Kategorie: Archiv

  • Über das Glück & die Liebe

    Oliver Hirschbiegel teilte neulich die Welt der Damen, Frauen, Ladies und Mädchen in zwei Kategorien. Prinzipiell gäbe es, so Hirschbiegel, die gebärende und die nicht gebärende Frau. Sie verhielten sich zueinander wie die blonde Frau sich zur dunklen Frau verhalte. Wobei wir wissen, dass es blonde Frauen mit dunklen Haaren (und vice versa) und ebenso auch nicht gebärende Frauen mit reichem Kindersegen gibt. In einer leeren US-Bar versuchten wir die Theorie zu vervollkommnen. Demnach begehrt die gebärende Frau in der Regel den zeugenden Mann, so sie nicht degeneriert ist. Der zeugende Mann, von Haus aus Exotiker und Geschmäckler, begehrt aber die nicht gebärende Frau, die ihrerseits, da sie nicht gebärend, nie Mutter sein wird, den schutzbedürftigen, nicht zeugenden Mann begehrt. Doch der braucht viel mehr Schutz als die zarte, nicht gebärende Frau zu bieten hat und begehrt daher die gebärende Frau. So entsteht ein Teufelskreis, aus dem ein Entrinnen nicht möglich scheint. Nur zwei Verirrungen kommen vor, die Glück möglich machen. Dort nämlich, wo der zeugende Mann zur gebärenden Frau herüberirrt, und dort wo die nicht gebärende Frau einen zeugenden Mann liebt. Letzteres ist noch die häufigste Form von Glück in der westlichen Welt. Denn im Gegensatz zur Frau ist der Mann in den seltensten Fällen lebenslang zu einem Schicksal bestimmt, in der Regel verändert sich der Mann im Laufe seines Lebens. Aus dem nicht zeugenden Mann wird ein zeugender, durch den Kontakt zur Frau, einer nicht gebärenden in der Regel, denn die verfolgt ja den nicht zeugenden, schüchternen Jungen. Dieser könnte nun bei dem Mädchen bleiben und durch das starke Verwandlungserlebnis geprägt werden, im Sinne der Verhaltensforschung. Fortan liebt dieser junge zeugende Mann weiterhin die nicht gebärende Frau, wie es für ihn auch der Regelfall ist, und das Mädchen nimmt die Verwandlung nicht wahr. So entsteht Glück.

    Das andere Glück ist ein kurzfristiges, nur als Seitensprung begehrt auch der zeugende Mann die gebärende Frau, wenn er älter und an Glück mit der nicht gebärenden Frau zu sehr gewöhnt ist Auf diese Weise entstehen Kinder. Alle Kinder sind also Bastarde.

    Andere Beziehungen sind nicht bekannt. Zwischen den beiden Frauentypen herrscht ein ewiger, heiliger, zäher Grenzkrieg, den die Männer nicht verstehen. Wie wir den Iran-Irak-Krieg.

  • Pop ’84: Spektakuläre Neuordnung der sexuellen Identität

    1984 – Der große Frust oder kein Jahr der Entscheidungen? Immerhin war Sex das große Thema in der Popmusik. Androgyne oder schwule Musiker wie Frankie Goes To Hollywood, Prince, Michael Jackson und Bronski Beat dominieren die Hitparaden. Heavy Metal erlebt ein Comeback, Rap ist tot.

    Es war keine Season Of The Witch, kein Age Of Aquarius, nicht einmal ein Eve Of Destruction, geschweige denn das Year Of The Decision. Möglicherweise war es das Year Of The Cat. Aber immer, wenn man konstatiert – und auch ich habe dies oft und gerne getan –: Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten, lügt man sich doch nur genußvoll in die Tasche. Um den Terror des Mittelmaßes wenigstens durch ein Gefühl der Verlorenheit, der Tragik und des Ausgeliefertseins zu romantisieren.

