentinische Soldaten (nicht exekutiert, sondern im Felde im Nahkampf von Gurkhas und anderen Killertruppen massakrieren lassen. Man nenne mich einen schwachen Menschen, aber ich weiß bis heute nicht, für wen ich im Falkland-Konflikt bin/war).
Sie ist nicht minder irreal als die Queen. Real und am Leben, und zwar im globalen Maßstab, ist Kohl, adäquate Repräsentation der Epoche (schön noch mal im Vergleich mit den 70ern (Schmidt) zu sehen, beim deutschen Derby in Hamburg-Horn). BRD ist real, GB romantische Projektion; Soundtrack zu diesem Zusammenhang by The Smiths.
Ich sage The Smiths verhalten sich zu Kohl wie The Jam zu Schmidt, sie sind die adäquate Repräsentation des heute möglichen Oppositionellen Jugendlichen (was in England immer einer ist, der als Dandy zu Hause angefangen hat, stolz, anders zu sein als die andern, um dann auf die Straße zu gehen und festzustellen, daß er genauso ist wie alle anderen, menschlich, es aber schafft, sich beide Grundgefühle zu erhalten – das ist, was ich Linksverkehr der conditio humana nenne. In Deutschland kommt die Rolle dieses Oppositionellen in der Schmidt-Ära einem Studenten zu, der sich nicht einmal die Fußnägel schneidet, und heute einem Studenten, der die Friedensbewegung peinlich findet, aber nicht weil er bessere Gedanken hätte, sondern weil er lieber allein ist mit seiner Tschernobylparanoia, so was wie Grönemeyer). Der Oppositionelle Jugendliche (nennen wir ihn kurz Oppi) ist immer genau die Figur, die eine wieselige, verquer-konfuse Undergroundbewegung auf den als Eisbergspitze aus dem Ozean ragenden, allgemeinverständlichen Punkt bringt (was nicht unbedingt schön sein muß, aber schön sein kann). (Wie bei gewissen Momenten von The Jam und anderen, wenn auch wenigeren, bei The Smiths).
In letzterem Fall ist der Oppi nicht mehr scharf, schnell, kantig und JUNG, sondern verspielt, poetisch, homosexuell und melodisch, beide aber interessieren sich für Politik, beide sind links (irgendwie), und beide sind vor allem Humanisten (sie fühlen sich mit, in und durch die Menge, die Massen, die vielen wohl). Vage und generalisierend betrachtet, ist der erste der ewige Mod oder Soul Boy und der zweite der ewige Dandy (obwohl auch ein Mod im Grunde eine Spielart des ewigen Dandytums ist). Beide, vor allem aber der 80er Typ, der poetische, aber engagierte Homosexuelle, sind die einzigen Menschentypen, auf deren Antifaschismus man sich verlassen kann, den ersten impft sein Jugendkult (wir denken uns unsere Jugend-Organisationen selber aus), den zweiten seine Homosexualität. (Es ist interessant, daß Nazis sich immer um Jugendkult und Homosexualität extrem bemüht haben, nachbildend oder vernichtend, die klassische Doppelstrategie.)
Nun sage ich nicht, daß Antifaschist zu sein, das Wichtigste ist, was sich ein junger Pop-Künstler vornehmen muß, eigentlich ist das eine langweilige Selbstverständlichkeit. Andererseits wohnt allem ästhetischen Oppi-tum immer an dem Punkt, wo es gut wird (wirklich gut), das faschistoide Teufelchen inne. Und hier stehen die Smiths für die totale Konsolidierung des rundum Antifaschistischen und dennoch ästhetizistischen, neuen Typus.
Nun mag man einwenden, die Smiths seien einfach langweiliger als The Jam (deren Nachfolge als die britischste Gruppe, die man hierzulande nie ganz versteht, sie angetreten haben), aber das müssen sie auch sein, denn schließlich sind sie die Band der 80er. „Nullösung“, sagte Ruff, und das stimmt, dies ist das Age der Nullösung. Man will nicht mehr etwas Ideales erreichen, man will nur von dem Bösen in Ruhe gelassen werden.
„Hat sich die Welt geändert, oder habe ich mich geändert?“ fragte Morrissey völlig zu Recht, denn wie soll man das heute noch wissen. Die eigene Schlaffheit, besser die terminale Biegsamkeit, die geradezu wundersam melodische Flexibilität der heutigen Wesen und die Tropfsteinhöhlenhaftigkeit der heutigen Zeit, der Welt, wie sie sich uns heute darstellt, gehen geradezu nahtlos ineinander über. (Ich und Welt, vereint zu einem einzigen Joghurt, oder Tee.) Was The Smiths für diesen Zusammenhang an AUSDRUCK zusammengebastelt haben, ist mindestens so prägnant, wie die von den Vertretern des Kultes der Prägnanz immer vorgeschobenen The Jam in ihren besten Zeiten waren. Will sagen: Wer The Smiths nicht mag, weigert sich, die Welt mit offenen Augen zu sehen (so wie sie heute ist). The Smiths sind kein Muddelpop, die Welt ist muddelig, aber die Smiths sind Nullösung-Glamour. Sie sind Was-ist-eigentlich-los-habe-ich-mich-geändert-oder-die-Welt-Nationalhymnen-Autoren, mindestens seit der letzten LP.
Auch wenn sie nicht vollinhaltlich begriffen haben, daß heutzutage weltweit die Welt Kohl ist, und noch zu glauben scheinen, die Welt sei Thatcher, ihre Musik weiß es, Johnny Marr weiß es, er ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen, er kann es heute besser denn je zuvor: aus dem begrenzten, willentlich begrenzten musikalischen Vokabular, das sein Geschmack und Morrisseys Stimme setzen, die schönsten, ein klein wenig bewegenden Gemmen zu schnitzen (schnitzt man Gemmen? Findet man Sie?), das bißchen Rührung und Wahrheit, das heute noch massenwirksamer Pop bewirken kann, herauszuholen. (Vielleicht sind die Smiths wirklich die letzte klassische, britische Pop-Gruppe, ehrlich und hilflos glamourös, Schmalspur-Dandys und Schmalspur-Politicos, aber Helden, oder sie sind die erste neue, gerade weil sie so klein und ungenial sind im Vergleich zu Beatles, Kinks, Led Zeppelin und Jam. Man wird sie einst lieben, wie alle, die in kleinen Zeiten versuchten groß zu sein, wie Johnny Ray oder Elvis Presley in seinen 60er Filmen oder was weiß ich wen und aus was weiß ich für Gründen). Weil alles, was Morrissey über England und Tiere und wider die Plagiate (In „Cemetry Gates“) lamentiert und in der empörten Brust kochen läßt, alles nur dem Willen zu Ruhm und Heldentum dient: „I’d still rather be famous than righteous or holy, any day.“ Und: „I must move fast you understand me / I want go down in celluloid history.“
Also das Soziale als Mittel zum Zweck für die Wünsche des archetypischen Brit-Dandys. Andererseits Dandyismus als Mittel zum Zweck für das Soziale, das so über die unwahren Formeln des wacker-spießig Mitmenschlichen zu so komischer, großer Pop-Wahrheit ’rübertranszendiert wird (wenn ihr wißt, was ich meine; man kann mir gerne vorwerfen, ich hätte zuviel Verständnis, ich weiß das, aber was soll ich machen?). Und dann dieser uralte Typus Ruhm, von dem Morrissey, der Anhänger abgeschmackter Helden wie James Dean (und Rimbaud und Baudelaire, wie ich annehme, Oscar Wilde gibt er jedenfalls zu, er ist sein Kronzeuge bei der Friedhofsdiskussion wider das Plagiat), träumt. Zelluloid – meine Herren, gibt es das überhaupt noch? „Celluloid Heroes“, das ist von den Kinks. Das ist Jahre her.
Man käme auch unendlich weiter, wenn man Ray Davies und Morrissey gegenüberstellte. Beide in der Lage, köstliche Freiheiten des Nichtsnutzes (at home und in der Straße streunend) wie die Nöte des Two room appartment at the second floor zu besingen, der eine optimistisch, der andere depressiv. Beide zentrale Figuren der Pun-Kultur: Der Pun, das klassische englische Wortspiel (zehn Jahre pun), der Grund, warum kein Zitat aus der englischen Sportpresse über Becker oder Beckenbauer ohne die phantasievollsten, geschraubtesten, erfindungsreichsten, metapherstrotzenden und dann doch wieder ganz einfachen und catchy Wortspiele auskommt, das, worin Shakespeare, ABC, Swift, Sterne, Chaucer und überhaupt die ganze anglophone Welt selbstverliebt baden, Sprache als Können, das Altmeisterliche an jeder englischen Äußerung, das Antidot zur amerikanischen Lakonie: Morrissey liebt die britische Literatur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, von da an beginnt für ihn das Elend, das er heute als komplett ausweglos und deprimierend schildert. Eigentlich kann man keine Musik mehr machen, eigentlich muß man sich umbringen. Daß es irgendwie doch zu gehen scheint, daß es die Smiths gibt, daß den Smiths, auch von ihren Gegnern, zugestanden wird, daß sie in eine bestimmte Ecke gehören – das sind die erstrittenen Resultate, die das Leben (für Morrissey) so gerade eben noch lohnend erscheinen lassen.
Viel vom Sympathischsten der Prä-Moderne, besonders in England, hat sich in die Pop-Musik, ins Song-Writing zurückgezogen und dort überwintert; Naives, aber Brauchbares, ja zuweilen aufregend richtige Persönlichkeiten wie eben Ray Davies, Morrissey und – believe it or not – Boy George. Dieser verträumt-traurige, unsystematische Blick auf das Leben und die Welt schafft es immer wieder, erstaunlicherweise, sich, immer im aktualisierten Ton, der jeweiligen Gegenwart mitzuteilen, ja sogar die kleine Wahrheit zu sagen. Auch wenn er eigentlich nur wimmert und/oder sich wie Jesus am Kreuz fühlt, er kriegt es immer wieder hin, daß wir alle es uns anhören, daran schmecken und unsere Welt darin finden (mehr davon als so ein Morrissey vielleicht ahnt).
Wenn er dem zeitgenössischen Winseln (seinem eigenen) ein Maximum an Prägnanz abtrotzt, ist er der größte Realist. Er glaubt, sagt er, daß Thatcher uns alle killen könnte. Mit einem Donnerschlag oder so. Es ist anders, es ist Kohl, er killt uns nicht, er läßt uns nur verenden, nicht mit einem Knall, mit einem Winseln. Morrissey, der Sprecher einer Generation.
Mit „The Face“ hat ja das ganze Elend begonnen. Vorher war die Stadtzeitungspest ja noch eine ehrlich-mufflig-schleißige gewesen, plötzlich sahen sie alle nach was aus, von Bremen bis Kassel und über Bochum-Nürnberg wieder zurück. Die wenigen Stadtzeitschriften, die weiter auf grau-schwarzem Dreckspapier Unbedarftheiten äußerten, wurden wie von selbst zu besten Freunden. Schöne Dinge für weltoffene Oberhausener. Die Hip-Kaffeekanne für den Prefab-Sprout-Fan aus Göttingen. Dann kam der zweite Akt, die Stadtzeitschriften wurden bundesweit, und niemand konnte sich vor ihrer Liebe schützen. Sogar von mir haben sie, gegen meinen Willen natürlich, ein uraltes Statement aus dem Zusammenhang gerissen und gedruckt: Aber über „Tempo“ brauchen wir jetzt eh nicht mehr zu reden, da deren vollkommen grenzenlose Widerwärtigkeit ja weitgehend durchschaut und akzeptiert ist (als solche). Sie halten sich Beruhigungs-Kolumnisten, die ihnen und ihrer Leserschaft erklären, daß man sich um Hipness nicht mehr zu bemühen braucht (weil das Geschwindigkeit, mithin Tempo erforderte und der österreichische Verstand eher ein langsam, gemütvoller, leider gelegentlich sogar ein pfiffiger ist, was das schlimmste ist), um dann für ihre Parties das zusammenzukaufen und aus England einzuschiffen, was sie für hip halten. Die gleiche Beruhigungsschreibe über Zodiac Mindwarp, deren Fotos ein Art Director in „The Face“ gesehen hat und daraufhin den armen Musikschreiber zwang, etwas zu dieser Gruppe, von der er bestimmt noch nie einen Ton gehört hat, abzuproben. Dieser, von irgendwo und aus dem eigenen Hause gehört habend, daß getürkte Hipness à la Sigue Sigue Sputnik nicht mehr hip ist (in SPEX gelesen), aufgrund einfacher Analogien schließend, daß es sich bei Mindwarp um dasselbe handelt, beruhigt sich und alle anderen mit einem Artikel, der in etwa sagt, daß man heute wirklich nicht mehr alles zu kennen braucht, was sich die jungen Leute da ausdenken. Angeschmiert! Zodiac Mindwarp sind wirklich gut (bzw. gerade gut). Es steht in SPEX. Hier.
Aber ich wollte ja eigentlich von „The Face“ reden, denen man die Scheiße als Urheber in die Schuhe schieben kann, die aber in der neuen Nummer es wieder geschafft haben, mich mit einem Foto auf die Art fast zum Weinen zu bringen, wie es sonst nur das Foto von John Ford, James Stewart und John Wayne während einer Drehpause von „The Man Who Shot Liberty Valance“ vermag, mit einer Fotografie nämlich, die die beiden rührenden Human-League-Hühnchen vor einem Reklameschild in Sheffield zeigt. Und dazu der Satz: „Hat es sich gelohnt?“
„The Face“ können eben aus dem Vollen schöpfen und finden doch noch das eine oder andere Korn. Und sie trauen sich wenigstens mittlere Kühnheiten und drucken einen Text über Dimitri Schostakowitsch. „Tempo“ kauft sich den abgehalfterten Dauer-Nummer-Eins-DJ Jay Strongman und druckt eine Fotostrecke über Hunde mit schrillen Sonnenbrillen (Headline: „indognito“), Kolumnist Glaser geißelt schonungslos den Kulturbetrieb am Beispiel von (na wen hat sich der schonungslose Geißler wohl ausgesucht?) Fritz J. Raddatz. Wow! Leichen exhumieren und feststellen, daß sie tot sind, pfui Spinne, die berühmte österreichische Morbidität! Aber im Gegensatz zu früheren Vertretern dieser Gattung trauen sie sich heute nur noch an Leichen, die garantiert schon zu Staub zerfallen sind.
Womit wir beim „Wiener“ sind, diesem Blatt, das auf den ersten Blick drei Gramm weniger scheußlich ist als „Tempo“, weil es sich a) um Seriosität zu bemühen scheint (obwohl sich Seriosität zu Sloterdijk verhält wie Pietät zu Peter Glaser), b) ein Interview mit Albert Oehlen zustande bekommen hat und c) die Auslassungen des schwulen, grünen Bundestagsabgeordneten zu den Oberkörpern des WM-Aufgebotes ganz lustig waren. Auf den zweiten Blick wird klar, daß der „Wiener“ eine eiskalte miese Schweinemaschinerie ist, die nur in der Lage ist, besser wichtig und unwichtig zu unterscheiden als „Tempo“. Abgewichste Profis eben, die Porno-Fotos drucken und dazu schreiben: die Träume der Bürger. So perfide und so weit konnte bei Tempo niemand denken: Scheiße und Spekulation und menschenverachtende Scheiße zu rechtfertigen, indem man einen aufklärerischen Satz darüberlügt. Da sind die liebenswerten „Tempo“-Trottel, die alles falsch machen, nur noch aus dem einen Grund hassenswert, daß sie sich eben immer noch viel zu sehr in Dinge einmischen, die sie nichts angehen (Pop, Politik und dergl.). Als Feinde vom Dienst, als Verkörperung des grundsätzlich Falschen, das Journalismus immer ist, wenn ihn ein Großverlag finanziert, eignen sie sich als Nachfolger des „Stern“. Wenn sie mal zufällig die richtigen Leute kaufen, wie einmal Tony Parsons, versauen sie seinen Artikel, bis man ihn nicht mehr wiedererkennt. Als Indikator für das Endgültig-Falsche, für das, was wirklich niemand mehr machen sollte, ist „Tempo“ vielleicht sogar so etwas wie unverzichtbar.
Das einzige Blatt, das trotz viel Geld gut ist, ist „Spin“, das von „Penthouse“-Verleger Guccione für seinen Sohn eingerichtete Spiel-Unternehmen, das enorm davon profitiert, daß mit Glenn O’Brian an entscheidender Stelle ein Guter sitzt, dem sich das Geld (das böse) offensichtlich vollständig unterworfen hat. Der andere Vorteil von „Spin“ ist, daß es anders als „The Face“, „Tempo“, „Wiener“, Stadtzeitschriften einen Gegenstand hat (Musik) und nicht nur einen Anlaß (Anzeigengeschäfte).
Womit wir bei den Kunstzeitschriften wären, wo auch endlich eine grundsätzliche Stellungnahme nötig ist, denn viele der Diskussionen, die heute wirklich von Interesse sind, finden zuerst in den Kunstzeitschriften statt. Mit den Zeitgeist- und Stadtzeitschriften haben diese Blätter in der Regel gemein, daß sie nur der Anzeigen wegen existieren, mit den Gegenstand- und Musikzeitschriften, daß sie über etwas reden, das es gibt, sich keine Hunde mit Sonnenbrillen ausdenken müssen (auch wenn die Lektüre von Kunstzeitschriften helfen kann zu wissen, wo diese Idee geklaut ist, bei William Wegmann nämlich, dem Fotografen, Zeichner und Videokünstler, der unter anderm das Cover der letzten B-52s-LP gestaltet hat).