    Die einzige von mir geschätzte Tango-Kollegin, Frl. Bühler, hat schon Zeilen aus der definitiven Platte und dem definitiven Song des Jahres 1984 zitiert. Ich will dies vervollständigen und vor meinen Jahresrückblick setzen: „Let me try to explain my generation / in a way that Fitzgerald did / we don’t pretend to know everything / or talk out loud / like our parents did / We’re not Beat / We’re not hip / We’re the brave generation / What a trip“ Das sind Worte aus dem Lied „Brave Generation“ von der Gruppe Green On Red und stammt von ihrer in Deutschland am leichtesten verfügbaren LP Gravity Talks (auf Rough Trade Deutschland). Musikalisch erinnern sie an die mittlere Phase Bob Dylans (zwischen Subterranean Homesick Blues und Blonde On Blonde vor allem an jene Platten, bei denen Al Kooper arrangierte und an Piano/Orgel saß), aber man erspare mir, darüber etwas Theoretisches zu sagen, außer dieses: Green On Red, aber auch The Gun Club, The Dream Syndicate und die anderen wichtigen US-Gruppen kann man nicht verstehen, wenn man sie zusammenbringen will mit den britischen Neo-Rockits-, Neo-Weinerlich-, Neo-Ehrlich-, Neo-Direkt-, Neo-Echt-, Neo-Wir-benutzen-keine-Synthesizer-Bands wie The Alarm, The Smiths, U2, Big Country oder dem diesjährigen Modell von Aztec Camera.

    Wir kommen vielleicht weiter, wenn wir meine Lieblingsfilme des Jahres 1984 betrachten: The Big Chill (Der große Frust), Repo Man und der neue Rohmer. Also Filme mit Menschen, die ernst und selbstironisch die Trümmer einer brauseköpfigen Jugend zusammensammeln und neue Ordnungen suchen. Filme, in denen Menschen gezeigt werden, die anständiger sind, weil sie mal die Revolution wollten, ohne deswegen heute noch an die Revolution glauben zu können. Und Revolution muß nicht nur die politische Revolution sein. In Eric Rohmers Film geht es einfach darum, wie wohl eine junge Frau heutzutage ein anständiges Leben führen soll. Und irgendwie geht es einfach nicht. Aber das macht nichts. Und darüber muß man nicht einmal weinen. Wir sind eine tapfere Generation, und wir beklagen uns nicht einmal darüber, daß irgendwelche Naivitäten sich nicht durchsetzen lassen, denn „we’ve never been to Vietnam, but we’ve seen the eyes of their dead“ (Green On Red). Wir, die Zwischengeneration, die den aufgescheuchten Nihilismus der Punk-Generation ebensowenig nötig hatte, wie sie die religiösen oder politisch-religiösen Euphemismen der Hippie-Generation ernst nehmen konnte, wir, die wir uns durch die Talking Heads und ABC, Human League und John Cale, Coltrane und Beach Boys vertreten fühlten, wir haben das Stadium erreicht, wo wir Musik machen und hören, die davon handelt, Eltern zu werden. Und das klingt komischerweise psychedelisch.

    Bei den Jüngeren, die ja immer den Ton angeben, hat sich eine klassische Beatles-versus-Stones-Situation entwickelt. Culture Club in England, Michael Jackson in den USA sind die Beatles, Frankie Goes To Hollywood und Prince sind die Stones, auffallende Gemeinsamkeit: Bei allen vier geht es um eine spektakuläre Neuordnung der sexuellen Identität des Pubertierenden. Wobei es völlig unwichtig ist, was die Message ist. Lediglich Unsicherheit und Beweglichkeit sind entscheidend. Die Diagnose, daß die Pop-Musik dabei sei, Sex aus ihrer Welt zu verbannen, eine Erkenntnis, die die geschätzten Kollegen von Spex neulich per Titelgeschichte verbreiteten, und zwar anläßlich der „Ich ziehe eine gute Tasse Tee vor“-Bemerkung von Boy George, scheint mir völlig verfehlt. Es gibt bloß keine sexuellen Selbstverständlichkeiten mehr, nicht in dem Sinne, daß alles erlaubt ist, sondern in dem Sinne daß keiner weiß, ob es überhaupt noch relevant ist, daß irgend etwas nicht erlaubt sein könnte. Die dreifältige Message von Frankie, die da lautet: Nimm Sex nicht so ernst (Text), ficke traditionell und stumpf (Musik), Schwule haben mehr Spaß (Image), ist sicher die einfachste und die letzte, die noch an einer Verbot/Tabu/Konvention-Idee von Sexualität interessiert ist. Boy George verkörpert die Idee, daß nach allen Revolutionen, allen Kämpfen, allem schweißtreibenden Gerangel die Liebe zurückkehre, „aber an einen anderen Platz“, als „Transgression der Transgression“ (Barthes). Der alte Soul-Traum, die Supremes-Utopie, das „Lexicon Of Love“ das O’Dowd als einziger von 1982 mit herübergerettet hatte. Die anderen haben an Niveau verloren (Haircut 100, Heaven 17, Aztec Camera) oder sind trotz großartiger Leistungen (ABC, Orange Juice) an der flatterhaften Öffentlichkeit gescheitert.