Es gibt drei Sorten von Kunstzeitschriften: Sammlerorgane, die einen lehren, die Kunst zu hassen, was für den Anfang ja gut sein kann, denn die beste Kunst entstand immer aus dem Haß auf die Kunst. Allgemeine Orientierungsblätter, die alles drucken, was Anzeigenkunden (Galeristen) ihnen nahelegen. Hier ist alles möglich, der Guattari-Text ebenso wie Wolkenkratzer-Zen-Buddhismus, und drittens Kunstzeitschriften, die Politik machen, die etwas behaupten, wobei sekundär ist, ob das, was sie behaupten, richtig oder falsch ist.
Ganz unten rangiert natürlich „Art“, das Massenkunstaufklärungsblatt aus dem Gruner & Jahr-Verlag, das von jeder Hitzigkeit, jeder Debatte, jeder Aktualität so weit entfernt ist wie die Horst-Antes-Gemälde auf den Deutsche-Bank-Kalendern in den Wartezimmern ihrer Klientel. Das Blatt liefert allenfalls milde amüsanten Klatsch aus Gremien und Kulturbürokratie, und es wundert einen nur, daß ein Schreiber wie Jörg-Uwe Albig, der als letzter der „Szene Hamburg“ zu Niveau verholfen hatte, hier zwischen „Für Sie entdeckt“ (garantiert oberbeknackte junge Künstler) und „Sammler mit Courage“ (was man alles in die sprichwörtliche Zahnarztpraxis stopfen kann, ohne daß der Bohrer aus der Reihe tanzt) seine Zeit verschwendet. „Kunstforum“ ist ein biederes, teures Büchlein, daß sich in jeder Nummer viel zu lang meist herzlich irrelevanten Themen widmet, der „Wolkenkratzer“ ist die Zeitgeist-Kunstzeitschrift, die alles druckt, was die unsägliche Karin Aderhold für hip hält, und auch sonst durch gläubige Ignoranz z.B. gegenüber jeder mystischen Scheiße aus Italien auffällt. Wer den galoppierenden Unsinn, den ein Enzo Cucchi in der letzten Nummer von sich gab, unkommentiert bzw freundlich kommentiert abdruckt, kann auch nur noch als Geigerzähler für die Radioaktivität falscher Gedanken ernst genommen werden. Natürlich gibt es hier, man muß das erwähnen, zwischen all dem blühend-blöden Pier-Luigi-Tazzi-Geschreibsel hin und wieder unabsichtlich etwas – wie das Interview mit einem Anti-Dissidenten-Dissidenten aus der UdSSR –, das lehrreich ist. „Flash Art“ (aus Italien, in Englisch, mit einem deutschen Text-Supplement) druckt ebenfalls alles, ist anzeigengeil, konfliktscheu, frönt nur zu gern der Form des unzensierten Idiotenkünstlerinterviews, hat aber wirklich großartige Momente: In der letzten Nummer fand sich hier, exakt zwei Jahre, bevor es vielleicht im Merve-Verlag erscheinen wird, ein flammendes Statement von Felix Guattari, eine Philippika gegen Lyotard und die Postmoderne, in der Nummer davor Jutta Koethers „Pure Invention“, und immer schön ist es, wenn das tschechisch-italienische Herausgeberpärchen Giancarlo Politti/Helena Kontova sein Bettgeflüster, als souveräne Konversation über die internationale Lage ausgegeben und mit Titeln wie „Zwei Italiener in New York“ versehen, veröffentlicht.
In der letzten Nummer brachten 95 % aller lebenden Kunstzeitschriften einen Auszug aus einem Gespräch zwischen Beuys, Kiefer, Cucchi und Kounellis, das die Schweizer Zeitschrift „Parkett“ als Sonderdruck herausgebracht hatte. Obwohl Beuys erst zur zweiten Hälfte eingewechselt wird, machen seine Beiträge den Preis von nur DM 45 für das Buch wett! Wer sich über die Qualitäten dieses Mannes, der sich gegen eine Flut schleimigster Nachruf-Publikationen (besonders kitschig: Heiner Bastian) nun nicht mehr wehren kann, noch nicht im klaren war, lernt hier jemanden kennen, der wirklich auf jede Frage eine Antwort weiß und die ganze Welt erklären kann. Darüber hinaus kanzelt er den griechischen Hippie-Spinner Kounellis ab, läßt Cucchi, der glaubt, Tiere hätten einen besseren Kontakt zum Universum, weil sie einen Schwanz haben, ins Leere laufen (Beuys: Es gibt auch Tiere ohne Schwanz) und stuft Kiefer, den Großkünstler, zurück in die Rolle des Studenten, der interessierte Zwischenfragen stellt. Empfehlenswert. Auch sonst ist „Parkett“ nicht schlecht, sehr eigensinnig-egoistisch gemacht, leider von einem äußerst dubiosen Kunstgeschmack (Brice Marden, Markus Raetz, Kounellis etc.) geprägt, aber immerhin von einer Vorstellung gezeichnet, von überhaupt etwas geprägt, und wenn es ein netter Schweizer Eigensinn ist – mir ist’s recht. „Art Forum“ aus New York ist der „Spiegel“ unter den Kunstzeitschriften. Machen nie nichts offensichtlich falsch (außer den Beiträgen ihrer deutschen Korrespondenten), sind schwerfällig, langatmig, aber nie flach und vor allem lesenswert wegen Thomas McEvilley, Glenn O’Brian und vor allem wegen Greil Marcus’ Musik-Kolumne.
Die beste Kunstzeitschrift, sozusagen das SPEX unter den Kunstzeitschriften, ist das von einem Fanzine nach und nach großer gewordene „Artscribe“ aus London. Hier veröffentlichen Kunstschreiber aus aller Welt ihre besten Artikel, gute Künstler wie Art & Language schreiben Reviews, und die Diskussion des Zeitgenössischen findet unabhängig von den auf ein hohes Anzeigenaufkommen angewiesenes Farbseitenzwängen statt. Seit kurzem wird Herausgeber Matthew Collings von einem amerikanischen Sammlerehepaar mäzenatisch unterstützt, und sein Blatt dürfte auch in hiesigen Kunstbuchhandlungen zu bekommen sein.
Übrigens haben wir jetzt einen Strafkatalog für unsere Mitarbeiter festgelegt. Artikel in „Tempo“ bringen 500 miese Punkte, im „Wiener“ 250, im „Musik Express“ 125 miese, in „Indiskret“, „Blitz“, „Hiero Itzo“, „tip“ 100 miese, im „Wolkenkratzer“ und jeder anderen Stadtzeitung 50 miese, für Artikel in „Konkret“ und „Artscribe“ schreibe ich mir zehn gute. Wer mehr als 2000 Miese zusammenhat, wird im Rhein gefunden, da, wo’s am tiefsten ist. Ausnahmeregelungen, die im Volksmund „Lex Scheuring“ heißen, bleiben geheim.
PS: Nach Beendigung der Dreharbeiten an diesem Artikel passierte doch tatsächlich Folgendes, Das Telephon klingelte in der Redaktion. „SPEX-Verlag, Diederichsen.“ – „Sprech’ ich mit dem Dietrich Dietrichsen?“ – „Ja.“ – „Ja, hier ist Hutzliputzli aus München, ich führe gerade eine Umfrage durch: Wer wird Fußball-Weltmeister?“ – „Mmh, ah so. Für wen machen Sie denn diese Umfrage?“ – „Für, äh, ‚Tempo‘.“ – „In diesem Falle möchte ich nichts dazu sagen.“ – „Was? Ist das so hart?“ – „Das ist nicht hart, es ist doch nur normal, daß man sich nicht in ‚Tempo‘ gedruckt sehen möchte, oder?“ – „Tja, da kann man nichts machen, trotzdem vielen Dank, auf Wiederhören.“ Dritte Person in der Redaktion: „Wetten, daß im nächsten ‚Tempo‘ in der Umfrage zur WM stehen wird: Dietrich Dietrichsen, Werbetexter: Ich möchte mich jetzt noch nicht dazu äußern, wetten?“
In Spanien gibt es seit zehn Jahren eine parlamentarische Demokratie, seit ein paar Jahren eine sozialistische Regierung, die erst den Austritt und dann den Eintritt in die NATO befohlen hatte und mit beidem erfolgreich war. Seit 100 – 150 Jahren, hochgerechnet seit Goyas Zeiten oder seit den Karlistenkriegen, sagt man das Mittelalter sei vorbei. 1898 riefen hervorragende Schriftsteller, die außerhalb Spaniens kein Mensch kennt, die „Generacion de 98“ aus, was sich auf die Niederlage im spanisch-amerikanischen Krieg bezog und den Verlust der letzten Kolonie, Cuba, in den Mittelpunkt der Idee eines neuen Spanien stellte. Die Anhänger dieser Generation wie Miguel de Unamuno, Pio Baroja, Azorin und vor allem Ramon del Valle-Inclan, waren die ersten spanischen Schriftsteller von Weltgeltung seit dem „sogenannten „Sielo de Oro“, der Epoche, die Lope de Vega, Calderon, Tirso de Molina, Luis de Gongora, Francisco Quevedo und Baltasar Gracian hervorgebracht hatte. Dazwischen gibt es im 19. Jahrhundert nur den von der anglo-amerikanischen Modernen (Pound) sehr geschätzten Benito Perez Galdos, den spanischen Flaubert.