    Wesentlich diffuser gestaltet sich die Sex-Diskussion in Amerika. Michael Jacksons Soul-Vision ist nicht idealistisch und utopisch, nicht in einem der Theorie und der Geschichte aufgeschlossenen Klima entstanden, wie es im England Boy Georges herrscht. Er lebt in einem Kindergarten, dessen Hecken, Büsche und Bäche von AIDS verseucht sind. Er hat Spielberg und Disney bekanntlich nicht als großartige Inszenierungen aufgefaßt. Er glaubt jedes Wort. Er weiß es nicht anders. Und alles andere ist AIDS. Tragisch-irreal, und die höchste Form von Dekadenz, in der westlichsten, verworfensten Ecke der Welt. Dagegen ist die ganz normale urbane Verirrung bei Prince: Man – Woman. Desire. Promiskuität. Von allen vieren ist er der unsympathischste. Er gehört zur neuen Zeitlosigkeit, zu Filmen wie Straßen in Flammen, zu einer Sicht, die, schlimmer als der Seeger/Springsteen-Mythos der 70er, einer einzigen, nivellierenden, gemischtrassigen, motorradfahrenden „Rock’n’Roll-Fantasy“ das Wort redet. Und Bruce Springsteen ist ja pünktlich wieder auf der Bildfläche erschienen, nicht ohne ein „mutiges“ Anti-Reagan-Statement zu entbieten. „Das Jahr, als Mark Knopfler Aztec Camera produzierte“ (zu singen nach der Melodie von „The Night They Drove Old Dixie Down“).

    Dennoch ist einem Prince – Prince, der dick auftragende, Prince, der Hendrix-Fan, Prince, die Kreuzung aus James Brown und Liberace – im Prinzip doch ganz sympathisch. Man kann nur die Stimme nicht mehr hören. Im Verschleiß-Vergleich unterliegt sie Michael Jacksons um Längen.

    Auch James Brown kam bekanntlich zurück. Daß er der böse, schwarze Mann bleibt und damit gut, ist keine Frage. Ebensowenig ist ihm vorzuwerfen, daß er den behäbigen Mister-T-Darsteller und Ex-Rap-Innovator Afrika Bambaataa als Geraldine Ferraro auf das Ticket gesetzt hat. Aber man kann auch sein „Unity“- und „Peace“-Geblöke nicht länger ertragen, dann fast schon eher sein „mutiges“ Pro-Reagan-Statement. Die Schwarzen stellen zur Zeit den größten Teil der amerikanischen Armee. Die reale Lage würde eine schwarze Revolution möglich machen. Aber nie waren sie weiter davon entfernt. Auch Schwarze Musik ist 1984 schwersten Abnutzungserscheinungen ausgesetzt. Was nicht nur mit dem Breakdance-Media-Overkill zu tun hat. In ein paar Jahren wird man sich darüber ärgern, jetzt nicht besser aufgehört zu haben, und Sachen entdecken, die man überhört hat, wie ihrerzeit Graham Central Station.

    „Die Zukunft heißt Wildwest“, schrieb Michael Ruff prophetisch in 1/83, der berühmten letzten Nummer. Und er schien recht zu behalten. Mit Beat Rodeo, Rank And File und Rubber Rodeo haben drei Vertreter der Richtung veritable Massenmedien auf sich aufmerksam gemacht, Verträge bei Majors und Tourneen entweder schon absolviert oder für die nahe Zukunft angekündigt. Als alter Anhänger des ersten Country-Revivals, sofern es die New Riders Of The Purple Sage, The Flying Burrito Brothers und die Sweetheart Of The Rodeo-Byrds betrifft, habe ich auch dieses neue zunächst begrüßt, egal ob mehr traditionsbewußt ernst wie bei Rank And File oder Pop-Country wie bei Rubber Rodeo. Interessanter sind die amerikanischen Bands, wie die erwähnten Green On Red, aber auf ganz andere Weise auch Shockabilly (Genies!) oder die unzähligen Velvet-Underground/Country/Punk-Mischungen wie die S-Haters, die nach den Violent Femmes und The Band den Marsch durch alle Genre-Institutionen der letzten 20 – 100 Jahre angetreten haben. Der real american underground. Unser Hauptverbündeter gegen den lieblosen, willenlosen Muddelpop, ob er nun von Alphaville, Depeche Mode, Eurythmics, Bronski Beat, Ray Parker jr. oder Falco kommt.

    Inzwischen ist ja, wie der Erfolg der letzten beiden beweist, aus dem guten Zitieren nicht nur das schlechte Zitieren geworden, sondern eine Form von übelriechendem geistigem Diebstahl: Der elende Falco hat seine „Jungen Römer“ aus Bowies „Fascination“ und „Ashes To Ashes“ zusammengesetzt, Ray Parkers „Ghostbuster“-Thema ist genau 60 Prozent „Pop Muzik“ und 40 Prozent „Don’t Stop Till You Get Enough“, Michael Jacksons Meisterwerk.

    Um den politisch sauberen Cocktail kämpft, rechtschaffen bemüht, musikalisch abwechslungsreich, aber verteufelt uncharismatisch Paul Wellers Style Council, während der Erfolg der Siegerin an der Cocktail-Front, Sade, für Londons arrivierte dunkelhäutige Teenager soviel bedeutet wie die Wahl Vanessa Williams’ für die schwarze Mittelklasse der USA. Immerhin haben in ihrem kommerziellen Schatten auch die famosen Ben Watt und Tracey Thorne mit ihrer Gruppe Everything But The Girl den WEA-Vertrag abstauben können.

    Manche glauben auch, ich flirte zuweilen mit der Idee, Heavy Metal, jedenfalls in seiner lustigeren Form bei Hanoi Rocks, Twisted Sister oder Lords Of The New Church, sei die Lösung unserer Probleme. Hier kann man nur bedingt mit Ja antworten. Nach langer Abstinenz mundet so eine geile Grobheit sehr gut, kann aber nicht als abendfüllend geschweige denn zukunftsweisend betrachtet werden. Billy Idol, sattsam im Düsseldorfer Exil gehörter Heavy-Punk-Star, füllt kaum ein Vorabendprogramm, die Lords stehen natürlich darüber (vgl. letzte Nummer); in ihrem einsamen Magick-Wahn (der letzte Musiker, der es zu intensiv mit schwarzer Magie hatte, Graham Bond, bekam irgendwann nach einem Vergehen von seiner Sekte einen Fetisch in die Hand gedrückt und starb unter einer U-Bahn) sind sie für mich das, was Billy Idol für das Volk ist. Und Twisted Sister haben einen guten Fußball-Gesang hinterlassen.

    In der Dunkel-Zone des britischen Underground. Dort, wo sich die Phantasien nicht angepaßter, gestylter Teenager ausleben. Da, wo erst Joy Division, später das Positive-Punk-Movement hockte, residiert heute souverän das 4-AD-Label. Der Kult ist aus Manchesters „Factory“ heimgeholt worden in die Metropole. Zum ersten Mal gefällt auch mir eine Musik aus dieser Nische, nämlich das 4-AD-All-Star-Album, das unter dem Namen This Mortal Coil aufgenommen wurde. Das erste Dokument davon, daß jugendliche Beklommenheitsmusik ihre Pforten der Historizität geöffnet hat. Die Underground-Musiker versuchen sich hier nämlich fast ausschließlich an übrigens äußerst geschmackvoll ausgewählten Coverversionen. Etwas, was 1984 übrigens jeder tat.