Die berühmten Spanier gehören, mindestens theoretisch, zum Teil auch praktisch zur „Generacion de 27“. 1927 jährte sich zum dreihundertsten Mal der Todestag von Luis de Gongora y Argote, einem manieristischen Lyriker aus Cordoba, ein strenger schlecht gelaunter Querkopf, eine Art Barock-James-Joyce, den Velazquez einmal portraitiert hatte und der bis 1927 als marginale, dekadente Seitenlinie der spanischen Kultur betrachtet wurde. Doch ein Jahrhundert, nämlich dieses, das auch El Greco durch den Einsatz von Privatpersonen zu seinem verdienten Ruhm verhalf, schaffte es auch, den allemal interessanten Gongora, für seine Zwecke umzudeuten. Vor allem Garcia Lorca, neben ihm Gerardo Diego und Jorge Guillen, setzten ein Gongora-Bild in Umlauf, demzufolge der große, griesgrämige Manierist in Wahrheit die von vornherein poetische Volkssprache Andalusiens, namentlich der „Gitanos’“ geschrieben hätte, freilich zu hoher Künstlichkeit verdichtet und mit antikischen Bildungsgut angereichert. Wichtig aber diese Idee: folkloristisch sei in Spanien gleichbedeutend mit manieristisch, bizarr, surrealistisch. Alles Vernünftige, Narrative etc. sei Import und nicht genuin spanisch, also: Dieses Volk braucht keine Moderne, es war schon immer modern. Garcia Lorcas Künstlerfreunde Dali und Bunuel mögen dazu genickt haben, Picasso hat später Motive aus den „Soledades“ von Gongora illustriert.
Wir sehen: die spanische Geschichte war eine Rückprojektion, eine Erfindung dieses Jahrhunderts, die im Rückgriff auf El Greco und Gongora dreihundert Jahre unproduktiven, wenn auch meiner Meinung nach nicht minder bizarren und nutzbaren Dunkels, kurzerhand zur Fremdherrschaft erklärte.
Kurz nach diesem Gedanken starben alle Dichter oder wurden ermordet oder ins Exil getrieben, wo sie auf die bereits vorher abgewanderten Künstler trafen und ein neues Dunkel begann. Zehn Jahre nach dem Ende dieses Dunkels, kommen, wie auch genau zehn Jahre nach der Erfindung der „Generacion de 27“ die Intellektuellen und Künstler Europas nach Spanien, um der Beseitigung des Dunkels auf die Schulter zu klopfen. Was sie sich erhoffen, dürfte sich von dem, was die Kämpfer der internationalen Brigaden erhofften nicht so verschieden sein: Umwälzung und Poesie, die sich nicht bekämpfen, sondern gegenseitig bedingen: Anarchismus. War Spanien nicht das einzige Land, wo bei den wenigen Parlamentswahlen, die dieses Land gesehen hat, fast die Hälfte der Bevölkerung anarcho-syndikalistisch gewählt hatte? War es nicht das einzige Land, in dem der Gedanke der Revolution sich noch nicht an Unschuldigen vergriffen hatte und Gulags gebaut hat? Ich behaupte nicht, daß Orwell und Hemingway große Geister gewesen seien, eher waren sie romantische Idioten, die sich wünschten, was es nicht gibt, eine Revolution, die dringend surreale Epigramme, knarzigen, amerikanischen Vulgär-Realismus und angeheizte Labour-Phantasien braucht.
Auch heute kommen die Menschen nach Madrid, weil sie von der „Movida“ gehört haben, einer hedonistischen „Bewegung“, der Enrique Tierno Galvan, der letztes Jahr verstorbene Altsozialist, Literatur-Professor und Bürgermeister der Stadt persönlich vorgestanden hätte. Sie suchen den neuesten Ort und sie können zurecht hoffen, auf den Einfallsreichtum der Spanier, ihre Geschichte, die nicht etwa umgeschrieben werden mußte, wie die deutsche, sondern neu erfunden werden, rückwirkend attraktiv zu gestalten.
Rafael Alberti zum Beispiel, ein Greis mit einen bewegten Leben, 27er, mit dem Lyrikband „Sobre Los Angeles“ in den frühen 30ern Surrealisten-Anführer, KP-Aktivist, nach dem Exil KP-Senator für die Provinz Cadiz, heute Grand Old Man, macht von sich reden, indem er für die Feier „Valencia – 50 Jahre Hauptstadt der Republik“ – Valencia war Hauptstadt als Madrid zu gefährdet war und auch bald fiel – eine Postkarte mit der Flagge der Republik entwirft.
Ramon del Valle-Inclan, zu gleichen Teilen Anhänger der alten spanischen Aristokratie wie Lenins („Es gab nur drei große Männer: Jesus, Mohammed und Lenin“) macht von sich reden durch eine Ausstellung zu Ehren seines 50sten Todestages (Bezeichnenderweise starben viele geistigen Riesen der Republik im Jahre 36). Diese hervorragende Ausstellung würdigt den Mann, dem es beispielhaft gelang, in seiner Person den Sprung vom Feudalismus zur klassenlosen Gesellschaft zu vollziehen. Was ist Kommunismus anderes als Aristokratie für alle?
El Cordobes macht von sich reden. Der einzige Sixties-Held, den Spanien hervorgebracht hat, der Beatle des Stierkampfes kehrt zurück in die Arena, um für die Erdbebenopfer in Kolumbien zu kämpfen. Bull-Aid.
Erstaunlicherweise (oder auch nicht) haben die Sozialisten sich im Stierkampf für mehr Fairness für den Stier ausgesprochen. Scharfe Kontrollen sollen verhindern, daß es den Toreros zu leicht gemacht wird, abgefeilte Hörner kommen nicht mehr vor. Dies tun die Sozialisten aber nicht aus Tierliebe, weswegen vielleicht die Labour-Party es getan hätte, sondern um den Wert des Stierkampfes zu erhöhen. Als Kinder der Aufklärung könnten sie schulterzuckend derlei Atavismen links liegen lassen und nicht zum Regierungsgeschäft machen. Aber ganz im Gegenteil, Stierkampf soll ein reeller Spaß sein und das sozialistisch besetzte Stierkampf-Ministerium steht für den hedonistischen Kurs dieses Hispano-Sozialisten. Wie die deutsche SPD zwischen 69 und 72 oder Labour unter der ersten Regierung Wilson sorgen sie im ganzen Lande für Spaß und gute Laune, ohne es sich politisch mit der spanischen Bourgeoisie auch nur im geringsten zu verderben. Sie genießen das Vertrauen der Industrie, wie alle Sozialdemokraten, und schaffen es das Land von vorne bis hinten nach Boom aussehen zu lassen, obwohl sie nach wie vor die Arbeitslosen-Charts Europas anführen.
Das, wenn man so will, Postmoderne an dieser Regierung ist, daß erstmals in der Geschichte Gute Laune nicht mit wirtschaftlichem Aufschwung zusammenfällt. Es ist die erste Regierung Europas und die erste sozialistische, die sich um Politik einfach nicht kümmert (nicht sichtbar), Maitre De Plaisir ist sie, Animateur. Big Fun. Die Bettler in den Strassen sind selbstverständlich gut verdienende Angestellte des Ministeriums des Pittoresken.
Nun mag uns unser Eindruck täuschen, da wir uns auf unseren Reisen vorwiegend in Madrid aufhalten. Spanien ist ja aufs Verbissenste in den Regionalismus geraten, was dieses Land noch interessanter macht. Die Lokalregierungen, etwa im Baskenland oder in Katalonien, haben eine völlig andere Vernunft als die Zentralregierung, ihr Haß auf Madrid, ihre bizarren, regionalistischen Projekte und Ideen sind ein Quell der Freude für alle Autonomisten und anarchoiden Linken und ein junger Deutscher muß sich vom Dekan einer der größten Universitäten Spaniens, dessen Bruder der Bürgermeister der dazugehörigen Stadt ist, als reaktionäre Sau beschimpfen lassen, weil er nicht mit der RAF gekämpft hat. Die Sucher nach der pittoresk-poetisch-romantischen Revolution werden in Spanien trotz der gerne beklagten depolitisierten Jugend, noch immer reichlich fündig.
In Madrid zelebriert dagegen das Ministerium für Fun and Excitement eine Show, Messe, Massenausstellung, Museumseinweihung, Open-Air-Hommage-an-tote-Dichter, Umfunktionierung-von-Ministerien-in-Boheme-Cafes-und-Ausstellungsräume nach der anderen.