    Aber. Ist das meine Tasse Bier? Ich suche die Freunde unter den Musikern, die es schaffen, schon im Moment der Produktion Nostalgie auf den Augenblick, Nostalgie nach der Gegenwart zu erwecken. Und zum größten Teil waren das auch dieses Jahr wieder alte Freunde: John Cale mit seiner Heavy-Show, der glücklich verheiratete Mark E. Smith mit seiner nie ermüdenden Bauern-Velvet-Underground The Fall. Manchmal war es sogar Nick Cave, die gespaltene Persönlichkeit, die sich nicht zwischen Dr. Morrison und Mr. Cale entscheiden kann, aber auch für mich oft genug John Cales großer australischer Sohn ist. Aus demselben Land kommen meine liebsten Propheten des neuen Ernsts: die Go-Betweens. Sie sind so schier und pur ernst und gegenwartsnostalgisch, deswegen so neu und fremd wie zuletzt die frühen Talking Heads. Und mein Mann des Jahres ist Jonathan Richman, der wahre Freund, der dieses Jahr sogar nach Hamburg kam und den Hamburgern sagte, wie das doch so rundum schwere Leben, das auch sie zu führen haben, ein rundum feines sein kann.

  • Der Popstar als Zeuge Jehovas

    Das ist das Gesicht unserer neuen Populär-Kultur: Mißgestaltete, verklemmte Zwerge, Saubermänner und wabbeliges Fleisch lösen den großen Perversen ab

    Nun sagen Sie doch selbst: Was ist von Perversen zu halten, die für ihre Perversion wie für eine Überzeugung auf die Straße gehen? Das Wesen der Perversion ist doch, einen geheimen Raum ausfindig zu machen, eine Stätte der Lust, die sich auf gar keinen Fall überlagern darf mit dem offiziellen Leben. Ihr Reiz besteht gerade darin, daß man nicht sagt, was man mag. Und jetzt? Die bekennenden Perversen unterliegen einem ganz gräßlichen Geständniszwang, gegen den die katholische Beichte harmlos ist. So gesehen ist der Schwule des Jahres General Kießling.

    Die öden Siebziger! Was haben sie nur angerichtet mit ihrem Glauben an die Natürlichkeit: Du bist doch krank, du stehst doch nicht zu deinen Gefühlen, du spielst doch eine Rolle, das ist doch total unnatürlich. Wie oft wurden diese Sätze armen Zeitgenossen ins Gesicht geschleudert, die sich weigerten, ihr Sexualleben zum Gesprächsgegenstand erheben zu lassen, die ihre kleinen Perversionen geheim halten wollten. Kein Coming Out, kein Sichpreisgeben einer scheinaufgeklärten sexuellen Vernunft, sondern SEX DWARF im schmuddeligen, von gelblichem Licht durchfluteten NONSTOP CABARET eines RED LIGHT DISTRICT. Doch immer wieder ertönte die schallende Stimme einer lärmenden Inquisition, die aus der wunderbaren Waffe sexueller Geheimnisse großkotzige, langweilige Bürgerinitiativen machen wollte. Unsere Kinderficker AG sucht noch liebe Leute zum Mitmachen.

    In der Geschichte der Popkultur war es der überbewertete, verhinderte Lyriker Jim Morrison von The Doors, der, indem er bei einem Konzert in Miami, um die Jahrzehntwende, sein blaugeädertes Unding herausholte, das DIE SAU RAUSLASSEN zum moralischen Imperativ für die nun folgende Me-Decade erhob. Mein Gott, was haben wir gelitten!

    Daß der große Pop-Star immer ein großer Verklemmter, ein leidender Perverser war und sein mußte, wie konnte das in Vergessenheit geraten!

    Anfang der Siebziger war der Perverse plötzlich kurz das große neue Ding. Und zwar gut, weil übertrieben und wirklich krank. Wer sich noch an den überdimensional perversen Transvestiten Alice Cooper erinnert, der mit Boa Constrictor um den Hals hysterisch krähte, er wolle zum Präsidenten gewählt werden und später ein ganz normaler Geschäftsmann wurde, der weiß, daß hier die Perversion einen letzten Versuch unternahm, nicht von menschheitsbeglückenden, naiv-freundlichen Bewegungen geschluckt zu werden.