Im Zug beklagt ein Belgier, daß in Belgien seit dem die Sozialisten regieren, die Kneipen und Cafes früher zumachen und das Nachtleben von Brüssel verflacht sei. Zwei spanische Lebemänner antworten mit einem Lachen, das aus ihrem tiefsten Inneren kommt: „Wir haben auch Sozialisten, aber die Stimmung wird immer besser, very leeeetle socialism, very leeeetle.“
Es ist unmöglich Madrid nicht zu genießen: keine Sperrstunden, unzählige Clubs, klein und groß, unendlich viele Möglichkeiten sich Bauch und Birne vollzuschlagen (Tapas, erlesene Schnäpse, eine „Schinkenboutique“, ein „Schinkenmuseum“, Pilze, Tintenfische in eigener Tinte), man genießt die breitesten Strassen Europas, die höchsten, reich verziertesten Portale, die heißesten architektonischen Eklektizismen – das 19. Jahrhundert muß hier eine Epoche galoppierenden Wahnsinns gewesen sein – selbst die Restaurants der McDonalds-Kette konnten nicht umhin sich dem verschwenderisch-hedonistischen Gepräge der Hauptstadt zu unterwerfen: In dem, in einem hochwandigen, ehemaligen Cafehaus untergebrachten Laden prangt eine konstruktivistische Intarsien-Variation über die berühmten Arkaden des M, den Arkaden der Hoffnung, wie ein berühmter amerikanischer Sänger einmal gesagt hat. Und der neueste Burger ist ein in einen Hamburger eingelegtes Stückchen („Pincho“) Tortilla.
Überlassen wir uns der Suche nach der zeitgenössischen Kunst, besuchen wir die Unterhaltungsveranstaltungen der Kunstministerien! Unweit von dem gigantischen Columbus-Denkmal prangt ein riesiges, rosanes Transparent über einen Platz, das sagt: Madrid-Paris-Londres-Roma-Berlin. Das zeigt einen Kongreß sämtlicher Architekten-Stars Europas an. Nur wenige Kilometer, in dem der Communidad de Madrid zugehörigen Städtchen Alacala de Henares findet der alljährliche Kongreß der spanischen Jung-Philosophen statt. Dieses Jahr ist das Thema „Ende der Moderne“. Eigentlich absurd, wo dieses Spanien nichts anderes kennt als Moderne, Moderne ist hier der naturgegebene Zustand, keine Epoche, es gab kein Prä, und wie unser Rundgang uns beweisen wird, es wird auch keinen emphatischen Post- geben: In Spanien explodiert mit unbekümmerter Gleichzeitigkeit alles, was denkbar ist und ordnet sich nicht in Perioden.
Nächstes Jahr werden sich die Philosophen in dem katalanischen Badeort Sitges treffen, denn geht es um „Zeit und Sprache“ – Was das nun wieder heißen mag? Man sollte nicht vergessen, daß das spanische Wort für Wetter mit dem Wort für Zeit identisch ist: tiempo. Fast alle Galerien befinden sich im Viertel Salamanca, was Uptown Manhattan entspricht. Reiche, großzügige Läden voller Luxusartikel und wieder helle, breite, saubere Straßen und eilende Senoritos, wie Ortega Y Gasset, die nichtsnutzigen eleganten jungen Herren aus guter Familie, die Yuppies schon in den 3oer Jahren genannt hat. Zu den eigenartigen Rückständigkeiten, die zu Madrid gehören, gehört die Tatsache, daß die Galerien noch nicht die Idee des Umzuges nach downtown entdeckt haben, sie befinden sich alle noch an der 57sten Straße. Was unter anderem auch daran liegt, daß es in Madrid kaum ansässige Künstler gibt, die leben nämlich in Sevilla, Barcelona, Valencia, im Baskenland oder in Galicia; die verhaßte Zentrale dient lediglich dem Handel. Die sehr rege Bohemia im Leben Madrids – Musiker, Anarchisten, Philosophen und vor allem Modemacher und Fotokünstler – findet im Chamberri-Viertel statt, dessen weniger schicke, Punk-Anarcho-Variante im heruntergekommenen Rastro-Viertel, der Bronx von Madrid. Die erste Galerie am Platz, um nicht zu sagen die einzige mit Weltgeltung, ist die von Fernando Vijande. Im Gegensatz zu den anderen Uptown-Galerien macht sie einen kühlen, sachlichen Eindruck in ihrem Tiefgaragenraum. So fehlt der für spanische Galerien obligatorische schwere, süßliche Damenparfümduft, der über dem Land wie eine Duftglocke liegt und sich erst an den Pyrenäen bricht. Hier unten gibt es nur Kunstlicht und eine Ausstellung von Susana Solano, einer Bildhauerin aus Barcelona, die zur Zeit berühmt zu werden beginnt (Ausstellungen in London, Japan, Henry Moore-Preis). Hauptsächlich Eisenskulpturen, abstrakte, aber keineswegs konstruktivistische Formen, sehr rund und „weiblich“. Treppenelemente, Schalenformen, sich spreizendes Eisen, das aber nie ausufert. Sie ist 40 Jahre alt und streng, ihre Formen fest und massiv, aber niemals klotzig. Bei einigen Skulpturen hat sie – wie z. B. bei einer Art Wanne, die in eine Eisenplatte eingelassen ist – zusätzlich das Material Gips verwendet. Das Ganze sieht sehr eigen aus, sperrig, ohne den Weg zu verstellen, sehr rein und vorher nie so gesehen.
Der Kunstmarkt „acro“ wird geleitet von Juana de Aizpuru, eine spanische Joan Collins, die ihrerseits als Galeristin in Sevilla und Madrid tätig ist. Diese Interessenkollision hat zu einem Protest der Top-Galerien von Madrid und deren Nichtteilnahme geführt. Neben Vjande wird hier vor allem der Boykott der Galerie Juan Mordo bedauert, wo wir die Show des Malers Lucio Munoz sahen, einem typischen Vertreter der spanischen Moderne, die das Land vor dem momentanen Boom jahrzehntelang mit zäher, abstrakter Kunst versorgt hat, die verquälte Tapies-Schule. Abstrakte Schmutzfarben-Arrangements mit herzigen Materialeffekten. Die grandiose Neuerung, die der Künstler uns dieses Jahr beschert – er gilt hier wirklich als einer der ganz Großen – ist die Rückkehr zum Holz. Wow!
Aber die beste Galerie in Uptown Madrid ist keine private, sondern der Ausstellungsraum der Caixa de Pensiones, ein kunstsinniges Geldinstitut. Schon letztes Jahr sahen wir hier eine hervorragende Beuys-Ausstellung, diesmal gab es spanische Kunst der nach 1940 geborenen, eine Leistungsschau, die enzyklopädisch-vollständig und zufriedenstellend alles klärt, was die hin und wieder nach Nordeuruopa gespülten Package-Touren, offen ließen (vgl. London, Hamburg, Stuttgart).
Zum Beispiel kann man hier auch Ansätze zu Auswegen aus dem Kardinaldilemma der neuen, spanischen Post-Tapies-Kunst erkennen, nämlich dem, daß alles zu gut aussieht, daß man sich ständig in fiktionale Auseinandersetzungen mit Problemen der Geschichte hineinversetzt fühlt, daß man immer wieder Bilder sieht, die wie komplizierte Vatermorde/Verehrungen aussehen, aber von Vätern handeln, von Morden und Problemen, die man sich aus dekorativen Gründen zusammengesucht hat. Die Probleme, Ablösungen und Hommages an, über und mit der internationalen Nachkriegskunst sind künstliche, herbeigewünschte, halluzinierte Auseinandersetzungen. Diese Vorgehensweise hat einen gewissen Charme. Wenn man das hohle Pathos satt hat, mit dem sich immer wieder in Resteuropa Künstlergenerationen lautstark und marktkonform ablösen, ermorden und zu den Akten legen, ist es erholsam einer Kunst zuzuschauen, die notgedrungen die letzten 40 Jahre in einem Jahrzehnt abhandelt, sich zwanglos bedient. Da aber aufgrund eines Gesetzes, dessen Notwendigkeit und Herkunft wir auch nicht erklären können, das aber zweifellos Gültigkeit hat, nur in literarischen Schlachten gestählte Kunst auch bedeutende Kunst ist, ist dies hier allenfalls ein ästhetischer, im besten Fall ein intellektueller Abenteuerspielplatz.
Dabei ist ein weiterer Vorzug dieser spanischen Spielplatzkunst der, daß sie sich nicht wie die weltweit zur Zeit so erfolgreiche Infantilisten-Kunst aus New York, BRD und Exil-CSSR auch noch wirklich avantgardistisch ernst nimmt. Das tun dann aber eher diejenigen, die aus dem allgegenwärtigen Kiefer-Einfluß und dem ebenso allgegenwärtigen nationalen Tapies-Einfluß eine bräunliche Ursuppe gekocht haben, vor deren Hintergrund sie so etwas wie eine Innovation abzeichnen.
Wahre Intelligenz und Häßlichkeit sehen wir bei Guillermo Paneque, dem jüngsten Künstler der Caixa-Show. Paneque, Jahrgang 63 kommt aus Sevilla, wo auch die wichtigste, in „Artscribe“ schon erwähnte Galerie La Maquina Espanola wirkt und ist außerdem Chefredakteur der wohl besten spanischen Kunstzeitschrift „Figura“. Paneques kleine Formate erinnern ein wenig an die frühen Arbeiten von George Condo oder an David Bowes, triumphieren aber über deren reine Spaßigkeit durch grandios gräßliche Fehler, einen wesentlich bösartigeren Humor und souverän gesetzte Schrift. Paneque ist einer der wenigen, der auf das Anything-Goes der neuen spanischen Boom-Kunst bereits eine schlecht gelaunte, die Malerei und ihre marktkonformen, dekorativen Erfolge ablehnende Antwort gibt. Maria Corral, die Organisatorin, sagt bei einer im Rahmenprogramm des „Arco“ abgehaltenen Diskussionsveranstaltung, daß man sich in Spanien von Europa viel eher kolonisiert fühle als von Amerika, vom Design der Luxus-Züge (Talgo) bis zur Einrichtung der Cafeterias sind Parallelen zwischen den USA und Spanien augenfällig. Im Nachtleben hört man vorwiegend neue amerikanische Underground-Musik, nicht wie in Deutschland, Holland, Frankreich etc. englischen Pop. Schließlich sind die USA wie Spanien die untopischsten, unwirklichsten Nationen, die wir kennen, sie sind am stärksten von künstlichen Entwürfen geprägt … mit anderen Worten: die vielen offensichtlichen US-Einflüsse, die die Caixa-Show teilweise wie eine East-Village-Eröffnung aussehen lassen, sind mitunter auch ziemlich unbeeinflußt im Lande entstanden.
Jose Maria Bemejo und Juan Ugalde (beide Jahrgang 58) sind typische Beispiele. Bemejo könnte man zum Anlaß nehmen über den unbekümmerten Gebrauch halluzinogener Drogen durch die spanische Jugend zu spekulieren. Da die letzten Jahrzehnte zeitgleich ablaufen, ist psychodelische Kunst, die anderswo als Revival, als postmodernes Zitat, ja als die Postmoderne ad absurdum führende und darum heroische Reproduktion gescheiterter alberner Kunstrichtungen (Taaffe), in Erscheinung tritt, ist in Spanien beides: ungebrochene 60er-Euphorie, der unschuldige Glaube an das erweiterte Bewußtsein und das Revival all dessen, weil man ja weiß, daß die 60er seit zwanzig Jahren vorbei sind. Man ist halt nur nicht dabeigewesen. Trotzdem ist das dekorative LSD-Gekreisel von Bemejo, als Kunst unbrauchbar, allenfalls als T-Shirt-Muster oder Jugendzimmerposter denkbar. Ugalde ist einerseits von der Cutrone/Scharf/East Village-Szene beeinflußt, andererseits von der in Spanien überproportional wichtigen Comic-Kultur. Durch das cartoonhafte wird bei ihm, wenn auch auf ganz naive Weise, als einzigem Künstler der aktuellen Szene, politische Anliegen sichtbar, etwas, was dem Land, wo noch vor knapp zehn Jahren sich jeder Jugendliche ungefragt als Anarchist bezeichnete, zumindest im Zentrum Madrid, keineswegs an der regionalistischen Peripherie, verloren gegangen zu sein scheint (nicht das derlei naive Übersetzungen dessen, was eine liberale Öffentlichkeit für „politisch“ hält, für uns in Kunstwerke übersetzt gehört, aber eine Kunst, die sich aus naiven populären Medien wie Underground-Comics zu einem großen Teil ernährt, hätte dies früher abgebildet.).
Bei anderen, wie Carbrera, dann, neben New York, Arte Povera und Salvo-Quatsch. Wahrscheinlich ist italienische Kunst das einzig wirklich fremde, der einzige wirklich detektierbare externe Einfluß, dem in der spanischen Kultur keine Referenz entspricht, Kiefer und Graffiti dagegen entspricht, wenn man so will dem Spannungsfeld der spanischen Modernen: Albernheiten und Pathos – dazwischen tummeln sich die Heldinnen Garcia Lorcas. Asketische Abkehr und viel zu buntes Leben – das ist spanische Realität. Der Blick, der in Kunstwerken Bekanntes aus Resteuropa entdeckt ist mithin ein möglicherweise verfälschender und was aussieht wie Kiefer ist genuin spanisch.
Wie Gerardo Delgado, der Spanien bei der 86er Biennale vertritt. Eine Arbeit mit abgekokeltem Holz heißt „Der Wanderer“, eine andere „Die Ruinen“, eine weitere „Das Amphitheater“, letztere sind bezeichnenderweise unfertige (ruinierte!) Bilder (Idee!). Der sehr bekannte 44jährige steht paradigmatisch für die in der zweitjüngsten Generation dominierende Allianz aus der nach Innen emigrierten spanischen Modernen der Franco-Jahre mit Dinosaurier-Geschichtsbewältigern wie Kiefer, immer gut abgeschmeckt mit Heidegger (oder ist es Unamuno, der Autor des „Niebla“ – dann bitten wir um Verzeihung.) Der Einfluß dieser Haltung wirkt auch auf den seriöseren Flügel der jungen Stars und nennt sich dann „existenzialistische Malerei“.
Jose Maria Sicilia (Jahrgang 1954) konntet ihr ja auch in London schon sehen, er ist einer der absoluten Stars, lebt in Portugal und New York, dabei ist er der einzige spanische Künstler, der wirklich aus Madrid stammt und ist, wie man unlängst der „Flash Art“ in einem ihrer klassisch-kommentarlosen Interviews entnehmen kann, mehr am Gefühl als an allem anderen interessiert. Leider sieht man das auch.
Dann lieber der verspielte Bildhauer Juan Munoz (1953 geboren), dessen Verspieltheit nichts mit den als authentischem Ausdruck wunderbarer Infantilität gefeierten Arbeiten der Graffiti-, DiRosa- und Kunc-Kunst zu tun hat, sondern sich eher auf den Folklorismus/poetischen Realismus bezieht, den der Rückgriff der spanischen 20er-Jahre-Avantgarde auf Zigeunerkultur und ähnliches, in die Welt gesetzt hatte.
Kommen wir zu Dahn und Dokoupil: Ferran Garcia Sevilla und Miquel Barcelo. Garcia Sevilla macht in erster Linie Witze, und nicht die besten: „Achtung Menschen, hier spricht der 5. Prophet (O Gott! Jetzt habe ich schon wieder vergessen: was ich sagen wollte).“ Feinsinnige Deuter werden in diesem ins Bild geschriebenen Satz eine humorvolle Bestandaufnahme der Lage der Kunst erkennen. Im Gegensatz zu Dahn, an dessen Formen und Figuren Garcia Sevilla wirklich stark erinnert, wechselt er ungezwungener die Stile, flicht einen Baselitz ein, um anderswo seine Witze in fast grafischen Spielereien auszuleben. Dennoch kommt man an ihm nicht vorbei. Sein Bedürfnis, Kunst erstmal ziellos und ungezwungen zu verlachen, ist in Spanien legitimer als anderswo. Sicher sind derlei Scherze nicht die einzige denkbare Antwort auf eine Vätergeneration von tonnenschwerer Metaphysikerseriosität. Er macht das zwar allemal besser als seine noch jüngeren Comic-Kollegen, aber international sind diese Arbeiten eigentlich nicht von Interesse. Barcelo, die Nummer eins, ist raffinierter, wie eben auch Dokoupil ist er so raffiniert, daß es kaum auszuhalten ist, seine Raffinesse um der Raffinesse willen ist der vorherrschende Eindruck bei einem Künstler, der, wie eben auch Dokoupil, von Ausstellung zu Ausstellung viel zu viel dazuzulernen scheint, dies aber ist ein Lernen, das die Erfordernisse der Karriere weit besser befriedigt als die der Kunst.
Wie so viele charakterlos-begabte in der ganzen Welt ist auch er vorsichtig und bedacht genug, sein Können nicht auf die weltläufige Bedienung postmoderner ästhetischer Bedürfnisse zu beschränken, darüberhinaus ist er stets um interdisziplinäre Absicherung bemüht. Egal, ob er es den Zeichen der Zeit recht macht, wenn er gefällig Picassos Strich mit Keith Harings Design-Ideen in Schockfarben kombiniert, oder ob er in einem krumplig-geschichtetem Riesenbild jede Menge Buchrücken unterbringt, die all die nötigen Aufschriften tragen: Gongora, 1oo1 Nacht, F. Scott Fitzgerald, Antonio Machado, Nabokov, Poe, Henry James, Melville, Jane Austen, Ezra Pound, Shakespeare. Davor liegt ein Mann auf einem Bett, mit erigiertem Penis, um ihn der Wein und die aufgeschlagenen Bücher, die zu den erstaunlich unironisch zusammengesetzten Künstleridealen sich zusammenfassen lassen, die Barcelo zu hegen scheint. Man wird nach und nach verstehen, was das Gerede von der existenzialistischen Malerei bedeuten soll, und zwar: es ist wörtlich zu nehmen.
Schön an Barcelo ist aber trotz allem, wie er versucht ein nationales Ideal von inhaltlicher Malerei gegen die international in diesem Genre verpestete Luft zu setzen.