    Als David Bowie den alten Schauspieler in „Cracked Actor“ sagen ließ: „Suck, Baby, suck, show me your real!“, sich zu Bisexualität „bekannte“ und sich von dem in silbernen Glitzergewändern leuchtenden, blonden langhaarigen Gitarristen Mick Ronson auf der Bühne symbolisch in den Arsch ficken ließ, warb er nicht um Verständnis für Minderheiten. Er wollte noch der gute alte perverse Star sein, die Folie für sexuell abweichendes Verhalten von Teenagern, der Verführer, mit dem man im GEHEIMEN allein ist. Nach ihm „bekannten“ sich einige andere Pop-Stars. Joan Baez sorgte dann dafür, daß die plötzlichen Homosexualitäten, Bisexualitäten, Päderasten und Sodomien der Stars mit dem Geständniszwang des die saurauslassenden Morrison kurzgeschlossen und zu einer gerechten Sache wurden.

    Keine Bedrohung mehr, sondern Podiumsdiskussion.

    Ja, Joan Baez war bi und sie bekannte sich dazu. An den Schulen wurde nunmehr gelehrt, der Mensch würde bi geboren und es sei daher das Natürlichste von der Welt, sich für das eine, das andere oder beide Geschlechter zu entscheiden.

    Die Pop-Kultur hat diesem Offenbarungs-Imperativ nie gehorcht. Die großartigsten Schwulen der siebziger Jahre, Elton John und Freddy Mercury, haben keine „mutigen“ Bekenntnisse abgelegt. Stattdessen haben sie ihre Perversion als solche inszeniert. Sie haben den Interpretierenden immer gezwungen, Pfauenfederarrangement, Florida-Rentnerin-Sonnenbrille, Lederhose oder Christopher-Street-Moustache als Pfauenfederarrangement, Florida-Rentnerin-Sonnenbrille, Lederhose oder Christopher-Street-Moustache zu nehmen – nicht als erlösendes Aha-Aha-der-ist-schwul-Zeichen.

    Als Bowie am schwulsten war, heiratete er die hagere Frau Angie und hatte mit ihr einen Sohn („Zowie“). Lou Reed, der engste Freund der Drag-Queens aus den Warhol-Filmen, schminkte sich, sang von Transsexualität, bis es keiner mehr hören mochte und zwängte sich alles Leder dieser Welt über seinen Körper, war aber nie schwul. Er hatte nur begriffen, daß in diesen Jahren 1970-73 nur noch die Perversion, die sich rundum als solche fühlt, der totalen Überflutung mit Verständnis und repressiver Toleranz widerstehen konnte.

    Bis zu einem gewissen Grad. Irgendwann war die Welt so vollgepfropft mit Show-Freaks und Außenseitern, Zwergen, Vogelmenschen und Entenfickern, daß der Perverse, der wirklich Perverse, sich nur noch durch Rückzug mitzuteilen wußte. Alle Objekte, die früher campy, krank und Eigentum verklemmter, verbogener Geheimwelten waren, sind von Udo Lindenbergs Panikorchester aufgekauft worden und den allgemein aufbrausenden Sympathiekundgebungen für den Außenseiter ausgesetzt. Der große, geschmacklose Gummipenis des Glam-Rock war unter den Händen des Liberalismus zu einer unverbindlichen, freundlichen Karnevalspappnase degeneriert.

    Sex – und wie ich sagte existiert Sex in der Pop-Welt nur als Geheimnis, als Perversion, als Verklemmtheit, als kurz vor der Explosion befindlicher Dampfkessel (nicht als explodierender Dampfkessel wie bei der Mainstream-Rock-Musik der Siebziger) – verschwand für ein paar Jahre völlig von der Bildfläche. Die Jungs und Mädchen, die seit Glam-Rocks Ende (1973, 74) den ewigen Laufsteg („This Week’s Model“) beschritten, waren an Politik, Nihilismus, alternativen Formen der Schallplattenproduktionen, Veränderungen der Hörgewohnheiten, Bier, Gewalt, französischer Philosophie, Kunst, Karate oder Klassenkampf interessiert, nur nicht an Sex. Sex war die stumpfeste Waffe in der Auseinandersetzung mit dem Establishment geworden wo gibt. Ein Mann, der wie Morrison sein blaugeädertes Unding herausholte, war nicht einmal mehr Provokateur, sondern der Klassenlehrer. Die Joan Baez-Richtung hatte alle wichtigen Ämter in Schule und Medien übernommen. Die augenfällige Abwesenheit von sexuellen Zeichen in der Pop-Kultur ließ diejenigen, die sie, die Pop-Kultur, noch nie verstanden hatten, von einer neuen Prüderie sprechen.