Aber es gibt auch eine, durchaus national-eigenständige, stille, gelegentlich gar konstruktivistische Richtung. Man ist hier, und das ist gar nicht so blöd, noch damit beschäftigt gewisse eventuell zu hastig ad acta gelegte Konstruktivismen zu verfolgen. Soledad Solana, geboren 1944, arbeitet seit Jahrzehnten an diesen 3-D-Flimmer-Effekt-Bildern und sie denkt sich offensichtlich was dabei, sonst würde sie sie nicht „Las Meninas“ oder „Er kam, um mit ihr über den Mond zu reden“ nennen. Direkt heroisch.
Überhaupt die Frauen; in Spanien ist der fromme, femistische Wunsch ausnahmsweise wirklich geworden, die beste neuartige Kunst kommt von Frauen. Bei Pilar Insertis, Jahrgang 1959, muß noch viel von der akademischen Maltradition, die sich über die dick in Ölfarben gelegten Landschaften, Affen, Faune und Katzen legt, abgearbeitet werden. Sehr eigenartig das Ringen der Christina Iglesias (*1956), die mit der eigenartigen, typisch spanischen sich für Materialeffekte begeisternden Art, Kombinationen von Eisen und Zement bearbeitet. Leicht mit Farbe bearbeitet, sehr scheu und karg drängen sich die Skulpturen in die Nischen. Von der Klasse Susana Solanas haben wir schon gesprochen, aber daß sie schon vor der relativen Befreiung der spanischen Kunst in der Post-Franco-Ära einen Stil entwickeln konnte, der in dem thronsesselartigen Eisengebilde „Fontana No 3“ gipfeln konnte, steht für die selbstbewußten, vor allem in den regionalistischen Provinzen tätigen Frauen. Die jüngste und interessanteste Künstlerin ist Maria Gomez, die als einzige neben Paneque so etwas wie Anti-neue-spanische-Kunst, ein aus verschrobenen Motiven und malerischen Unzulänglichkeiten kombinierte neue, eigene Häßlichkeit entwickelt hat, eine spanische Bettina Semmer. Nachtlandschaften mit Serpentinen, Scheinwerferstrahlen und Arbeitern in schmutzigen Farben, ein intelligenter Dreck, der die postmoderne Niedlichkeit in Resteuropa souverän überwindet. Eine Abkehr auch endlich von der Sklaverei der Comic-Strips oder der Kieferlandschaften, eher ein Witz über Kiefer und seine Anhänger.
Wenn wir uns dagegen Ausstellungen noch jüngerer Künstler, etwa eine Gruppenausstellung jüngster Künstler im Circulo de bellas artes ansehen, erleben wir wieder auf breiter Front den Rückfall in die endlose Materialeffekte-Avantgarde, wie sie vor den Barcelos und den Sevillas Dogma gewesen sein muß. Die drei Post-Tapies-Tendenzen, Neuer Surrealismus (Graffiti, Paris, New York, Dahn, Shafrazi), Neuer Existenzialismus (gute Bücher und Kiefer) und neuer Konstruktivismus sind ein Vorschlag, eine Initiative, die Spanien in rasantem Tempo aus der internationalen Isolation herauskatapultiert hat, unter Erringung von fast zu sensationellen kommerziellen Erfolgen (man kauft einen emotionalen Quatsch natürlich immer lieber einem Spanier ab, als einem Italiener oder einem Franzosen, die seit Jahrzehnten auf Emotionen in der Kunst abonniert sind). Bedeutendes deutet sich in den Arbeiten von Maria Gomez und Guillermo Paneque an. Wichtig aber ist, daß das Aufholmanöver abgeschlossen scheint und daß gerade die Masse an Produktionen, das staatliche Geld, das in die Kunst geschüttet wird, einen Boden bereitet, der auch andere Früchte trägt als eine gut gemachte international geliebte Sammlerkunst zu produzieren.
Während das Kinopublikum die Wiederaufführung von „The Night Of The Hunter“ bejubelt und die hervorragende Tageszeitung „El Pais“, die dem Land mit bewunderswertem Enthusiasmus einen kulturellen Liberalismus per Massenauflage durchzusetzen versucht (sicher von allen größten Tageszeitungen in Europa die mit dem besten Feuilleton) strömt das Volk nicht nur in die Glaspaläste im Retiropark um sich Richard Long oder neue britische Skulptur reinzuziehen, nein in diesem Ausmaß ungekannte Volksmassen müssen sich den nach internationalen Maßstäben provinziellen Kunstmarkt „Arco“ ansehen. An dem vor allem die Stände des Ministerio de la Cultura gefallen und die der führenden Madrider Stadtmagazine „La Luna De Madrid“ und „Madrid me Mata“. Hier trifft sich die Comic- und Spät-New-Wave-bewegte Jugendkultur mit brillianten Kritikern wie Javier Olivares, der Rest der Kunstmesse ist Kaufhauskunst, Poster, Graffiti und was von Beuys irgendwo noch billig zu haben war. Großartig dagegen die rundherum stattfindenen Parties in riesigen Hotelblöcken an der Peripherie der Stadt. Hier fällt vor allem die umtriebige Kunstbeamtin Carmen Gimenez auf, die unermüdlich die Gegenden der Stadt und Regionen des Landes zur Zentrale zusammenschweißt.
Madrid, Zentrum, von den regionalistischen Eiferern gehaßt, bringt ja selber kaum etwas hervor, eine Frau wie die Gimenez hat die Aufgabe, die explodierenden Kunstzentren Valencia, Sevilla, Galizien, Baskenland und Barcelona in der Hauptstadt als spanische Kunst zu repräsentieren. Sie schießt explosiv über alle Ziele hinaus (was im gegenwärtigen Klima Madrids in etwa der normalen Pflichterfüllung entspricht): Ausstellungen in allen möglichen Palacios und Lustschlößchen jagen einander, alles, was in den letzten zwanzig Jahren Rang und Namen hatte wird aufgefahren. Krönender Höhepunkt des Sommers ist die Eröffnung eines Museums moderner Kunst, das den Namen der Frau des diesen Sonnenstaats regierenden Sonnenkönigs tragen wird: „Reina Sophia“.
Milliardenweise flossen die Peseten in alle Welt, um die Baselitze und Twomblys herbeizuschaffen, was Carmen nur noch fehlt, ist Picassos „Guernica“, das zur Zeit als bestbewachtes Gemälde der Welt in einem zum Prado gehörigen Sondermuseum hängt. Wir erinnern uns: Picasso hatte verfügt, daß das Gemälde erst dann an Spanien zurückgegeben werden darf, wenn das Land eine Demokratie geworden ist. Jimmy Carter wollte nicht verstehen, wieso ein Land mit einem König „democracy“ sein sollte. Er brauchte Bruno Kreisky, der ihm beim Wiener Opernball, während einer Pause, das mit der konstitutionellen Monarchie erklärt hatte.
Das zweite Viertel in das man, neben Salamanca (= Upper-Manhattan), oft und gerne gerät, gruppiert sich um den „Rastro“, wo sonntags der bizarr-überlaufende, ausufernde Flohmarkt stattfindet, und der Calle de Lavapies als Zentren, und endet am Plaza Mayor und südlich an Estacion de Atocha, einem der drei Madrider Bahnhöfe, deren sehenswertester aber der flughafenartig modernistische Tempel des aufgeklärten Shopping Madrid Chamartin ist, der in den 70ern entstand und schon von Meistern wie Martin Walser, vor 10 Jahren, als Zeichen eines neuen Spaniens gefeiert wurde. Von hier besteigt man den schönsten Zug Europas, den Talgo und fährt nach Paris oder Barcelona. Oder gondelt in einem anderen 60er-Jahre Diesel-Triebwagen optimistisch tutend nach Salamanca und Valldolid. In der Nähe liegt das Stadio Santiago Bernabeu.
Aber zurück zum Rastro-Viertel, diese Kreuzung aus Bronx, Neapel, Kölner Südstadt und Hamburg-Eimsbüttel, ist von Kriminellen und anderen Anarchisten durchsetzt, was einmal ganz andere hedonistische Talente dieser Bevölkerung offenlegt. Wie sie das speziell für Horror-Filme dekorierte Cine Ideal ausgemalt hat, wie kleine Jugendbanden, Straßen kontrollierend sich mit dieselben Straßen kontrollierenden, Karten spielenden Rentnern verständigen, wie ein Laden namens „Marihuana“ alles für „Heavy-Punk-Mods-Rocker“ anbietet, aber Minderjährigen den Zutritt verweigert. Und wie man den Tag zwischen Spielsalon – einer prächtiger, schloßartiger, palaciomäßiger als der andere – und unermüdlichen Verschönerungen der Abbruchhäuser mit anarchistischer Wandmalerei aufteilt.