    Was falsch war: Die jungen Dinger hatten Sex so gern wie eh und je. Er war nur nicht mehr glamourös, provokativ, hip, groovy, verstörend: Sex war elend gesund. Die Bedürfnisse so und so befriedigt. Mit Sex war nichts mehr anzufangen. Sex war langweilig.

    Meanwhile … back at the Zeitgeistmachinery: Die Abwesenheit der poppigen, pubertären Verklemmtheiten, Schmuddeligkeiten und Zweideutigkeiten ließen dem Establishment Zeit, ganz alte Sex-Codes zu restaurieren. Jedenfalls auf der Ebene von Pop-Äußerungen. In der Wirklichkeit fragten sich blonde Mädchen gelangweilt seufzend: „Soll ich mir heute einen Neger nehmen?“ Im Hintergrund sang Marvin Gaye von „Sexual Healing“! Schwarze Musik sprach als einzige noch von Sex. Aber meist schrecklich gesund und allenfalls durch ihre Naivität prickelnd: „Sex is something everybody needs / sometimes you do it slow / sometimes you speed / you can do it from the left / you can do it from the right / no matter how you do it / it’s outasight / and the feeling you get is dynamite.“ Nirgendwo war jemand, der mit Effekt die Sau rausließ. Also konnte man die Sau ruhig wieder einsperren, oder?

    Das Establishment hat immer geglaubt, daß die Gefahr die Saurauslasser sind, die Dampfkesselexplodierer. Es hat nie kapiert, daß es die verklemmten, hutzeligen Sex-Zwerge waren, die mit ihrer ganzen unverständlichen Doppelbödigkeit den Saft aus der systemadäquaten Funktionalität der jugendlichen saugten, wie von Roy Lichtenstein gespritzte Blutegel. Also verbreitete es eine neue alte Atmosphäre von Zwang und Muff, die keiner mehr ernst nehmen konnte. Das war die Grundlage für die großartige, glamouröse Rückkehr des großen Glam-Gummipenis. Verbotene Videos, Verschärfung von Jugendschutzparagraphen, wabbeliges Fleisch in Bonn und eine böse alte Heimleiterin in London – das ist der Nährboden des neuen Helden: der sexuell Unvollkommene.

    Er hat das, was der wahre Pop-Star immer war, aber nur ahnen lassen durfte, in den Vordergrund gestellt. Seht her: ich bin ein Zwerg, der es mit Schaufensterpuppen treibt und unbeholfen Kajal-Stifte zur Verschönerung des ohnehin rettungslos verlorenen Gesichts einsetzt, ich bin der Obergelackmeierte. Und habe nichts anzubieten außer Blut, Schweiß und Tränen. Er ist nicht stolz auf seine Veranlagung, er hat gar keine. Er ist ein armes Schwein und will geliebt werden. Und in all den Jahren, wo ihm keiner zuhörte und anschaute, hat er sich ein paar Dinge ausgedacht, die er jetzt schüchtern vorbringt. Trotz seiner Mißgestalt will er verführen.

    Ich rede von Figuren wie Marc Almond, dem Sänger von Soft Cell, einer Kreuzung aus Strichjunge, Gnom und britischem Spanien-Touristen im Torero-Kostüm. Ich rede von Holly, von der Gruppe Frankie Goes To Hollywood, den es im Video zu seinem Hit „Relax“ in eine Orgie des Kaisers Nero verschlägt und der nicht weiß, wie ihm geschieht. Aber er mag es. Er ist unsicher, aber er mag es! Ich rede auch von Boy George, den die Zwölfjährigen lieben (und nicht nur die!) und der nach allen konventionellen Standards häßlich und bemitleidenswert aussieht. Ein süßliches Drag-Queen-Gesicht, das auf einem viel zu langen, in unförmiger Kleidung versteckten Körper steckt. Und er hüpft und springt ewig herum wie eine Achtjährige mit schwersten hormonellen Störungen. Ich rede von seinem Ex-Freund Marilyn und von all den anderen.

    Sie alle sind kein Underground-Phänomen. Sie sind Nummer Eins. Sie sind das Gesicht der Epoche. Sie sind häßliche, verklemmte Krähen, aber man muß sie lieben. Sie zeigen Dinge, die einem Teenager noch nie gezeigt wurden in der Geschichte der Populärkultur. Und doch bekennen sie sich nicht, verkünden sie nicht. Sie zeigen, daß sie nichts Klares, Eindeutiges zeigen können und wollen. Daß alles so elend schwierig ist. Alles monströs. Alles Kuddelmuddel. Und doch lohnt es sich, das durchzustehen. Lohnt es sich zu leben.

    Und die glamourösesten von allen sind General Kießling und Michael Jackson. Kießling, dessen Gesicht die Folie für ein wochenlanges Mutmaßen abgab. Für ein irritiertes, verschrecktes, hochaufgeregtes Forschen nach dem geheimen Drive hinter diesem Gesicht. Und Michael Jackson, der so verklemmt, kompensierend, mega-, homo-, a- und metasexuell ist, daß er zum Zeugen Jehovas konvertierte. Der Pop-Star als Zeuge Jehovas: die Königsperversion in der Geschichte der Stars! Un-schlag-bar!

    Ein New Yorker DJ setzte das Gerücht in die Welt, Michael sei schwul. Und seine Eltern reißen eine bereits abgereiste Time-Reporterin aus dem Taxi und flehen sie an, das böse Gerücht aus der Welt zu schaffen: „Michael isn’t gay. It’s against his religion. It’s against God. The Bible speaks against it. Michael isn’t gay.“

  • Bronski Beat

    Als ich las, daß drei Schwule eine Band gegründet hatten, weil ihnen ihr vorangegangener Lieblingszeitvertreib „Hetero-Bashing“ langweilig geworden sei, fühlte ich mich nicht nur nicht bedroht, denn was hätten diese drei schmächtigen Boys für eine Chance gegen einen dicken, ausgewachsenen Hetero, sondern sie hatten alle meine Sympathien.

    Außerdem wäre ich auch schwul, wenn ich Bronski hieße.

    Außerdem haben wir das Jahr der schwulen Popmusik. Nach Michael Jackson und Frankie mußte jetzt das Triptychon komplett werden. Noch so eine Ikone der Jetztzeit, wie man in Kunst- und Kirchenkreisen sagen würde.

    Einer der Bronskis heißt wirklich Bronski, aber es ist nicht der, der so erbärmlich singt. Und zwar schlechter singt, als Tears For Fears singen würden, wenn sie eine französische Gruppe wären.

    Nun beruht das Konzept dieser Single („Smalltown Boy“) zum Teil darauf, durch die einsame Erbärmlichkeit dieser Stimme den Eindruck von der Erbärmlichkeit des Lebens eines kleinen, schwulen Jungen in einer Kleinstadt darzustellen. Er kann nicht schreien oder brüllen, um sich durchzusetzen. Er muß seine Kopfstimme benutzen. Er wimmert. Seine Mängel sind also für eine Single okay, obwohl das Konzept dem gleicht, gegen Analphabetismus mit abgeschnittenen Zungen zu kämpfen. Trotzdem.

    Will man aber den Themenkreis erweitern, muß man sich etwas Neues einfallen lassen, und dazu kam es nicht und wird es nicht kommen. Bronski Beat sind eine vernachlässigbare Jaulband, der zu danken ist, daß sie als erste den schwulen, der weder Drag-Queen noch Ledermacho ist, in den Mittelpunkt gestellt hat, wo der Mensch immer stehen sollte.

    Anhören kann man sich den Mist aber nicht.