Wem noch Platten wie „Curtis Live“, Kevin Ayers’ „Shooting At The Moon“ oder das Frühwerk irgendeiner der Tausenden spanischer Punk-Bands fehlt und nicht bereit ist, dafür mehr als 750 Peseten zu zahlen, der verbringt, und nicht nur zu den Stunden des sonntäglichen Flohmarktgedränges, ganze Tage in den Straßen von Lavapies. Abends zieht es einen dann in das Viertel Chamberri genauer auf die links und rechts der von der Gran Via nördlich abzweigenden Straßen Calle Hortaleza und Calle Fuencarral liegenden unzähligen Bars und Clubs. Diese dunklen Gässchen und Plätzchen, an denen ein Drogenhandel in in Europa unbekannter Offenheit blüht, sind die expressionistische Kulisse der spanischen Underground-Musik, ein äußerst seltsames Kapitel für sich.
Den musikalischen Bewußtseinsstand eines Volkes kann man trefflich ableiten an der international verfügbaren Musik, die es in seinen Kneipen spielt, wenn, was hier selten ist, gerade keine Band auf der Bühne steht. Selbst in eher schnarchigeren Clubs wie dem San Mateo Seis, wo drei verschiedene Live-Bands die Woche spielen, läuft von dem Schönheitsfehler Nina Hagen abgesehen, durchweg viel nette New-Rose-Musik, viel Los Lobos, Violent Femmes, also zeitgenössische Americana (wie das Zeitlos-Moderne Spaniens eben nach US-Sixties aussieht, im Eisenbahn-Design, Bar-Innenarchitektur oder Kaufhaus -Styling), in Spezialistenläden wie dem „Agapo“, kann man ganze Abende bei den Cramps, Scientists und Beasts of Bourbon verbringen, im Teenie-Club „Via Lactea“ explodiert die neue „Sicodelia“, wie das in Spanien heißt, und fast alle spanischen Bands befinden sich einem fortgeschrittenen Stadium von Sixties-Fieber, zumindest nach eigenen Angaben.
Die hochgehandelte Band Los Elegantes sahen wir vor circa 2000 Zuschauern in einer Yuppi-Disco. Ein fröhliches Quintett, das vor Wohlbefinden strotzend, wie alle Bands auf spanisch, wenn sie’s nicht soweit übertreiben und baskisch oder katalanisch singen, seine Idee von vorwiegend britischen Sixties-Beat vortrug. Es war grauenhaft. Die tödlichst-gut gelaunte Scheiße, die Du Dir vorstellen kannst. Ich meine, die Kinks und die Who waren doch in erster Linie schlechtgelaunte renitente Ratten, waren zynisch, böse, komisch und arrogant. Hier dagegen gnadenlose Verbrüderung im Namen des ungebrochenen Frohsinns.
Zum Trost kauften wir uns eine LP einer Band mit nicht weniger eindeutigem Namen: Los Illegales. Vor allem der Track „Heil Hitler“ hatte uns neugierig gemacht. Es war dann eine rührende Hippie-Hasser-Band, die klang wie Beat-Punk aus Hannover anno ’80. Gerechterweise müssen wir zugeben, daß die wirklich tollen Bands die unzähligen, unökonomisch Doors und Pebbles Sampler übertrieben orgellastig, quäkig, renitent durchnudelnden Underground-Bands sind, die wirklich Nacht für Nacht und namenlos die Kulisse der unzähligen 50-Gäste-pro-Nacht-Clubs abgeben und von Drogen und Wahnsinnigen erzählen.
So ist es nämlich: Nicht Bands, die sich einen Namen gemacht haben, wie Gabinete Caligari, die eine Mixtur aus spanischen Schlagern und Psychobilly spielen, ihre Cover von dem vom „Spiegel“ in seinem ahnungslosen Madrid-Bericht als „Künstler“ gewürdigten Szene-Grafiker El Hortelano, dem Gary Panter von Madrid gestalten lassen, sind von Interesse, sondern die zähe Szene-Underground-Dutzendware, die wie Hotelbands anonym die Schmuddelclubs versorgen. Wann hat man das letzte Mal so was tolles gehört wie das Psychobilly-Trio Los Lobos Negros, das wir gleich zwei Nächte hintereinander sehen mußten: drei 1,50 m Zwerge mit Koteletten und einem Gitarristen, der wie alle spanischen Gitarristen daran leidet, daß die Söhne dieses Landes, wenn sie Gitarre spielen, sich körperlich gegen das Spielen von Einzeltönen und erst recht Verzerrungen wehren. Das ist Tradition, Flamenco, immer strumm-strumm-strumm, das will das Blut. Tenemos una fuzzbox, pero nunca la utilizaremos!
Dabei beruht auch dieses Urteil auf Stichproben. Von circa 50 Bands, die auf unabhängisen Labels LPs produziert haben und weiteren hundert, die live auf den Bühnen der Hauptstadt spielen, haben wir neben den erwähnten nur noch Entre Parentesis, Los Negativos, Kiki eine Art Lene Lovich mit B-52s und Freundin des bekanntesten Kunstkritikers und ein paar namenlose Kneipen-Kappellen gehört, sowie die obligatorischen Stars wie Alaska, Spaniens Nina Hagen, und andere, die im Radio Airplay bekommen. Was zählt, wie bei der Kunst, in Madrid, ist offensichtlich nicht die Qualität, Autorität, Aussagekraft, Bedeutsamkeit der Hervorbringungen, sondern ihre Menge, ihre Hemmungslosgkeit, ihre Übertreibungen, eben ihr Beitrag zur allgemeinen Devise dieser Stadt: Reizüberflutung und Schlaflosigkeit um jeden Preis.
Und das ist die Devise ganz Spaniens, dezentrale Vielfalt, alles zur gleichen Zeit, was Madrid als Zentrum zusammenhalten und repräsentieren muß. Was soll man da von einer Stadt anderes erwarten, in der alles viel zu schön, zu groß, zu sinnlich, zu beeindruckend ist, die sich in jedem Winkel, sei es Slum, sei es Prachtallee – naturgemäß die breitesten Europas – sei es Upper Manhattan, sei es Chamberri, wie Cinemascope-Breitwand-70mm-Kulisse aufführt, die einen bis in die späte Nacht in jedem Gässchen mit drei Bars, mit jeweils ausgesuchten, fetten, kleinen Köstlichkeiten dazu anhält dem Wanst zu dienen?
Was von einer Stadt, in der man den Abend beginnt, indem man sich in einem Cafe trifft, dessen Fenster fünf Meter hoch, Wände sieben Meter hoch sind und in dessen Mitte eine Statuette einer nackten Frau liegt, in das ein kleiner Junge reingerast kommt, mit der Nachbildung einer Pershing-Rakete in der Hand, und diese Pershing-Rakete zwischen die Beine der Statue rammt, woraufhin sein Vater rot im Gesicht wird und das Kind anschreit, während die Mutter einen Lachanfall kriegt, der sowohl die Minen der jungen Wave-Künstler, wie die der kleinen, älteren Herren mit dunkler Sonnenbrille, die aussehen wie der späte Franco, zu milder, genießender Heiterkeit aufhellen.
Was von einem Land, das sich seine Geschichte ausgedacht hat, seine Ordnung immer auf irrationalen und künstlich-künstlerischen Prämissen aufbaut, das wider alle frühkapitalistische Berechnung im 17. Jahrhundert die größten Reichtümer der Erde verspielte, jahrhundertelang glaubte, daß körperliche Arbeit schändet, mehr Staatsbankrotte durchgemacht hat als jedes andere europäische Land, was von so einem Land, das sich jetzt per Dekret der hemmungslosen Produktion von guter Laune verschrieben hat und so über die genießbarsten Städte der Welt verfügt, deren genießbarste, schönste, genußvollste, ohne Zweifel Madrid ist.
Kein Wunder, daß sich hier auch ein Jonathan Richman hemmungslos zum Affen machte und bereits nach drei Songs, jeden Versuch sein idiosynkratisches Profil beizubehalten, aufgab und eine hemmungslos blöde Version von „La Bamba“ anstimmte. Es ist ganz klar, daß die wirklich interessanten Bands und Künstler, die demnächst auch noch zu allem Überfluß aus Spanien kommen werden, vom autonomistischen Haß der Regionalisten oder vom Willen zur ungenießbaren Häßlichkeit beseelt sein werden, wie es die Arbeiten von Paneque und Maria Gomez schon andeuten. Denn in allen Blütezeiten produzierte Spanien vor allem große, böse Männer wie Góngora, Quevedo, Valle-Inclan oder Goya, große, grausame Männer aus einem unrealistischen Volk, die einzigen Realisten, die in diesem Beruf wirklich etwas taugen. Wo Vision und Künstlichkeit, Erfindung und Rausch das Alltägliche sind, ist der größte Außenseiter, der große Künstler ein Realist. Wer es nicht glaubt, kann es im „Prado“ nachprüfen! Der einzige realistische Maler, den es je gegeben hat, war Goya.
verfasst zusammen mit Jutta Koether
Spex 6/86, S. 51–53 [erweitert auf Englisch in Artscribe September–October 1986, No. 59 und darauf basierend auf Deutsch in Elektra als „Neue Kunst in Spanien. Fünfzig Jahre nach der Revolution“]